Mondweber
"Sie hat gesagt, ich sei faul. Was meinst du dazu?" Erwartungsvoll blickte Daniel hinauf zum silbern schillernden Mond. Heute war endlich wieder Vollmond. Jeden Monat wartete Daniel sehnsüchtig darauf, denn nur bei Vollmond konnte er sich mit seinem verstorbenen Vater unterhalten. Er hatte ihm im Sterbebett erzählt, dass Daniel bei jedem Vollmond mit ihm reden könne. Nur bei Vollmond sei dies möglich.
Daniel hatte dies zuerst für ein Hirngespinst gehalten. Aber als der Vater mit ihm noch folgende Worte gewechselt hatte, waren seine Zweifel verflogen; wenn er das so ernsthaft sagte, würde es wohl stimmen.
"Mein Sohn, ich will dir nur noch eine Sache sagen. Bei jedem Vollmond setze dich auf unseren Felsen am Meer und erzähle ihm alles, was du ihm erzählen möchtest. Er wird dir antworten."
"Warum, Vater?"Â
Der sterbende Vater hatte geschwiegen; endlich antwortete er mit letzter Kraft.
"Ich bin der Mond."
   Inzwischen war Daniel gewachsen und groß geworden. Damals war er siebzehn gewesen, jetzt war er älter und reifer geworden. Vieles hatte sich geändert, nur die Gespräche mit dem Mond waren geblieben. Seine Mutter war schon vor dem Vater verstorben.
Daniel war jetzt dreiundzwanzig und lebte in einem Studentenwohnheim. Wenn Vollmond war, fuhr er dorthin zurück, wo er seine Kindheit glücklich mit seinem Vater verbracht hatte und setzte sich auf den Felsen über dem Meer, wo er schon als Kind immer mit seinem Vater gesessen hatte und seinen Geschichten gelauscht hatte. Auch wenn unter der Woche Vollmond war, fuhr er abends noch ans Meer und unterhielt sich mit dem Mond. Die Antwort seines Vaters spürte er ganz tief in seinem Herzen. Des öfteren rannen ihm Tränen über die Wangen. Er war gut gebaut, groß und muskulös und hatte ein schönes Gesicht. Die Mädchen hatten ihn schon im Kindergarten umschwärmt.
"Also, was meinst du?- Du kennst sie nichts? Hab ich dir noch nichts davon erzählt?" Ungläubig schüttelte Daniel den Kopf. Dann erzählte er von einer Frau, der er die Einkäufe besorgte. Er hatte drei schwere Tüten nicht tragen können und eine an der Kasse für später zurücklegen lassen. Als er das der Frau erzählt hatte, hatte sie ihn als faul bezeichnet und ohne Geld weggeschickt.
"Sie hätte das noch viel weniger tragen können", beschwerte sich Daniel bei seinem Vater. Doch er spürte keine Antwort.
Daniel machte sich nichts daraus und erzählte ihm fröhlich weiter. Doch der Mond antwortete ihm den ganzen Abend nicht mehr.
Daniel zuckte die Schultern und fuhr ins Studentenwohnheim.
Vielleicht war heute noch gar kein Vollmond, überlegte er, als er im Bett lag.