Nach etwas längerer Pause, hier die Fortsetzung zum Spatzenroman! Wir folgen dem weißen Kater dieses Mal auf dem Weg zum "Kirchtürmchen", welcher für ihn unangenehme Erinnerungen wieder zu Tage fördert. Danke diesmal an Vivi fürs Drüberschauen
Warum gerade Luis! Lag es an den Haaren? An der spitzfindigen, etwas herablassenden und dennoch irgendwie weltfremden Art, die er zelebrierte? Seid er hier vor vier Jahren ein gezogen war, konnte ich dem jungen Mann einfach nicht aufs rote Fell schauen. Aus irgendeinem Grund schien sich von Anfang an zwischen uns eine gut gepflegte Feindschaft aufgebaut zu haben. Nein, eigentlich bin ich zu alt und zu weise, um wilde Vorurteile zu hegen, schon gar nicht gegen Menschen mit roten Haaren, obwohl sie mir bisher noch nie besonders viel Glück gebracht haben. Das er in die kleine Dachwohnung gezogen war, dieser Luis, in der vorher Annabell gewohnt hatte, kann man ihm leider nicht an lasten, egal ob arrogant, katzenfeindlich und kupferköpfigwoher. Woher sollte er auch wissen, was für ein wichtiges Lebenskapitel für mich dort seinen Anfang nahm und jähes Ende fand. Wir mochten uns einfach nicht. Noch nie. Doch das spielte in diesem Moment keine Rolle, er half uns, war sogar nachts aus dem Bett gekrochen – vermutlich gar nicht erst schlafen gegangen – nur um unseren Plan zu unterstützen. Nein, eigentlich Josephine zu liebe. Ich weiß nicht genau, welches Band die Beiden verknüpfte, aber ich weiß, das sie seine Gegenwart schätzte, und so etwas wie großmütterliche Gefühle für ihn hegte. In Ermangelung eigener Enkel durchaus verständlich, aber warum er, warum gerade Luis?
Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, und ich somit im Hausflur der Kirche gewissermaßen eingesperrt war, überkam mich ein leichtes Panik-Gefühl. Gut, um der Ehrlichkeit willen, ich war fast starr vor angst. Für Tiere die die Freiheit gewöhnt sind – im begrenztem Wortschatz der armen Loulu dürfte dieses Wort zu dieser Zeit noch gefehlt haben - ist es eine beängstigende Erfahrung, in einem Menschenhaus ein gesperrt zu werden. Traumatisch trifft es bei manchen Exemplaren vermutlich sogar noch eher. Für Frei-Tiere sind Menschenbehausungen ein ungelöstes Rätsel, eine potentielle Falle und ein Ort voller Gefahren. Mit den Erzählungen darüber, den erschütternden Berichten Entkommener und jahrelang dort lebender Tiere könnte man Bibliotheken füllen, gäb es jemanden, der sie aufschreiben würde. Doch das Haus, das man Kirche nannte war an sich ein friedlicher, vertrauenswürdiger Ort.
Der nette Herr Gustav in Erdgeschoss zum Beispiel war meist außer Haus, wie diesen Abend, oder kam erst sehr spät, was er diesen Abend aber nicht tat. Über seinen Verbleib, seine Beschäftigung der er nach ging, wenn er gerade nicht als Anstreicher arbeitete, wusste niemand etwas, nicht einmal Josi. Es ist nicht so, als ob ich neugierig wäre, auch wenn uns Katzen das ja nicht selten nach gesagt wird. Aber man möchte doch schließlich Bescheid wissen! Dennoch konnte man über ihn nur Gutes berichten, wenn er mal da war, immer höflich, immer bescheiden und immer von einer Dunstwolke seines fürchterlichen Deodorants umgeben.
Frau Schmeck im ersten Geschoss war ebenfalls meist umgänglich, wenn auch extrem ausladend im Umfang, und mit einer genauso scharfen wie voluminösen Stimme gesegnet. Gelegentlich übernahm sie für die nähere, und entferntere Nachbarschaft die Live-Kommentatorinnen-Rolle, wenn wieder ein Duell Kraus-Svankovski anstand. Ansonsten war sie aber mit einem großen Herzen gesegnet, das idealerweise auch noch am rechten Fleck herum hing - viel Platz um am falschen Fleck zu hängen hätte es auch nicht gehabt. Ihr Mann, Jochen, ging leider hinter ihr, wo er oft zu finden war, deutlich unter. Ein bedauernswerter, kleiner Kerl, der es nie aus dem Schatten seiner Frau heraus geschafft hatte, und das durchaus wortwörtlich. Man sah ihn nur selten, und wenn, dann nur flüchtig, wie ein Schatten.
Ebenso wie Familie Unscheinbar aus dem 2. Stock. Eigentlich hießen sie wohl Rummel, machten ihrem Namen aber absolut keine Ehre. Wir wussten nicht viel über sie, außer dass ihre Wohnung mit einer Mutter, einem Sohn und einem Vielleicht-Vater bestückt war (es gab da Gerüchte...). Sie lebten sehr zurückgezogen, grüßten kaum, und wenn dann nur, wenn sie als erste gegrüßt wurden. Im Großen und Ganzen musste man ihnen aber Harmlosigkeit zusprechen, was sie deutlich von den Lärches unterschied.
Und dann gab es halt noch Luis, der sich Annabells Dachwohnung unter den Nagel gerissen hatte, und ihr Andenken vermutlich nicht gerade inbrünstig pflegte. Zu ihm muss ich wohl nicht mehr viel sagen, könnte es aber, und wie, auch wenn das kaum jemanden interessieren dürfte, außer mich.
Wie man sieht war das Haus eigentlich sicher, und dennoch, eine geschlossene Tür im Rücken zu haben – ich könnte wohl noch mal so alt werden wie jetzt – was nicht ausgeschlossen ist – und würde mich an den Zustand nicht gewöhnen.
„Komm schon, Katze“ zischte mich Luis über die Schulter an.
Er wusste von Josi das ich „Katze“ auf den Tod hasste, und genoss es genau deshalb mich so zu titulieren. Die Prozession war schon am Treppenaufgang angelangt und wartete nun auf mich. So war es an der Zeit, mein altes Hausrezept zur Angststarrenüberwindung an zu wenden: Putzen. Das Reinigen bestimmter Stellen am Katzenkörper verursacht bei mir sofortige und tiefe Entspannung, weshalb es gerade in solchen Situationen immer wieder passiert, das ich den Zwang zum Spontanputzen verspüre. Egal gegen welche menschlichen Konventionen ich damit regelmäßig verstoße, es wirkt! Immer! Nachdem ich die Angst also ausreichend weggeputzt und die letzten, weißen Fellflusen herunter gewürgt hatte, folgte ich ihnen hinauf.
Das Treppenhaus war recht dunkel, viel Holz, die Wände halbhoch vertäfelt, das Geländer alt und kunstvoll gedrechselt. Die spärliche Beleuchtung, die mehr Schatten erzeugte als zu verjagen, tat ihr Übriges. Nein, nicht schmutzig, nur einfach alt, gepflegt, aber alt. Und Josi mochte es. Sie saß manchmal stundenlang mit Luis auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock und sah von dort aus durch das gedrungene Fenster auf den Hof hinaus. Heute aber war das alte Treppenhaus nur ein Begleiter, ein Hilfsmittel um zum Ziel zu gelangen, welches ganz oben lag. Der Kirchturm. Sehr weit oben für Katzenbeine, die mit Treppenstufen noch nie so recht Frieden geschlossen hatten.
Loulu war noch immer ruhig, so weit ich es erkennen konnte, sie schaute sich zwar verwirrt und etwas ängstlich um, hatte aber noch keinen Fluchtplan gefasst. In wenigen Augenblicken schon sollte sie die Chance dazu erhalten, und gnadenlos nutzen. Ralf, der Sohn der Familie Unscheinbar, eigentlich ebenso flüchtig und farblos wie die der Rest der Sippschaft, hatte den Hausflur neuerdings als Spielplatz auserkoren. Immerhin, der erste Schritt in die Freiheit hinaus, in mehreren Jahren dann würde er sich vielleicht trauen, auf dem Hof zu spielen. Als wir fast im zweiten Stock angekommen waren, fiel eines seiner Spielsachen äußerst unangenehm auf. Es hatte sich am Tage strickt geweigert, beim Aufräumen gefunden zu werden, nur um jetzt aus lauter Hinterlist Josi direkt unter den Schuh zu rollen. Der kleine Ball aus Gummi, eigentlich sehr auffällig weil quietschgelb und wie ein Schwamm bemalt, zudem mit einem breit lächelndem Gesicht bestückt, brachte die alte Dame gefährlich aus dem Gleichgewicht. Sie begann bedenklich zu schwanken und war dabei, den unbeholfenen Rotschopf gleich mit in den, vermutlich, sicheren Tod zu reißen - um Josi wäre es echt schade gewesen. Kurz bevor beide nach hinten umfallen und die Treppe hinabstürzen konnten, klammerte sich Luis in letzter Sekunde an einer Geländersprosse fest, und schaffte es mühevoll, ihn und die alte Dame wieder auf die Beine zu ziehen. Wer hätte gedacht, das in diesen schwabbeligen, bleichen Ärmchen tatsächlich Muskelmasse vorhanden war!
Noch immer breit grinsend, als hätte er nicht schon genug angerichtet, sauste gleich darauf der kleine gelbe Ball knapp über meinem Kopf hinweg, prallte an der Wand hinter mir ab und traf mich zielsicher im Nacken. Zugegeben, er hatte gerade noch genug Schwung und Kraft um mich überhaupt zu erreichen, dennoch erschrak ich in dem Moment so heftig, das ich zusammen zuckte und begann, wild und unkontrolliert mit allen vier Pfoten um mich zu schlagen, um dem gemeingefährlichen Spielzeug den Rest zu geben. Sicherlich sah das ganz und gar nicht heldenhaft aus, eher verzweifelt, aber alle Anwesenden hatten noch genug mit sich selbst zu tun, so das es nicht auffiel, wie ich für einen kurzen Moment meine Fassung verlor.
Loulu nutzte genau diesen kurzen Moment der Unaufmerksamkeit und Verwirrung, um die Flucht zu wagen. Sie sprang aus Josis gelockertem Griff, kam samtweich auf dem obersten Podest auf und begann sogleich, einen Fluchtplan zu schmieden. Für ganz dumm hatte ich die Katzendame eigentlich noch nie gehalten, nur für einfach gestrickt. Ihr süßes Näschen verriet sogar gelegentlich den ein oder anderen Geistesblitz. Das sie dennoch so furchtlos und spontan eine Strategie ausklügeln konnte, beeindruckte mich. Aber nur kurz. Denn der Plan hatte einen Haken, wie alle spontanen Pläne. Statt nach unten Richtung Ausgang zu sprinten, sobald sie den Sprung von Josis Arm geschafft hatte, entschloss sie sich instinktiv den anderen Weg zu gehen. Man muss ihr wohl zu Gute halten, das dies hier ihr erster mehrstöckiger Hausflur gewesen sein dürfte, woher sollte sie auch wissen, das der Weg nach oben in einer Sackgasse enden würde. Zwar standen ihre Fluchtchancen auch im Erdgeschoss sehr schlecht, nach etwas Suchen hätte selbst sie aber die offene Kellertür und das an gekippte Kellerfenster gefunden.
Unterdessen hatte ich das gelbe Wurfgeschoss elegant aber unbeabsichtigt Richtung Wohnungstür von Frau Schmeck geschleudert. Auch wenn Weichgummi nicht gerade bekannt ist für seine glasbrechenden Eigenschaften, hielten wir alle, außer Loulu, kurz den Atem an, als der Ball eine der in die Tür eingelassenen Scheiben traf. Ein bisschen stolz war ich in dem Moment schon, dem Spielzeug mit nur einem Pfotenhieb genug Kraft gegeben zu haben, um das Glas in gefährliche Schwingungen zu versetzen. Eigentlich hatte ich vermutet, das die altersschwache Konstruktion dem Angriff nicht stand halten würde, dennoch geschah außer einem fiesen Aufprallgeräusch, welches von einem leichten, gläsernen Knirschen begleitet wurde, nichts. Noch nicht. Nur wenige Augenblicke später würde die beleibte Dame zur Tür hinaus stürmen und nach der Ursache der nächtlichen Ruhestörung suchen.
Kurz hatte ich, in einem Anflug von Gehässigkeit, überlegt, wie man Luis so schnell es geht vor die Schmecksche Eingangstür bekäme, und uns außer Sichtweite. Ein weiterer Plan wäre gewesen – erstaunlich übrigens, wie schnell ich diese entwickeln kann in solchen Situationen, und in welcher Vielfalt – klein Ralph aus dem Bett zu zerren und vor die selbe Tür zu bugsieren. Alles leider viel zu zeitaufwendig, obwohl es ja seine Schuld war, wenn man es genau nahm. Noch während ich mir weitere Ablenkungsmanöver ausdachte, hörte ich Josi von oben meinen Namen flüstern. Sie stand schweißgebadet und schwer atmend auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock, etwa acht oder neun Stufen über mir, und winkte heftig mit den Armen, um mir verstehen zu geben, das ich dringendst das Feld räumen sollte, was der Feigling Louis natürlich schon längst getan hatte. So stürzte ich mit so viel Samt wie möglich in den Pfoten die glatt polierten Stufen hinauf, während ich schon hinter der Tür von Frau Schmeck schwere Schritte hören konnte, und fühlen. Sie muss überaus unsanft aus dem Schlaf erwacht sein – bei der bildlichen Ausarbeitung dieser Szene kam Jochen sehr schlecht weg – und legte nun all ihre Ãœberraschung und Wut schon mal vorsorglich in jeden ihrer schweren Schritte.
Gerade als sie den Schlüssel im Schloss ruckartig herumriss, verschwand mein buschiger Schwanz aus ihrem Blickfeld, und meine sonst so treppenfeindlichen Beine arbeiteten sich fast schwebend die Stufen zur dritten Etage hinauf, wo ich gleichzeitig mit Josi ankam, um sofort wieder in gemeinschaftliche Schockstarre zu verfallen. Von unten drang etwas herauf was man als Schimpftiraden bezeichnen könnte, ganz sicher war ich mir aber nicht, wen oder was sie genau beschimpfte. In der Eile hatte die nette Dame vergessen, ihre zwei Reihen Kunstzähne wieder an ihren angestammten Platz zu bringen, wodurch es kaum verständlich war, was sie in den halbdunklen Hausflur brüllte. Scheinbar machte sie aber dennoch keine Anstalten, auf den Flur heraus zu treten, und nach der Ursache zu suchen, was in mehrerlei Hinsicht ein Glück für uns war.
Loulu indes war längst verschwunden. Da Luis die dämliche Angewohnheit hatte, bei Kurzausflügen in die Nachbarschaft, die Wohnungstür einen Spalt weit offen zu lassen – seine Schusseligkeit was Schlüssel an ging war über die Hausgrenzen hinaus berühmt – hatte sich die Katzendame sogleich eingeladen gefühlt, bei ihrer Flucht genau diesen Weg zu nutzen. Die Tür stand nun offen, und schlagartig, als meine Blicke den Innenraum zu erkunden begannen, wurde mir bewusst, das dies hier mein erster Besuch werden würde in Annabells alter Wohnung, nachdem sie... Ich wollte mir nicht einmal im Traum vor stellen, was der Tölpel aus diesen Räumen gemacht haben mochte, was er ihrem Andenken damit angetan hatte. Und ich wollte nicht hinein. So einfach das noch in der Plan-Ausarbeitung geklungen haben mochte, so sehr sträubte sich mein Fell nun bei dem Gedanken, wieder über diese Schwelle zu treten. Ich wollte diesen Ort so in Erinnerung behalten, wie ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, wohlriechend, freundlich, in Sonnenlicht getaucht und mit Annabell auf ihrer Fensterbank. Noch während ich mir das aus malte, hatten meine Pfoten ein Eigenleben entwickelt, als wären sie einer magischen Kraft anheim gefallen, die sie in die Wohnung hinein zogen. Nur wenige Augenblicke später stand ich im kleinen Flur, und wieder schloss sich eine Tür hinter mir, während sich vor mir eine andere öffnete, die neun Jahre zurück führte, und für einige Momente ein Mädchen wieder erweckte, welches mein Leben verändert hatte – Annabell.