Humor & Satire
"Welche Größe hat er denn?"

Einkaufen macht Spaß! Mir jedenfalls. Ich bin ja auch eine Frau. Allerdings mit knapp 180 cm eine nicht eben mit Normal-Längenmaß ausgestattete, was den Erwerb modischer Kleidungsstücke erheblich erschwert. Das liegt aber in der Familie. Mein Bruder steht nämlich vor ähnlichen Problemen, wenn es darum geht, den Inhalt des Kleiderschranks aufzurüsten, ein Vorhaben, das kürzlich nicht mehr hinauszuschieben war, wollte er sich nicht dem Verdacht aussetzen, dass seine erste Adresse „irgendwo unter den Brücken“ lautete.

Dieser Bruder misst an die zwei Meter und ist entsprechend gut proportioniert. Oh nein, ich verwende diesen Ausdruck nicht als euphemistische Umschreibung einer leichten Adipositas, ich meine wirklich „gut“, nämlich dahingehend, dass zu 200 cm Höhenmaß auch eine gewisse Schulterbreite und Oberarm- respektive -schenkelstärke gehören, um das Gesamtbild auch für das weibliche Auge harmonisch erscheinen zu lassen. Männer mit einer solchen Statur haben irgendwann ihren eigenen Garderobenstil gefunden, bedingt dadurch, dass sie nicht einfach ins Kaufhaus spazieren und blind ein Kleidungsstück der Größe „wird-schon-passen“ vom Grabbeltisch ziehen können. Von solch extravaganten Dingen wie Langarmoberhemden oder gar Sakkos ganz zu schweigen. Wenn Mann Glück hat, findet er nach leidvollen Jahren modischer Kompromisse irgendwann die Boutique seines Vertrauens, in der ihn spätestens bei seinem dritten Besuch die versierte Herrenoberbekleidungsfachverkäuferin mit einem Arm voller zu ihm – und ihm – passender Kleidungsstücke empfängt, kaum dass sich das Glasportal hinter ihm geschlossen hat.

Nach Monaten modischer Enthaltsamkeit betrat mein Bruder also jüngst gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin eines dieser Geschäfte zwecks Erwerbs eines Sweatshirts. Auch Herrenoberbekleidungsfachverkäuferinnen haben ein Anrecht auf Urlaub, so dass sich mein Bruder einer ihm bis dato unbekannten Kraft gegenübersah. Ihre Kompetenz sollte sich wohl in ihrem Outfit widerspiegeln: Moderne Halbbrille an dezent funkelnder Kette über schwarzem Rolli um den Hals getragen. Alter schlecht zu schätzen, auf alle Fälle um einiges jünger als ihre urlaubende Kollegin. Erwähnte ich, dass mein Bruder nur wenige Jahre weniger zählt als ich und somit kurz davorsteht, die fünfte Null auf seinem Lebenszeitkonto zu verbuchen? NATÜRLICH wirkt er um Jahre jünger als 50. Verzeihung, als 49.

„Welche Größe hat er denn?“, wandte sich die junge Dame nach einem abschätzenden Blick auf Brustumfang und Spannweite der Arme meines Bruders vertrauensvoll an dessen Freundin. Mein Bruder schluckte. Sah er so grenzdebil aus, dass er seine eigene Kleidergröße nicht wusste? Oder gehörte es in diesem Geschäft zum guten Ton, die weibliche Begleitung der männlichen Einzukleidenden in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen? Mit ihr über den eigentlichen Kunden zu reden, als sei dieser mit dem IQ eines Stückchens Käse ausgestattet? Chefarztgehabe sozusagen ... Missmutig betrachtete sich mein Bruder wenige Augenblicke später im Spiegel. Ein Poloshirt in rentnerbeige mit kackfarben abgesetzten Bündchen an den Ärmeln? Nicht wirklich sein Ding. „Steht ihm ausgezeichnet, finden Sie nicht?“, flötete die Halbbebrillte, zupfte fachmännisch hier ein wenig an einer Naht und schnippte dort ein nicht vorhandenes Stäubchen vom Ärmel, ehe sie erst seine Freundin, dann meinen Bruder selbst anstrahlte. Der runzelte die Brauen. „Na, ich weiß nicht ...“, wagte er vorsichtig einzuwenden.

„Also, mein Vater trägt so etwas sehr gerne“, unternahm die Verkäuferin einen letzten Versuch, das gute Stück doch noch an den Mann zu bringen. Während seine bessere Hälfte sich kaum das Lachen verbeißen konnte, zog sich X. („Du kannst gerne darüber schreiben, wenn du meinen Namen unerwähnt lässt!“) das Shirt über den Kopf und verließ fluchtartig den Laden.

Draußen atmete er erleichtert auf, straffte die Schultern, zog den Bauch ein wenig ein und warf einen prüfenden Blick auf das Bild, das das Schaufenster ihm zurückwarf. Mein Vater? Phhh, für wie alt hielt ihn dieses Gör? Hocherhobenen Hauptes setzte er den Weg durch die Fußgängerzone fort, als sein Auge an einem kleinen Schild im Menüaushangkasten eines griechischen Restaurants hängen blieb. „Bei uns im Angebot: Seniorenteller (ab 55 Jahre)“ las er dort. Befriedigt strich er über sein ergrauendes Haar. 55? Senior? Na bitte, davon war er doch noch meilenweit entfernt.

Betreten hat er das Lokal übrigens nicht. Man muss das Schicksal ja nicht herausfordern.