Meine Mutti
Gelebte Sehnsucht ohne Chance, das könnte über ihrem Lebenslauf stehen.
Als der WK II zu Ende war und die Jungen froh waren, überlebt zu haben, wollten alle einfach nur leben.
Doch das war zu Beginn nur ein Überleben. In einer Zeit, wo Mädchen von schicken Schuhen und Kleidern träumen und auf den Prinzen warten, kamen amerikanische Besatzer in die Kleinstadt. Sie belegten das Elternhaus, brachten Schokolade und Corned Beef mit. Sie ließen sich mit den Schwestern ablichten und hinterließen Kopfläuse und Brandlöcher in der Tischdecke.
Auch Fernweh und ein paar Worte Englisch.
Christa und ihre Schwester waren dafür empfänglich. Margot schleppte das Fernweh ihr Leben lang mit sich herum.
Leider war Christa ein wenig pummelig und auf ihre Art zu hilfreich.
Ihr Prinz erschien auf der Bühne drei Jahre nach dem Krieg. Man hatte sich schon wieder ein wenig erholt. Er war braun gebrannt, trug eine englische Fliegeruniform und konnte gut erzählen. ’49 Hochzeit mit Rudi; ’50 Sohn Wolfgang und ’51 Sohn Jürgen.
Um doch endlich noch eine Tochter zu haben, wagten sie den Spätanlauf 1959 und Ilona war da.
Von Anfang an war meine Mutti fast überfordert. Mein Bruder war oft krank und meine unmittelbare Nachfolge machte es ihr nicht leichter. Es war eng in dem Zimmer unterm Dach in der Neuen Straße. Größer war die Wohnung für uns vier aber nicht.
Glücklicherweise stand ihr Omi zur Seite und nahm ihr manche Arbeit ab. Zwei schmale Burschen durch die Zeit zu bringen war damals nicht leicht, zumal der Erzeuger sich nur seiner Arbeit verschrieben hatte.
Musik hören war der kleine Ausgleich. Man träumte sich in die Südsee oder mit C. Valente nach Italien und aus Rudi wurde „Cara mio Rodolfo“. Ihre Schwester kam immer nur zu Besuch in die Kleinstadt, bekam einen besonderen Platz bei Tisch, machte Hulahupp im Garten und sonnte sich im Bikini im Liegestuhl, was durchaus noch nicht üblich war.
Noch am Ende ihrer Tage merkte man ihr an, dass sie einen tiefen Groll gegen ihre Schwester hegte.
Mutti und Vater waren beide kaufmännische Angestellte. Er machte den Aufstieg allein. Als Mutti eine Politkarriere machen sollte (Quoten waren am Anfang wichtig und sie sollte zur Parteischule), krätschte Rudi dazwischen und meinte, es reiche, wenn einer ständig zu Versammlungen gehen muss.
So blieben ihr die „Aufzucht“ zweier Söhne und der Haushalt und ein Halbtagsjob bei wechselnden Stellen.
25 Jahre auf Trab waren für sie ein Verschleißposten. Da blieb wenig Muse für Hobby und Freizeit. Kultur war ihr Ding und sie organisierte Theateranrechtsveranstaltungen, zu denen Rudi nie allein gefahren wäre.
Lesen und sich in fremde Länder träumen mit Thor Heyerdahl und „Kon Tiki“ segelte sie in Gedanken über die Meere.
Sie hat uns motiviert im Chor zu singen, ein Instrument zu lernen und im „Zirkel Schreibender Arbeiter“ wie sie selbst zu schreiben.
Ich konnte sie für die neue Beatmusik begeistern und mich mit ihr darüber unterhalten (Rudi stellte das Zeug nur ab!)
Klassik hörte sie genauso gern, wie Schlager. Auf dem Küchenschrank stand das Radio mit einem magischen Auge - einer Röhre, die grün leuchtete und die Senderintensität anzeigte. Man hörte oft Mittel – und Kurzwellensender und die Qualität war eher bescheiden.
Ihr Mann machte aus ihr eine moderne Sklavin, die sich primär nur noch ums Essen kümmern sollte. Viel, fett und preiswert – das war seine Devise.
Als sie nach Potsdam umzog bekam sie eine wunderschöne Küche, die sie NIE benutzt hat. Man kann sagen, ihr war die Nahrungsaufnahme verleidet.
Einmal hat sie ihre Kinder an die Hand genommen und ist zur Schwägerin geflüchtet.
Einmal hatte sie auch einen Kurschatten. Ihre Kolleginnen vom Hepo hatten an einer DDR Karte Stecknadeln eingestochen an den Stellen, wo es mal passiert ist. Da hat sie fast verschämt eine Nadel in den sächsischen Landen platziert.
Einmal in den Sechzigern stand sie in der Festhalle mit Fridolin Ostermuth auf der Bühne. Wir Burschen waren stolz auf unsere Mutti. Rätseln und alle möglichen Preisausschreiben waren ihre Leidenschaft.
Kleine Gedichte (kurz und knapp, wie ihre Zeit bemessen war) hat sie im „Zirkel Schreibender Arbeiter“ vorgestellt. Ein Schriftsteller, Joachim Knappe, leitete den Zirkel an. Er hatte ein paar Nachkriegsromane geschrieben.
Christa war eine stille Helferin. Sie hat immer getan und geholfen und war für die Anderen da. Nie hat sie etwas verlangt.
Ja, dann gab es noch die Enkel und Omas Selterwasserkuchen. Sandra hat ein paar Sequenzen festgehalten. Fabian hat als Student oft sein Gastrecht in Anspruch genommen.
Feiern mit den Nachbarn war ihre kleine Freude. Dazu schrieb sie Geschichten und hatte kreative Einfälle.
Mit 68 flog sie weit weg, besuchte die Whiteleather Farm in Minerva/Ohio und war danach lange Zeit voller toller Erinnerungen.
Zu den großen Geistern fühlte sie sich hingezogen. Goethe, Schiller und auch W. Busch hat sie gern gelesen und rezitiert. Vielleicht war es eine besondere Art der Annäherung, wenn sie versuchte zu dichten. Ein kleines Erbteil hatte ihr auch Mutter Selma mitgegeben, die aus einem winzigen Dorf kam.
Sie fand auch Karikaturen von Jan Effel gut und verschlang Reiseberichte nach Fernost. Thor Heyerdahl’s Expeditionen hat sie gelesen. Nie hörte man von ihr einen Kommentar, wie „…Das würde ich auch gern mal mitmachen…“.
Ich weiß, sie wäre gern auf große Reisen gegangen, aber auch die Bustour nach Frankreich mit Enkel Sascha hat ihr gefallen.
Wenige Stunden vor ihrem Tod habe ich sie gefragt, ob sie zu irgendwas Lust habe und Mutti hat kurz und direkt „KL“ – keine Lust geantwortet.
Dezember 2012 jfw