Manchmal hält uns das Leben so auf trab, dass wir viele Dinge einfach übersehen... Eine Geschichte über die Begegnung zweier Menschen, deren Leben kaum unterschiedlicher sein könnte, und die die Augen öffnet für die kleinen Dinge, die das Leben ausmacht.
Im Gegensatz zu Aaron hatte Linda einen Wecker.
Doch heute Morgen klingelte er nicht. Und auch, als die Uhr schon halb acht zeigte, gab er keinen Ton von sich. Erst als Linda sich, noch im Halbschlaf, umdrehte, fiel ihr verschlafener Blick auf die Zeiger, die inzwischen auf viertel vor acht standen.. Schnell griff sie zum Handy. Tatsächlich - schon 7.45Uhr. „Verdammt!“ Sie musste gestern Abend vergessen haben, ihn zu stellen. Sie war mit ihrer besten Freundin beim Italiener gewesen und es war spät geworden.
Schnell wickelte sie sich aus ihrer warmen Decke und schwang die Beine aus dem Bett. Unter die Dusche, Zähneputzen und ein wenig Make-up. Haare waschen war nicht mehr drin – auch, wenn Linda es hasste, mit ungewaschenen Haaren aus dem Haus zu gehen. Sie seufzte und griff zu einem Haargummi. Das musste reichen.
Auf dem Weg in die Küche warf sie einen schnellen Blick auf die Funkuhr neben dem Toaster. Schon kurz nach acht. Das Frühstück musste heute ebenfalls ausfallen. Schnell schnappte sie sich einem Apfel und ließ ihn in die Tasche fallen, die zum Glück schon gepackt im Flur lag. Sie war voll mit Unterlagen, die nur darauf warteten, bearbeitet zu werden. Hoffentlich war ihr Chef nicht allzu sauer, dass sie zu spät dran war. Normalerweise sah er so etwas gelassen, denn er schätzte ihre Arbeit und war meist zufrieden, doch in letzter Zeit war er häufig gereizt.
Hastig griff sie erst nach ihrem Mantel und dann nach dem Schlüssel, den sie immer auf der Kommode liegen hatte. Doch da war kein Schlüssel. Sie stöhnte auf: „Auch das noch!“ Eilig lief sie erst zurück in die Küche und durchwühlte dann ihre Tasche. Nichts. Langsam stieg in ihr die Panik hoch. Sie war nicht nur viel zu spät dran, jetzt war auch noch ihr Schlüssel verschwunden! Gerade als sie den Ersatzschlüssel aus der Schublade kramen wollte, fiel ihr Blick auf die Garderobe. Gestern hatte sie die braune Daunenjacke getragen. Und tatsächlich - in der linken Jackentasche war der Schlüssel. Erleichtert atmete sie auf, und war im nächsten Moment auch schon aus der Tür.
Aaron hatte keinen Wecker. Und er brauchte auch keinen. Wozu auch, es gab nichts, wofür er sich hätte wecken lassen müssen. Mal weckten ihn die Rufe vorbei laufender Menschen, das Hupen eines Autos oder der Schrei eines Kindes. Hin und wieder wurde er auch wach, weil ihn jemand anrempelte. Doch oft verhinderten Kälte oder die seit einigen Wochen immer schlimmer werdenden Rückenschmerzen, dass er überhaupt Schlaf fand.„Hey, weg da, ich muss sauber machen. Such dir einen anderen Ort zum Rumlungern, du Penner!“ Das waren die Worte, mit denen er heute Morgen geweckt wurde. Sie stammten von einem Straßenkehrer in grell orangenem Overall. Mit abfälligem Blick musterte der Mann Aaron von oben herab.
„Verzieh dich, du vergraulst uns nur die Kunden!“
Er seufzte. Das war er bereits gewohnt. Langsam und ohne ein Wort zu entgegnen, quälte er sich hoch, schwang seinen zerschlissenen Rucksack auf den Rücken und schlurfte davon. Er war nicht auf Ärger aus.
Müde schlenderte er eine Weile durch die Straßen Münchens. Viel geschlafen hatte er nicht. Es wurde langsam aber sicher Herbst und damit immer kälter. Und heute Nacht hatte es außerdem noch wie aus Kübeln geschüttet. Besorgt blickte er in den trüben, dicht mit Wolken behangenen Himmel. Es sah schon wieder nach Regen aus. Aaron seufzte. Wie sollte er die nächsten Wochen, ja vielleicht Monate nur überstehen? Er wollte gar nicht darüber nachdenken. Nicht an einem so grauen Tag wie diesem, der schon so schlecht begonnen hatte.
Gerade hatte er den „Sendlinger Torplatz“ erreicht, als es tatsächlich wieder begann zu tröpfeln. Er fuhr die Rolltreppe zur U-Bahn hinunter und ging einige Meter weiter in die Halle. Er war öfters hier.
An seinem gewohnten Platz, schräg gegenüber der Rolltreppe zum Abfahrtsgleis der U3 und U6, ließ er den Rucksack vom Rücken gleiten und hockte sich daneben, lehnte sich gegen die Fliesen. Der Boden war kalt und schmutzig. Er schnipste einen Zigarettenstummel weg, der vor ihm lag. Es roch nach einer Mischung aus abgestandener Luft und den verschiedenen Parfüms vorbeieilender Menschen. Als ihm der Duft von frischen Brötchen in die Nase stieg, begann sein Magen begierig zu knurren. Das trockene Croissant gestern Mittag war das Letzte, was er bekommen hatte. Doch der Griff in seine Hosentasche bestätigte ihm, was er schon vermutet hatte: Genau sieben Cent befanden sich darin. Das war eindeutig zu wenig für ein Frühstück.
Einige Meter entfernt lief eine Gruppe Jugendlicher an ihm vorbei. Bis auf ein Mädchen hatte jeder von ihnen eine Bierflasche in der Hand. Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, sahen einige von ihnen bereits ziemlich angetrunken aus. Aaron seufzte und schüttelte den Kopf. Noch vor ein paar Monaten wäre das auch für ihn nichts Außergewöhnliches gewesen. Mit der verdammten Trinkerei hatte er sich so viel kaputt gemacht. Im Moment trank er so gut wie nichts. Ihm fehlte ganz einfach das Geld für Alkohol. Die Erinnerung daran, wie ihn Sophia damals weinend und mit der kleinen Zoe auf dem Arm vor die Tür gesetzt hatte, versetzte ihm jedes Mal wieder einen Schlag. Und dieser Schlag war härter als jeder Tritt eines Betrunkenen.
Meistens konnte er diese Gedanken unterdrücken, doch manchmal kämpften sie sich eben doch empor. In solchen Momenten war sogar er, der sonst meist positiv in die Zukunft blickte, hoffnungslos und leer. Erschöpft schloss er die Augen und lehnte den Kopf gegen die Wand. Er lauschte all den verschiedenen Geräuschen um ihn herum. Einfahrende U-Bahnen, schimpfende Männer und klackernde Absätze. Geräusche von Alltag und Leben; Dinge, die er verloren hatte.
Gerade holte er seine Mundharmonika aus dem alten Rucksack, als er hörte, wie sich, nicht weit von ihm entfernt, jemand gegen die Wand fallen ließ und stöhnte: „Auch das noch!“
Aaron öffnete die Augen. Neben ihm lehnte eine junge Frau, Mitte Zwanzig. Blonde Haare, roter Mantel und ein Käsebrötchen in der Hand. Die große Tasche ließ sie neben sich auf den Boden fallen. Sie war hübsch, wirkte aber nicht gerade glücklich. Sie sah gestresst und traurig aus. Aaron legte die Mundharmonika, die ihm seine Mutter damals geschenkt hatte, an die Lippen und begann zu spielen. Die Frau lächelte.
Eilig hastete Linda die Stufen zur U-Bahn hinab und rannte dabei fast in eine Gruppe Jugendlicher hinein. „Hey!“, ein großer Blonder mit einer Bierflasche in der Hand pfiff ihr hinterher. Aber sie beachtete ihn nicht und lief weiter. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass beim Bäcker nur zwei Leute anstanden. Das müsste sie noch schaffen. Hieß es nicht, dass man den Tag nie ohne ein Frühstück beginnen sollte? Schon stand sie hinter dem Mann, dem die Bedienung gerade eine Brezel reichte.
„Bitte, was bekommen sie?“ Eigentlich hatte Linda ein Stück Pizza kaufen wollen, doch es gab nur welche mit Salami, und wenn sie etwas nicht ausstehen konnte, dann war das Salami. Außerdem war morgens schon Pizza eigentlich sowieso nicht so gut. Aber sie mochte italienisch einfach zu gerne. Manchmal vielleicht zu sehr.
Schließlich entschied sie sich für ein Käsebrötchen. Als sie es entgegennehmen wollte, fiel ihr Blick auf die Ankunftsanzeige in der Halle: „U6 – fährt ein“ blinkte ihr entgegen. „Verdammt!“, hastig schnappte sie sich das Brötchen und drückte der Frau zwei Euro in die Hand. „Behalten sie den Rest…“ rief sie, schon auf dem Weg zur Rolltreppe. Das „Danke“ hörte sie nicht mehr.
Das Gleis war nicht weit entfernt, aber mit den hohen Absätzen konnte sie kaum rennen. Sie stolperte eher durch die Menschenmenge. Außer Atem erreichte sie endlich die Rolltreppe. Hilflos musste sie zusehen, wie unten die U-Bahn gerade quietschend anfuhr.
„Nein, Stopp!“ rief sie, doch das hatte bis auf den mitleidigen Blick einer älteren Dame natürlich keinerlei Folgen.
Jetzt stiegen Linda fast die Tränen in die Augen. Erschöpft lehnte sie sich gegen die weiß gekachelte Wand und ließ die Tasche neben sich fallen. „Auch das noch!“ stöhnte sie leise. Musste heute denn eigentlich alles schiefgehen? Warum passierte so etwas immer ihr? Sie schloss die Augen. Manche Tage waren doch einfach zum Verzweifeln.
Auf einmal begann neben ihr jemand auf einer Mundharmonika zu spielen. Unwillkürlich musste sie lächeln; zum ersten Mal an diesem Tag. Die sanften Töne schienen so fern zu sein von all dem Gehetze und dem Lärm, der sie umgab. Sie atmete tief ein und hielt noch einen Moment inne, - lauschte der Musik. Erst dann öffnete sie die Augen. Sie zuckte leicht zusammen, als sie sah, wer da spielte. Es war kein Straßenmusiker, wie sie vermutet hatte. Neben ihr saß ein Obdachloser. Dunkle, ungepflegte Locken, Dreitagebart und zerschlissene Kleidung. Sie wich erschrocken ein paar Zentimeter zurück. Das hatte sie nicht erwartet. Der Mann lungerte des Öfteren hier herum, sie hatte ihn schon ein paar Mal gesehen. Meist hatte er hart und ziemlich heruntergekommen gewirkt. Gut, sie hatte ihn sich nie genauer angesehen, warum hätte sie sich auch mit jemandem beschäftigen sollen, der sein Leben allem Anschein nach auf der Straße verbrachte. Aber dass er so schön spielen konnte, hätte sie nicht gedacht. Der Mann nahm das Instrument von den Lippen und blickte Linda mit traurigen Augen an. Einfach so, ohne etwas zu sagen.
Verwirrt wollte Linda gerade ihre Tasche wieder nehmen und gehen, als sie ein leises Knurren vernahm. Der Mann wendete sich ab, legte die Mundharmonika beiseite und seufzte leise. Linda zögerte. Sie spürte das Brötchen in ihrer Hand. Ohne wirklich nachzudenken hielt sie es dem Obdachlosen entgegen.
Aaron liebte es, Mundharmonika zu spielen. Oft schafften ihre Töne es, das Dunkel um ihn herum zu vertreiben, ihn in eine bessere Welt zu bringen. Eine, in der die Menschen nicht so ignorant und kalt waren.
Und auch das Gesicht der Frau schien sich zu entspannen. Doch als sie die Augen öffnete, wich sie erschrocken vor ihm zurück. Er nahm die Mundharmonika von den Lippen und blickte sie traurig an. Er kannte die schrägen Blicke der Leute. Wenn ihn überhaupt mal jemand wahrnahm, hatte das selten einen erfreulichen Grund. Daran hatte er sich inzwischen gewöhnt. Doch heute verletzte es ihn, dass die junge Frau ihn so scheute. Sie kannte ihn doch gar nicht.
Die Frau war schon dabei zu gehen, als etwas passierte, mit dem Aaron nie gerechnet hätte.
Der Mann starrte Linda verwundert an. Er sah plötzlich verletzlich und gar nicht mehr so hart aus.
Linda lächelte erneut und nickte. „Ja, nehmen Sie es!“ Zögernd nahm der Mann das Käsebrötchen entgegen. Seine dunklen, vorhin noch so traurigen Augen veränderten sich. War das Freude, Hoffnung, was darin glänzte?
Linda hielt inne. Hatte sie diesem Mann mit einem einfachen Käsebrötchen so eine Freude machen können?
Sie sah, wie er hungrig hineinbiss. Da verdrängte sie ihr Abneigungsgefühl und ließ sich neben dem Mann an en Fliesen hinab gleiten.
„Lassen Sie es sich schmecken!“ Freundlich lächelte sie ihn an. Und dieses Lächeln kam von tief empor.
Etwas hatte sich verändert. Sie war plötzlich ganz ruhig und entspannt. Was bedeutete schon eine verpasste U-Bahn? Es gab Wichtigeres!
Zeitenwind "Nur" kann schon eine ganze Menge sein - Toll geschrieben, ich habs sehr gerne gelesen. Vor allem die Art der verschiedenen Sichtweisen hat mir gefallen. Davon abgesehen, eine gute Tat am Tag und es geht einem selber besser, oder? Gruß vom Trollbär |