Kurzgeschichte
Die Gebärde der Einsamkeit

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"Die Gebärde der Einsamkeit"
Veröffentlicht am 29. Dezember 2012, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Die Gebärde der Einsamkeit

Die Gebärde der Einsamkeit

Beschreibung

... wie Dich das Leben zum Mörder machte.

Er.

Das war ein Wort, an das sie nicht gerne dachte. Sprach sie doch schon ungern den Namen aus - denn zu oft gehört, innerhalb eines Tages - so war die Bezeichnung, die sie sich in den letzten Monaten angewöhnt hatte längst befleckt mit Schuld, Schande, Scham und mehr dieser Dinge, die in den Mündern der Menschen meist doch nur gewöhnliche Abbilder erschaffen, um das Unfassbare zu ergreifen. Sie kannte es jetzt.

Sie umklammerte ihren Bauch, bemüht, sich nicht zu krümmen. Zu krümmen, vor dem Messer, das ihr im Bauch stach, dass sich in ihr drehte. Damals. Es begann schon bald die Zeit, in der ihre Kleidung immer weiter werden musste, in der immer neue Pullover, Hosen, Shirts benötigt wurden. Geld hatte sie ja. Dies war kein Problem, so wie Er sie bezahlt hatte, doch war der eigentliche Zweck längst verschleiert hinter der Lüge: Sie würde niemals frei sein. Niemals. Im Bemühen, nicht aufzufallen, meidete sie diese Geschäfte für Frauen - diesem Schwindel war sie nur einmal erlegen. Damals lief sie blindlings in eines dieser auf Hochglanz polierten Geschäfte. Ihre Freundinnen scherzten dümmlich über ihre - so nannten sie sie- ‘Errungenschaften’ . Sie verschloss sich bei diesen Gesprächen immer. Versuchte sie doch nur, Fragen abzuwenden. Denn jede Frage ließ sie wieder an jede Nacht mit ihm denken. Sie wollte doch nur neue Wäsche. Doch die Verkäuferin stürzte sich auf sie, rang mit ihr, drängte sie schließlich mit einem Kleidungsstück in die Umkleidekabine, sah ihr ja sogar zu! Wollte sie doch nur ihre Ruhe! Welch Dreistigkeit! Welch Boshaftigkeit!

Also tat sie, was sich nicht vermeiden ließ. Ihre weite Kleidung zog sie über ihre schmalen Schultern und präsentierte sein Ergebnis. Natürlicherweise - so erschien es ihr, denn vor ihrer Nacktheit, so dachte sie, musste dies einfach nur getan werden - schreckte die Verkäuferin zurück. Starrte. Im Zoo. Sie stellte sich vor, ein Tiger zu sein. Wie sie an den Gittern herumschlich, begutachtet von den Besuchern. Beglotzt schlafend, beglotzt fressend. Beglotzt zu jeder Stunde des Tages.
Aber sie war kein Tiger im Zoo. Sie war vielleicht eine Ratte. Eine abscheuliche Ratte mit einer riesigen Kugel von Bauch in dem sich er verbarg. Denn sie wusste - sie würde nur sein Abbild in sich tragen können.

Während das Messer weiterhin auf sie einstach, kehrte sie zurück in die Realität. Wurde sie angesprochen?
Nein. Glücklicherweise schien sie für die Außenwelt nicht nur als Junge geboren zu sein - nein, sie war quasi vollkommen unsichtbar.
Der Schmerz nahm zu. Fester und fester drückte die Messerklinge sich in ihren Bauch. Drückte alles ab. Es drängte. Es drängte so sehr.

Sie lief. Sie sagte nichts. Sie stand einfach auf und lief. So schnell sie konnte. So schnell, als flüchtete sie. Was ihr nie gelang. Sonst wäre es niemals so geworden. Sonst wäre sie nicht …
Sie betrat den samtigen, braunen Sandboden vor dem Gebäude und blickte um sich. Dorthin? Die andere Richtung? Jede Richtung würde das Gleiche, unausweichliche Schicksal erbringen. Also lief sie. Sie lief weiter und weiter und weiter. Über steinige Wege und über Wiesen. Es schien ihr, als liefe sie Kilometer, als lasse sie bald die Stadt hinter sich und erreiche den Fluss, indem sie sich - oh, Erlösung! - ertränken könnte. Doch nein. Sie drehte sich. Sah zurück, dorthin, wo sie wohl niemals wieder sein könnte, denn die Vergangenheit ist der Fluss in der Zukunft, in der du dich ertränken kannst. Und sie sah das Gebäude in geringer Distanz. Sie floh. Floh in dieses Gebäude, in dem sie einst ihre erste Zigarette geraucht hatte - ein altes Haus, vermodert und von der Zeit schwer verwundet. Steine lagen auf dem Boden. Steine, Holz, Sand, Papier. Papier? Sie sank hinab. Sank wie ein Ohnmächtiger, wie ein Toter ins Grab aus Papier in einem alten Abrisshaus.
Und tat das Unvermeidliche. Das Messer, das in sie stach hinauspressen. Blutige Spuren auf dem einst reinen Papier. Blut. Körperflüssigkeiten. Schreie. Alles, worauf sie niemals dieses einsame Zimmer ohne Fenster hätte vorbereiten können. Sie dachte an den Tod. Schwebte eine Weile in ihren Gedanke hinfort und ließ all die Schreie hinter sich. Schwebte hinab in eine Welt, in der ein jeder seine eigene Insel bewohnt, in der es Brücken gab, Brücken zu anderen Inseln. Doch ein jeder schlief in Einsamkeit. Purer Einsamkeit. Keine beängstigende Einsamkeit, wie die, in der sie verharrte, wartete sie auf ihn. Nein, eine wohlig warme Einsamkeit, mit dem rauschen des Meeres im Ohr und dem nächtlichen, seichten Schatten der Palmen im Gesicht. Doch all dies würde nie wahr werden. Niemals.



 

Sie war 14, als es passierte.
Bislang jagte sie einem einsamen Traum nach. So, wie sich Katzen Nachts umkreisten, rang sie mit ihrem Traum. Nur dieser hielt sie am Leben.
Neben ihrem autistischen Banknachbern, der Stunde um Stunde hingleiten ließ, indem er entweder seinen mageren Körper schaukelte, oder diesen mit brutaler Gewalt gegen den gemeinsamen Tisch schlug, bis eine der Lehrerinnen - denn in solcherlei Schulen hatte stets mehr als eine Lehrerin anwesend zu sein, als könne jeden Moment die Atombombe in der Tasche explodieren - ihn hinausschaffte, in ein ruhiges Zimmer, in das niemand wollte, den dort waren kahle, aschweiße Wände, und nur eine einzige, winzige Tür, die sich in ihrem weiß kaum vom Rest des Zimmers abzuheben vermochte. Kein Fenster mit Blick zur Sonne, nur die Tür die einen Ausweg verspricht, aber sich doch nicht so schnell an dieses Versprechen halten will.
Sie implodierte still vor sich hin. Jeden Tag eine kleine innere Explosion. Nicht mehr hatte sie sich vorgenommen. Denn mehr - das wusste sie - war nicht zu ertragen, würde ihr den Atem, und später den Verstand rauben. Wie ein Dieb in der Nacht.
Jeder hielt sie aufgrund ihres Namens für einen Jungen. Überhaupt ließ selbst ihr Äußeres darauf schließen, dass es sich bei diesem Subjekt um ein Männliches handeln musste.
Doch diesem Verwechslungsspiel erlag er nicht.
 Er.

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