\"Es geht mir gut\"
Der lange Zeiger an der Uhr über meiner Zimmertür hatte sich wieder nur ein kleines Stück bewegt, als ich nach scheinbar vielen, vielen Stunden des Wartens wieder darauf schaute. Die Uhrzeit konnte ich zwar noch nicht lesen, aber ich war mir sicher, dass es schon sehr spät sein musste. Gestern hatte ich auch schon mal auf die Uhr gesehen, als die Zeiger genau so standen wie jetzt, aber da hatte ich schon im Bett gelegen und es war kurz bevor meine Mama das Licht ausmachte. Gestern bin ich um diese Zeit müde gewesen, heute war ich es auch, aber etwas war anders als gestern...
Heute hatte ich noch nichts zum Abendbrot gegessen, heute hatte ich meine Zähne noch nicht geputzt, heute hatte ich noch kein Schlafzeug an und heute brannte das Licht noch hell in meinem Zimmer...
Ich erinnerte mich an den Traum zurück, den ich letzte Nacht gehabt hatte. Ich war durch unsere Wohnung gelaufen, in der es irgendwie dunkel war und still. Es hatte sich schrecklich angefühlt, so als würde jeden Augenblick ein Teufel vor mich springen. Nur aus dem Zimmer von dem Mann, den ich immer Papa nennen sollte, kamen gruseliges, weiß flackerndes Licht und ein seltsames Tippen. Langsam schlich ich dorthin, in der Hoffnung, Geborgenheit zu finden. Ich wollte dass er mich in Sicherheit brachte vor den Monstern und es sich verdiente, dass ich ihn meinen Papa nannte, obwohl er es gar nicht war. Immer wurde er böse, wenn ich es nicht sagte. Doch als ich in das Zimmer kam drehte er sich zu mir um und zeigte mir das, wovor ich eigentlich davon gelaufen war. Ein Monster mit roter Haut und langen Hörnern auf dem Kopf, das gruselige Dinge sagte.
„Papa??“
hatte ich nur gefragt. Und die Antwort des Feuermonsters kam und traf mich eiskalt:?
„Nein...“
Nun saß ich still und müde in meinem Zimmer und wartete. Er hatte gesagt, ich solle warten, also wartete ich. Die Augen wollten mir fast zu fallen, so müde war ich. Und da rief er. Ich wusste, was ich machen sollte.
“Hurtig, zack, zack, voran“,
und was er in den Tagen zuvor nicht schon alles gesagt hatte. So schnell wie ich konnte zog ich mich aus, legte meine Sachen auf einem Stuhl zusammen, zog meinen Schlafanzug an, rannte ins Badezimmer und putzte mir die Zähne. Als ich fertig war rannte ich ins Wohnzimmer und stolperte über die Beine von Papas Drehstuhl. Als ich hinfiel kratzte ich mir am Boden das Kinn auf und ich musste dagegen drücken, damit es nicht so brannte, aber weh tat es trotzdem. Mit Tränen in den Augen stand ich auf und sah zu Papa hinüber, der auf der Couch saß und auf seine Uhr guckte. Obwohl mein Kinn noch immer wehtat und mir jetzt auffiel, dass ich mir auf die Zunge gebissen hatte waren das nicht die Hauptgründe, warum ich weiter weinte. Ich hatte zu lange gebraucht.
Er hielt die Uhr hoch, so dass ich die Zahlen darauf sehen konnte, obwohl ich die so wie so nicht verstand. Erst dann sah er mich an.
„Das machen wir aber noch mal, oder??“
Das war keine Frage sondern ein Befehl, das wusste ich. Das hatte er mich in den letzten Tagen bis auf gestern immer machen lassen. Aber ich war so müde. Ich schüttelte nur den Kopf, aus Angst meine Zunge abgebissen zu haben. Es tat so weh. Ich wartete darauf, dass er zu mir kam, mir die Tränen abwischte und versuchte, mich zu trösten. Dafür hätte ich ihn geliebt. Doch für das, was er stattdessen tat, habe ich ihn einfach nur gefürchtet.
Sofort sprang er auf und ging wütend auf mich zu. Dann warf er seine Hand hart auf meine Schulter und sagte, ich solle tun was er mir sagt. Und wenn ich ehrlich sein sollte wusste ich gar nicht Recht, was ich tun sollte, was er von mir wollte und warum? Ich schüttelte wieder den Kopf. Dann tat er es. Er tat es wieder. Ein ums andere mal schlug er mir ins Gesicht. Jeder Schlag brannte zweifach. Einmal auf meiner Haut, das zweite mal in meinem Herzen. Warum sollte er mein Papa sein? Warum sollte ich ihn lieb haben? Und warum tat ich es auf irgendeine Weise? Als er aufhörte mich zu schlagen zog er an meinen Haaren und schrie mich an. Er schrie mich an in einer Sprache, die ich nicht verstand, mit Worten, die ich nicht kannte. Sowie er von meinen Haaren ab lies rannte ich, rannte so schnell ich konnte, in mein Zimmer und sprang in mein Bett.
In meinem Bett war ich sicher, das hat mir Mama, - meine Mama immer gesagt. Wenn ich im Bett war würden mich keine bösen Monster angreifen. Da flog die Tür auf und der Teufel kam rein, schnaubend vor Wut. Er zog mich an den Haaren aus dem Bett und schlug mich, und schrie mich dabei an. Ich konnte nur weinen und schreien, bis ich vor Erschöpfung verstummte. Bei jedem Schlag dachte ich an Mama. Meine Mama, die grade einkaufen gefahren war. Meine Mama würde in einer Stunde wieder da sein und ich wusste nicht, wie lang eine Stunde war. Doch wenn Sie nach der Stunde nach Hause kam, - sich an mein Bett setzte und mich fragen wird,
„Wie geht es dir??“,
dann werde ich sagen:
„Es geht mir gut“,
und dabei die Finger hinter meinem Rücken kreuzen. Sie hatte den Papa doch lieb, darum hatte ich ihn auch lieb. Aber warum tat er das? Manchmal wenn er meiner Mama sagte, dass er mich geschlagen hatte, was er seltener tat als mich vielleicht zu mögen, sagte Mama nur: „Die Kleine ist doch erst vier.“
und fing an zu weinen. Und ich dachte immer, es wäre meine Schuld, also sagte ich nichts.
Ich sehnte mich nach Schutz und nach Geborgenheit, nach dem Gefühl, gewollt und willkommen und in Sicherheit zu sein, doch wenn meine Mama wegen mir weinte, hatte ich es wohl nicht anders verdient, oder nicht?
Und trotzdem tat es weh. Jedes Wort und jeder Schlag tat mir weh. Schnell wurde mir klar, dass mein Leben nicht wie mein Albtraum war, es war noch viel schlimmer. Der Papa sagte mir nicht, dass er nicht mein Papa war, er ließ es mich einfach spüren. Ich fühlte mich abgestoßen, weggeworfen, ungeliebt, und jeder der vielen Hiebe an allen Stellen meines kleinen Körpers lies mich erkennen, dass der Papa wollte, das ich so fühlte, oder dass es ihm egal war, dass ich so fühlte.
Als er endlich aufhörte und mich grün und blau und rot auf dem kalten Boden liegen ließ, hörte ich die Klingel der Haustüre. Das musste meine Mama sein.
Mit letzter Kraft stieg ich in mein Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Mir war klar was ich gleich tun würde, wenn meine geliebte Mama gleich in mein Zimmer käme und fragte, wie es mir ging. Ich werde lügen. Nur für sie werde ich lügen und sagen:
„Es geht mir gut.“