Beschreibung
Manchmal hat man das Gefühl gefangen zu sein in der Welt, in seinem Leben... obwohl man doch eigendlich so frei ist.
Doch es gibt auch Menschen, denen es nicht so geht, Menschen, die tatsächlich gebunden sind.
Die Geschichte eines jungen Mädchens, das sich mit der Kraft ihrer Gedanken versucht zu befreien...
Frei
Fest halten meine Hände die Kette umschlossen. Kaltes Metall unter meinen Fingern. Um mich herum klappern Stangen und Bügel. Das Getuschel der Kinder ist eine Mischung aus Vorfreude und Aufregung. Vor mir ruft ein Mädchen nach seiner Mama. Und dann durchbricht eine laute Stimme das Geflecht aus Geräuschen: „Are you readdyyy???“ dröhnt es aus dem Lautsprecher neben mir. Dann schneidet ein schrilles Piepen durch die Luft und es gibt einen Ruck. Erst langsam und dann immer schneller schwebe ich über die Metallplatten am Boden. Ich blicke auf meine Finger: Sie umklammern die Kette so fest, dass die Knöchel schon anfangen weiß zu werden. Ich atme tief durch, versuche mich zu entspannen. Immer und immer schneller werden wir, immer höher schrauben wir uns in die Luft. Die Menschen die untern stehen werden immer kleiner, sehen aus wie Spielzeugfiguren, oder wie solche von einer Modelleisenbahn. Dort vorne glitzert der Fluss im Sonnenlicht. Schön sieht das aus. Auf der silberglänzenden Oberfläche sind mindestens ein Dutzend Schiffe unterwegs. Ich staune, als ich sogar das große Krankenhaus auf der anderen Uferseite erkennen kann. Jetzt ist es kaum mehr größer als ein Schuhkarton. Darüber kreist ein Vogel in der Luft. Frei und vollkommen unbeschwert zieht er seine Bahnen. Fast werde ich ein wenig neidisch.
Ganz vorsichtig drehe ich meinen Kopf nach hinten. Ein Junge sitzt dort – er müsste ungefähr in meinem Alter sein. Mit großen Augen bewundert er die Landschaft die an uns vorbeifliegt. „Schau…“ ruft er mir zu „...wie klein das alles von hier oben ist!“ Begeistert strahlt er mich an. Als ich mich wieder umdrehe merke ich wie wir schonwieder langsamer werden. Langsam aber sich er geht es abwärts. Dann aber meldet sich die Stimme erneut zu Wort: „Und… wollt ihr noch mehr?“ Dringt sie durch den, wenn auch schwachen, Fahrtwind. Ein Moment Stille, dann höre ich begeisterte Kinderrufe und ein ohrenbetäubendes Kettengeklapper bricht los. Als ich mich erneut umblicke sehe ich, dass auch der Junge hinter mir wie wild mit dem Bügel klappert. „Komm, du auch!“ ruft er mir durch die Wand aus Metallgeklirre zu. „Mach mit!“ Unsicher blicke ich auf meine Hände. Sie halten die Ketten noch immer fest umschlossen. Doch dann höre ich den Jungen hinter mir lachen und nehme mir ein Herz. Ganz vorsichtig löse ich erst die eine Hand vom Metallseil, dann die andere – merke, wie ich die Luft anhalte: Freihändig… ohne mich festzuhalten fliege ich durch die Luft. Ein aufgeregtes Glücksgefühl durchströmt mich. Kurzerhand greife ich nach meinem Bügel und schlage ihn auf und ab. Jetzt klappere ich mit den anderen Kinder mit. „Ja, genau so!“ höre ich den Jungen von hinten rufen. Doch diesmal drehe ich mich nicht um, viel zu fasziniert bin ich von dem Gefühl fast frei durch die Luft zu fliegen. Das „Na dann haltet euch mal gut fest“, das durch das Geklapper aus dem Laufsprecher dröhnt nehme ich kaum wahr. Und dann geht es in einem Heidentempo wieder nach oben. Wie eine Schraube drehen wir uns immer weiter in den Himmel hinauf. Das Haar weht mir ins Gesicht und mir wird fast ein bisschen schwindelig. Ohne darauf zu achten strecke ich die Arme in die Luft, hole tief Luft und schließe die Augen.
Jetzt ist der Vogel, der vorhin über dem Krankenhaus gekreist ist direkt neben mir. Auffordernd blickt er mich aus seinen großen, dunklen, fast schwarzen Augen an. Ohne nachzudenken greifen meine Hände zu dem Sicherheitsriemen, lassen ihn aufschnappen. Wie von selbst hebt sich der Bügel an und ich klettere darunter hindurch. Einen Moment noch stehe ich auf dem wackeligen Plastiksitz, dann lasse ich die Ketten los, breite ich die Arme aus, stoße mich ab und schwinge mich neben dem Vogel in die Luft. Einen kurzen Moment habe ich das Gefühl zu fallen, dann aber strecke ich mich, winkle die Beine leicht an und spüre, wie ich mich immer sicherer fühle. Tatsächlich, obwohl ich hier oben so völlig frei schwebe, fühle mich plötzlich unheimlich sicher und geborgen. Wieder durchströmt mich so eine wohlige Welle aus Glück und Aufregung. „Ich fliege!“ will ich schreien, „schaut nur, ich fliege!“ doch ich bekomme keinen Ton heraus. Mit klopfendem Herzen gleite ich durch die Luft. Das einzige was ich höre ist das freudige Krächzen des Vogels vor mir. Noch nie habe ich mich so frei und unbeschwert gefühlt. Der angenehm kühle Wind streichelt um meinen Körper und trotz der Geschwindigkeit ruht die Sonne wärmend auf meinem Gesicht. In diesem Moment wünsche ich mir nichts mehr, als dass man die Zeit anhalten könnte.
„Und –hat es dir gefallen?“ Die Stimme direkt neben mir lässt mich hochschrecken. Wo… Ich brauche einen Augenblick bis ich weiß, wo ich bin. Wir hatten längst aufgehört uns zu drehen. Die Sitze vor mir waren schon alle leer. „Du schaust ja ganz verwirrt - ist alles in Ordnung?“ Jemand legt seine Hand auf meine Schulter. „Jaja“ bringe ich hervor „alles gut!“ „Na, dann komm!“ Der Ton ist sanft aber bestimmt.
Hinter der Absperrung kann ich den Jungen der vor mir saß in der Menschenmenge entdecken. Zuerst sieht er mich nicht, dann aber treffen sich unsere Blicke für einen Moment und er winkt mir zu. Dann dreht er sich um und hopst freudig hinter einem seiner Freunde her. Ich muss schlucken. Er ist noch immer frei.
Eigentlich will ich gar nicht aufstehen, würde am liebsten sitzen bleiben. Doch ich weiß auch, dass das nicht geht. Der Gedanke daran ist beklemmend, macht mich traurig. Plötzlich fühle ich mich unheimlich müde und schlapp. Dann spüre ich zwei Hände, die um mich herum greifen.
Neben dem Sitz steht der dunkelrote Rollstuhl schon bereit.