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Als es einen weiteren langen Schulblock später klingelte, war ich total ausgelaugt. Langsam verließ ich den Klassenraum und ließ meine lärmenden Klassenkameraden hinter mir. Dabei fühlte ich mich wie im Film, wenn die Hauptperson durch einen vollen Gang geht und alles um sich herum nur verschwommen wahr nimmt Aber das hier war kein Film, das war das echte Leben – mein Leben!
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Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als mir plötzlich die Augen zugehalten wurden. Ich wusste sofort, dass es Chris war, denn das machte er immer. Ich nahm seine Hände von meinen Augen und drehte mich um. “Du hast nicht vor der Schule auf mich gewartet. Ich hab mir Sorgen gemacht!“, meinte er mit gespielt beleidigter Miene. Ich antwortete: “Oh, tut mir leid Chris, aber ich war total in Gedanken, das hab ich völlig vergessen!!“Â
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Er zuckte mit den Schultern. “Naja, ich kann es dir nicht verdenken, dass du im Moment völlig durch den Wind bist.“ Wir gingen zusammen das letzte Stück zu mir nach Hause. Er wartete, bis ich die Tür aufgeschlossen hatte, umarmte mich fest und ging dann auch nach Hause. Ich schloss die Tür hinter mir, legte meine Tasche unter die Garderobe und ging in die Küche. Dort stellte ich das Radio an und sah in den Kühlschrank. Er war total voll, doch ich fand nichts, worauf ich Lust hatte. Eigentlich hatte ich auch überhaupt keinen Hunger, also schloss ich den Kühlschrank wieder und ging nach oben in mein Zimmer. Auf meinem Nachtschrank lag ein Brief. Ich wunderte mich, denn alle Fenster waren geschlossen und außer meinen Eltern hatte nur ich einen Schlüssel. Vorsichtig nahm ich den Brief in die Hand. Der Umschlag war unbeschriftet. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch öffnete ich ihn. In dem Umschlag lagen ein zusammengefalteter Zettel und ein Foto.Â
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Ungläubig nahm ich das Foto in die Hand. Es zeigte meine Eltern glücklich am Strand. Unten rechts auf dem Bild stand ein Datum, das Datum von gestern. Im Hintergrund sah man den Pazifik. Verwirrt legte ich das Foto beiseite und faltete die Zettel auseinander. Dort stand:Â
 “Liebe Vivi!
Es tut uns leid, aber mit uns Dreien klappt das nicht mehr. Mit dir zusammen zu leben ist anstrengend. Wir werden uns nicht wiedersehen, da wir, wie du weißt, einen Unfall inszeniert haben, um keine Verantwortung mehr zu haben. Wir haben dafür gesorgt, dass Herr Sommer dich in ein Heim steckt. Bau keinen Mist und bring keine Schande über uns “Tote“.
Deine Eltern
P.S.: Du darfst keinem von diesem Brief erzählen, auch wenn du es vielleicht möchtest. Außerdem wirst du uns eh nicht finden.“
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Völlig verwirrt ließ ich mich auf mein Bett fallen. Ich musste das ganze erst mal sacken lassen. Nach einigen Minuten fischte ich das Telefon von meinem Nachtisch und drückte lange die drei. Das Telefon wählte die Nummer von Julia. Seit wir uns kannten, waren wir beste Freundinnen gewesen und die drei auf jedem Telefon war für uns beide reserviert. Nach ein paar Wähltönen meldete sich ihr kleiner Bruder. Er war elf und ziemlich nervig. “Hallo, hier ist Phillip Mussmann?!“ “Hi, hier ist Vivi. Gib mir bitte deine Schwester“ "Okay, Moment." Während Phillip nach seiner Schwester rief, lief ich nach unten und holte eine Tüte Chips und eine Tafel Schokolade und machte es mir dann auf meinem Bett bequem. Als Julia endlich am Telefon war, rief sie sofort: “Vivi?! Soll ich vorbeikommen?? Brauchst du irgendwas?“Â
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Ich nickte nur, aber sie wusste, was ich meinte. Während sie ihrer Mutter einen Zettel schrieb, dass sie bei mir war und vielleicht übernachten würde, ihre Sachen packte und sich mit ihrem Bruder stritt, redeten wir über dies und das und beinahe hätte ich vergessen, dass meine Eltern tot, oder eben nicht tot waren.
Nach einer viertel Stunde legten wir auf und weitere zehn Minuten später klingelte es an meiner Haustür. Ich öffnete die Tür und vor mir stand . . . ein Pizzabote?! Ich sah anscheinend ziemlich verwirrt aus, denn der Typ lächelte mich an und erklärte: “Eine Freundin von mir hat gesagt, du könntest eine Pizza gebrauchen.“ Während er noch redete, kam Julia auf ihrem Fahrrad und fuhr den Pizzaboten fast um. Sie rief: “Lukas!! Gut, dass du da bist! Danke für die Pizza.“ Sie sah mein verwirrtes Gesicht und erklärte: “Vivi, das ist Lukas, ein Freund von mir. Lukas, das ist Vivi, meine beste Freundin, die jetzt was vor hat.“
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 Damit nahm sie Lukas die Pizza aus der Hand, zog mich mit ins Haus, winkte und schloss die Tür. Ich hatte mich langsam wieder gefangen und fragte: “Juli, du weißt, ich habe Verständnis für deine Verrücktheit, aber WAS WAR DAS?!“