Zwei Schwestern, ein zerrissenes Reich, ein Platz auf dem Thron - Feenkönigin Shaila stellt ihren Zwillingstöchtern Haijela und Rovenna kurz vor ihrem Tod eine Aufgabe, die über die Thronfolge des Reiches Grajastos entscheiden soll. Zur gleichen Zeit verlassen unheimliche Wesen das Totenreich, um Grajastos' Völkern eine unheilvolle Zeit anzukündigen. Trifft Shaila die richtige Wahl?
Sie blickte nach links und rechts. Ihre Fähigkeit, auch im Dunkeln gut sehen zu können, ließ sie bis zum Ende des Ganges alle Umrisse genau erkennen. Sie konnte niemanden ausmachen. Vorsichtig zog sie eine Halskette unter ihrem Gewand hervor, an der drei Schlüssel hingen. Den größten schob sie ins Schlüsselloch der mächtigen Holztür, die vor ihr im Dunkeln aufragte. Mit leisem Knarzen öffnete sie das Tor. Sie schlüpfte durch den schmalen Türspalt, nicht ohne sich vorher mit einem schnellen Blick noch einmal vergewissert zu haben, dass ihr niemand folgte. Vorsichtig schloss sie die Tür hinter sich und richtete ihren Blick in die Dunkelheit.
Sie sah zwar nachts keine Farben, konnte aber jedes der Regale erkennen, in denen Tausende von Büchern untergebracht waren. Zielstrebig flog sie durch die verlassenen Gänge. Der Geruch von alten Büchern und morschem Holz strömte ihr von allen Seiten entgegen.
Sie liebte ihre nächtlichen Ausflüge in die Bibliothek. Es gab keinen friedlicheren Ort, aus dem so viele Stimmen der Weisheit sprachen. Sie war in ganz Grajastos bekannt und hatte tagsüber selten einen Augenblick für sich selbst. Daher achtete sie umso mehr darauf, nachts von niemandem gesehen zu werden, um wenigstens diese Stunden voll und ganz auskosten zu können. Es gab noch einen anderen Grund, warum niemand von ihren nächtlichen Ausflügen in die Bibliothek erfahren durfte. Niemand außer ihr selbst kannte den Ort, den sie auch dieses Mal aufsuchte. Und so sollte es bis zu ihrem Tod bleiben.
Noch hatte sie nicht entschieden, was mit dem Inhalt der verborgenen Kammer geschehen sollte, wenn sie starb, doch darüber wollte sie sich jetzt keine Gedanken machen.
Sie stand nun in einer finsteren Ecke der Bibliothek, in die auch tagsüber nur wenig Licht fiel. Die Stelle sah völlig unscheinbar aus und unterschied sich von keiner anderen Ecke der unzähligen Bibliotheksräume. Gerade deshalb war sie ideal, um kostbare Dinge zu verstecken. Es kamen ohnehin nur wenige in diesen Teil der Bibliothek, da er lediglich über ein Gewirr von Gängen zugänglich war und der Lagerung veralteter Dokumente diente.
Sie richtete ihr Augenmerk auf die hintere Wand. Einem unaufmerksamen Bibliotheksbesucher wäre nichts an den großen Mauersteinen aufgefallen, doch wusste er um die versteckte Geheimkammer dahinter, so sah er auf Brusthöhe einen schmalen Spalt zwischen zwei Steinen. Dieser diente als Griff, mit dem man erstaunlich leicht eine Wand der Ecke zur Seite schieben konnte. Sie öffnete die Geheimtür gerade soweit, um hindurch schlüpfen zu können. Nachdem sie die Pforte hinter sich zugezogen hatte, richtete sie ihr Augenmerk auf den rechteckigen Raum. Er war nicht größer als eine Abstellkammer. Ein Loch in der Wand versorgte ihn mit Luft – Fenster gab es nicht. Das grobe Mauerwerk roch nach Feuchtigkeit und Moos. Auf der rechten wie auch auf der linken Seite stand eine hüfthohe Säule, auf der jeweils ein Gegenstand von gleicher Form und Größe lag. Der eine schimmerte rot, der andere grün.
Sie trat auf die Säule mit dem grün leuchtenden Gegenstand zu und berührte ihn sacht. Sofort strahlte er grell auf, sodass sie geblendet die Augen zusammenkneifen musste. Als sie sich an das helle Licht gewöhnt hatte, blickte sie lange auf den strahlenden Kristall, bevor sie ehrfürchtig sprach: „Sag mir, weiser Stein der Zukunft, wie vielen Mäijalen muss Grajastos sich noch beugen?“
Gespannt blickte sie auf die Oberfläche des flachen, runden Kristalls, auf der langsam die Zahl sieben erschien.
Erschrocken hielt sie den Atem an. Sechs Mäijalen hatten Grajastos bisher terrorisiert, sieben würden also noch folgen. Da der grüne Stein gute Ereignisse in der Zukunft verkündete und sein roter Verwandter schlechte, wusste sie, dass sie sich auf noch erschreckendere Nachrichten gefasst machen musste.
Nur zögerlich berührte sie den grünen Stein nochmals, sodass sich sein Strahlen wieder auf den matten Schein verringerte und die Sieben verschwand. Langsam ging sie auf die andere Seite des kleinen Raumes, bis sie vor dem roten Kristall stand. Auch diesen berührte sie sacht und schloss die Augen, um sie vor dem aufstrahlenden Licht zu schützen.
Langsam öffnete sie die Lider und blickte auf die helle Oberfläche des Steins. Sie spürte ihr Herz schlagen, als sie mit zitternder Stimme fragte: „Sag mir, weiser Stein der Zukunft, wie wird die Mäijalen-Ära enden?“
Kaum, dass ihre Worte verklungen waren, da erschienen feine, in sich verschlungene Linien auf der Oberfläche des Kristalls. Sofort erkannte sie ihre Bedeutung und stolperte vor Entsetzen zurück.
Königin Shaila blickte nachdenklich auf den Schlosshof herab. Die Fee wusste nicht, wie lange sie schon reglos auf dem Balkon ihres Schlafgemachs gestanden und nachgedacht hatte.
Ein leichter Wind spielte mit ihrem dunkelblonden, hüftlangen Haar und bewegte ihr seidig schimmerndes Gewand. Eine rote Kordel umschlang ihre Taille, zwei goldene Spangen rafften den Stoff auf den Schultern zusammen. Ein tiefer Ausschnitt auf dem Rücken umrahmte die silbern glänzenden Flügel.
Sie legte eine Hand auf die Brust, schloss die Augen und atmete tief ein. Bereits seit langer Zeit hatte sie sich vor diesem Augenblick gefürchtet. Musste er sie gerade jetzt einholen? Die vergangenen Jahre ihrer Herrschaft waren friedlich verlaufen, doch nun erschütterte eine schreckliche Nachricht die Bewohner des Feenpalastes.
Sie blinzelte und ließ ihren Blick über den Schlosshof schweifen, um sich von ihrem Trübsinn abzulenken. Blendend hell erstrahlten die weißen Palastgebäude in der Mittagssonne, die einen großen Hof umringten, in dessen Mitte ein kunstvoll gestalteter Brunnen erbaut war.
Erst jetzt hörte die Fee sein fröhliches Geplätscher. Wie sehr sie ihre Heimat liebte!
Und dennoch musste sie bald fort. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ärgerlich wischte Shaila sie fort und konzentrierte sich auf den Anblick des Schlosshofs. Pflanzen aller Art mit tellergroßen Blüten wuchsen rings um den Platz herum. Sie umwanden die Säulen der vier Eingänge des Hofes, rankten sich die Palastwände empor und verströmten einen betörenden Duft. Eine kleine Gruppe von Palastbewohnern war vor einem besonders schönen Rosenstock stehen geblieben und unterhielt sich.
Unwillkürlich musste Shaila lächeln, als sie den gedämpften Stimmen lauschte. Wie gerne würde sie sich zu ihnen gesellen, um über unbedeutende Dinge zu plaudern. Ihr baldiger Abschied lag jedoch schwer auf ihrem Herzen. Sie fühlte sich fremd, auch wenn niemand außer ihr wusste, dass sie in wenigen Tagen fortgehen würde.
Plötzlich fröstelte sie trotz der milden Mittagssonne. Sie zog ihr Gewand enger um sich, löste ihren Blick vom Schlosshof und wandte sich der Balkontür zu.
In diesem Augenblick flog die Tür auf der anderen Seite ihres Schlafgemachs auf und ihre Tochter stürmte mit wehendem Kleid und zerzaustem Haar herein. Erschrocken zuckte Shaila zusammen. „Was ist passiert, Haijela?“
Die junge Fee blieb nach Atem ringend stehen. Mit ihren langen dunkelbraunen Haaren, ihren vollen Lippen und der schmalen Nase war sie ein Ebenbild ihrer Mutter. Mit zitternder Stimme begann sie zu berichten, was geschehen war: „Rovenna ist noch immer bei Rochven, Mutter. Er wird es ohne deine Heilkunst nicht schaffen. Die Kraft unseres Feenstaubs reicht nicht aus, seine Wunde zu schließen. Wir dachten, wir schaffen es ohne dich. Aber es geht ihm noch immer nicht besser. Ich habe deinen Hengst Valroi mitgebracht, sodass wir schnell zum Stall fliegen können. Er steht mit meiner Lilia vorm Kuppelsaal. Bitte komm mit und hilf uns!“
Ein kalter Schauer lief der Königin über den Rücken. Sie wusste, dass es zu einer Katastrophe käme, wenn Rochven sterben würde. Dennoch schwieg sie.
Haijela drehte sich bereits um und flog Richtung Tür. Erst dann blickte sie sich um. „Mutter, was ist mit dir? Wieso folgst du mir nicht?“
„Mein Feenstaub wird euch nicht mehr helfen können“, sagte Shaila zögernd.
„Warum sagst du so etwas?“, erwiderte ihre Tochter und kam zurück. Shaila streichelte traurig Haijelas Wange.
„Du musst jetzt stark sein, mein Herz. Flieg zu deiner Schwester und versuch ihr zu helfen, bevor es zu spät ist. Ich kann nichts mehr ausrichten.“
„Aber warum denn? Ich verstehe dich nicht. Was ist los, Mutter?“, fragte Haijela verwirrt.
Shaila seufzte und zog ihre Hand zurück. „Nichts, mein Herz, womit ich dich jetzt belasten möchte.“
„Bitte, sag es mir. Vorher gehe ich nicht weg, wir brauchen dich doch!“, flehte Haijela und blickte ihre Mutter so bittend an, dass diese nicht anders konnte, als ihr die Wahrheit zu erzählen.
„Rochven ist nicht der Einzige, der bald sterben wird“, flüsterte sie.
„Was willst du damit sagen?“, fragte Haijela erschrocken.
„Ich spüre eine Eiseskälte in meinem Herzen. Man mag mir mein Alter zwar nicht ansehen, aber das kümmert den Tod nicht. Das Ende naht. Ich bin müde und erschöpft. Meine Heilkraft ist nahezu versiegt, ich kann euch nicht mehr helfen.“
Aus Haijelas Gesicht wich jegliche Farbe. Ihre Lippen bebten.
„Du darfst nicht sterben“, flüsterte sie unter Tränen und legte ihren Kopf an die Brust ihrer Mutter. Schweigend hielt Shaila ihre Tochter in den Armen, bis die Tränen versiegt waren.
„Ich möchte selbst nicht fort. Und, ich fürchte mich vor dem Totenreich. Eile zu deiner Schwester und hilf ihr. Rovenna und du, ihr werdet es gemeinsam schaffen, Rochven zu heilen“, sagte Shaila leise.
Die beiden Feen schwiegen bedrückt. Gerade als Shaila zum Sprechen ansetzte, fuhr ein verzweifelter Schrei durch ihre Gedanken. Auch Haijela zuckte zusammen.
Wenn eine Fee wollte, dass ihr Schrei gehört wurde, vermochte sie dem Wind zu befehlen, ihn weithin über Wälder und Wiesen zu tragen. Nur diejenigen, für die der Feenruf bestimmt war, konnten ihn hören.
Jede Fee besaß diese Fähigkeit, die sie von Kindesbeinen an trainierte, da sich der Feenruf erst entwickeln musste. Oft reichte er anfangs nicht weiter als bis zur Mutter, die sich im Nachbarzimmer aufhielt. Durch Übung erweiterten die Feen im Laufe der Jahre die Reichweite, bis ihre Worte von einem zum anderen Ende des Palastes gehört werden konnten. Keiner Fee aber war es bisher gelungen, eine Nachricht mit dem Feenruf vom königlichen Schloss bis in die Stadt zu schicken. Neuigkeiten mussten also von Boten überbracht werden. Da der Feenruf sehr viel Kraft kostete, nutzen ihn die Feen auch nur, um sich Kurznachrichten zuzurufen, nicht aber für eine Unterhaltung oder längere Botschaften.
Palast und Feenstadt waren durch eine Straße miteinander verbunden, auf deren halber Strecke sich zwischen Wiesen und Wäldern der königliche Pegasistall befand. Rovennas Schmerz schien die Reichweite ihres Feenrufs verdoppelt zu haben, so dass ihre Mutter und Haijela ihn von dort bis zum königlichen Schlafgemach hören konnten.
„Flieg zu Rovenna“, drängte Shaila ihre Tochter.
Haijela blieb wie erstarrt stehen. Ihre großen blauen Augen spiegelten so viel Angst und Sorge wider, dass es Shaila einen Stich ins Herz versetzte.
Plötzlich stürmte ihre Tochter ohne ein Wort des Abschieds aus dem Zimmer. Erst als sie im Türrahmen stand, blickte sie sich noch einmal um, ehe sie ihre Flügel spannte und davonflog.
Als sie verschwunden war, schloss Shaila seufzend die Tür und kehrte auf den Balkon ihres Schlafgemachs zurück. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust und blickte betrübt zum Brunnen.
Hatte sie richtig gehandelt? War ihre Entscheidung falsch, Rochven dem Schicksal zu überlassen? Konnte sie ihm wirklich nicht helfen?
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Zeit war vorüber, sie fühlte sich alt und schwach. Bestimmt hätte sie Haijela nur behindert, wäre sie ihr gefolgt. Dennoch machte Shaila sich den Vorwurf, ihre Töchter im Stich zu lassen. Starb Rochven, stand nicht nur Rovenna, die ihn innig liebte, eine schwere Zeit bevor, sondern auch der königlichen Pegasiherde. Rochven war ihr Leithengst, und wurde ein neuer Anführer gesucht, leisteten sich die geflügelten Pferde oft erbitterte Kämpfe um die Nachfolge. Sie attackierten sich mit ihren Stirnhörnern, bis der Gegner schwer verletzt aufgab.
Rochven rang bereits seit Stunden mit dem Tod. An seine Genesung glaubte Shaila nicht mehr, auch wenn sie seine Wunde nicht gesehen hatte. Es musste sich um eine sehr schwere Verletzung handeln, wenn es ihren Zwillingen Haijela und Rovenna nicht gelang, sie mit ihrem Feenstaub zu heilen.
Shaila schloss die Augen, als sie daran dachte, wie Rovenna vor wenigen Tagen mit der Bitte zu ihr gekommen war, ob Rochven die Palastinsel verlassen dürfe. Sie wollte ihn nach Tasüdror, ins Land der wilden Pegasi, schicken, damit er nach vielen Jahren der Trennung seinen Freund Keifur wiedersehen konnte.
Shaila verstand nicht, warum Rochven auf seiner Reise angegriffen worden war. Auf Grajastos herrschte Frieden und ein Pegasus hatte keine Feinde. Deshalb hatte sie Rovennas Bitte ohne Bedenken nachgegeben. Schließlich verließen die Pegasi oft die Palastinsel, um anderen Völkern Botschaften zu überbringen.
Sie entfaltete die Flügel auf ihrem Rücken und stellte fest, dass sie nicht mehr ihre gewohnte Spannkraft hatten. Als sie ihre Hände betrachtete, erschrak sie. Das Schimmern ihrer weißen Haut, das jede lebende Fee umgab, schien fast erloschen zu sein.
„3162 Jahre sind eine viel zu kurze Zeit zum Leben“, sagte sie seufzend und hob vom Boden ab.
Als sie über die Balustrade des Balkons flog, fragte sie sich, ob ihre Zwillinge für die Nachfolge der Königsherrschaft bereit waren. Warum nur hatte der Tod beschlossen, sie gerade jetzt zu sich zu holen? Heute Vormittag hatte sie sich auf ihren Balkon zurückgezogen, um Ruhe zu finden. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter vor 1530 Jahren von den Lebenden geschieden war und das Wissen um ihren nahenden Tod mit einer äußeren Fassung getragen hatte, die Shaila selbst nicht aufbringen konnte.
Sie setzte sich auf eine Bank neben dem Brunnen und ließ ihr Gesicht von der Sonne wärmen. Eine bedienstete Fee mit blondem Haar, die in den Hof flog, sah die Königin und eilte auf sie zu.
„Ihr seht betrübt aus, Königin Shaila. Kann ich etwas für Euch tun?“, fragte sie und verbeugte sich.
„Nein danke, Falbela. Mir fehlt nichts“, antwortete Shaila freundlich lächelnd.
„Entschuldigt die Störung, Herrin.“ Die junge Fee verbeugte sich erneut und setzte ihren Weg fort. Shaila blieb allein im Schlosshof zurück. Lediglich ein paar Schmetterlinge flatterten gemächlich durch die Luft. Einige trugen kleine Gegenstände zwischen ihren Fühlern, andere ließen sich von den bunten Blüten der Pflanzen anlocken. Da entdeckte Shaila einen Schmetterling, der ziellos um den Brunnen herumflatterte.
Sie stand auf und pfiff leise. Der Schmetterling kam sofort zu ihr geflogen und setzte sich auf ihre ausgestreckte Handfläche.
„Du hast einen Smaragd ins Wasser fallen lassen? Sollst du ihn in die Schmuckwerkstatt bringen?“, fragte sie, nachdem sie das kleine Geschöpf betrachtet hatte. „Ich will dir helfen. Keine Sorge“, fügte sie hinzu und näherte sich dem Brunnen. Tatsächlich schimmerte etwas Grünes vom Grund des Bodens herauf. Mit ihrer freien Hand griff sie ins seichte Wasser, holte den Smaragd hervor und legte ihn auf die Brunnenkante.
„Hier ist dein Edelstein. Aber du bist ja ganz nass und erschöpft. Warte, dir wird es gleich besser gehen“, sagte Shaila leise und hielt ihre Hand über das Geschöpf. Feiner, goldfarbener Glitzerstaub löste sich von ihren Fingerspitzen, der das Geschöpf vollständig umhüllte. Als sich der Feenstaub verlor, war der Schmetterling von aller Nässe befreit. Dankbar neigte er sein Köpfchen, flatterte von ihrer Hand zur Brunnenkante und umschloss den Edelstein mit seinen Fühlern. Dann setzte er seinen Weg fort, während Shaila ihm nachdenklich hinterherschaute.
„Vielleicht wirst du der Letzte sein, der meinen Feenstaub gespürt hat“, flüsterte sie und ließ sich auf der Bank nieder.
„Ich wollte das nicht! Was würde ich dafür geben, alles wieder rückgängig machen zu können? Bitte halte durch, ich brauche dich doch!“
Haijela durchquerte den Spiegelsaal und wich eilig zwei Feen aus, die ins Gespräch vertieft waren. Sie war schon zur Tür hinaus, als die beiden überrascht zu einer Begrüßung ansetzten. Auf den Spiegelsaal folgte die Ahnengalerie der Königinnen von Grajastos. Auf den Gemälden, die zwischen hohen Fenstern an den Marmorwänden hingen, waren Haijelas Vorfahren abgebildet.
Als sie den Gang entlang hastete, prallte sie plötzlich gegen etwas Unsichtbares. Die Wucht des Aufpralls war so heftig, dass sie mit einem erschrockenen Aufschrei zu Boden stürzte. Drei in der Nähe stehende Feen eilten zu ihr und halfen ihr auf die Beine.
„Prinzessin, geht es Euch gut? Habt Ihr Euch verletzt?“, fragte eine der Feen, deren feuerrotes Haar ihr gutmütiges Gesicht umrahmte. Sie trug ein grünes Gewand, das ihre gleichfarbigen Augen betonte. Es war Helena, die oberste Bibliothekarin des Palastes. Die beiden anderen Feen tauschten besorgte Blicke miteinander. Eine von ihnen trug einen goldenen Harnisch und hatte ihre schwarzen Haare zu einem strengen Zopf zurückgebunden. Ihr harter Blick und eine Narbe, die sich von ihrer schmalen Oberlippe bis zum linken Ohr zog, prägten ihr Erscheinungsbild. Lariosa, Anführerin der Palastarmee, war Grajastos' beste Kriegerin. In der anderen, wesentlich unscheinbareren Fee, erkannte Haijela Malona, eine gute Freundin ihrer Mutter.
„Nein, es ist nichts Schlimmes. Was ist überhaupt passiert, Helena? Was war das? Ich bin gegen irgendetwas Unsichtbares gestoßen“, rief sie verwirrt und aufgebracht zugleich.
Die Rothaarige suchte gestikulierend nach einer Erklärung. „Also das... ähm... Das kann ich Euch auch nicht sagen. Vielleicht... ja, vielleicht eine Sinnestäuschung?“
„Wohl kaum“, erwiderte Haijela geistesabwesend und blickte sich um. Es war tatsächlich niemand außer den drei Feen in der Ahnengalerie zu sehen. „Ich bin mir ganz sicher, dass ich gegen irgendetwas gestoßen bin. Es fühlte sich wie der Körper einer Fee an.“
„Das ist unmöglich“, meldete sich Lariosa zu Wort.
„Ich weiß nicht, was es war, aber irgendetwas stimmt hier nicht“, sagte Haijela misstrauisch und blickte einer Fee nach der anderen in die Augen, doch sie schienen genau so verwundert zu sein wie sie selbst.
„Nun gut, ich danke Euch für Eure Hilfe, aber ich muss weiter. Malona und Lariosa, sucht den Gang nach diesem unsichtbaren Etwas ab, ich habe momentan andere Sorgen. Helena, Ihr kommt mit mir.“ Sie nickte den beiden erstgenannten Feen zu und schaute auffordernd zur Bibliothekarin.
Erst nachdem Helena die Tür zum Kaminzimmer aufgestoßen und sich versichert hatte, dass niemand in ihrer Nähe war, wagte sie das Wort an die Prinzessin zu richten: „Was ist mit Euch?“
„Es ist wegen Rochven“, antwortete Haijela knapp und flog über die Sitzgruppe vor dem großen Kamin hinweg, in dem noch die Asche der vergangenen Nacht lag.
„Ich habe gehört, dass er angegriffen wurde. Wir Feen vom weisen Rat sind auf der Suche nach der Ursache und...“
„Dazu müsst Ihr die Wunde sehen“, unterbrach Haijela sie. „Deshalb bat ich Euch, mitzukommen. Anfangs haben meine Schwester und ich niemanden zu Hilfe gerufen, da seine Wunde schrecklich, aber heilbar aussah. Außerdem ist Rochven der stärkste Pegasus, der bei uns auf der Palastinsel lebt. Unser Feenstaub ist trotzdem vollkommen machtlos.“
Sie erreichten den Hauptgang, der zum Kuppelsaal führte, vor dessen Portal Haijelas Pegasusstute Lilia und Shailas Hengst Valroi warteten. Haijela flog so schnell, dass Helena Schwierigkeiten hatte, ihr zu folgen. Je weiter sie sich dem Kuppelsaal näherten, desto mehr Feen und Schmetterlinge kreuzten ihren Weg. Während Haijela sich geschickt zwischen ihnen hindurchwand, prallte Helena mit unglücklicher Miene mehrere Male mit anderen Feen zusammen.
Wenig später tauchte vor ihnen ein Tor auf, das auf halber Höhe in den riesigen Kuppelsaal führte. Dieser war das höchste und mächtigste Gebäude des Palastes und galt als Symbol für die Macht der Feen über Grajastos' Völker. Übereinander errichtete Steinbögen, die durch Kristallglas verschlossen waren, bildeten einen Saal, der hundert Meter über dem Boden in einer Kuppel mündete. Er war als Abbild der Heiligen Haine erbaut worden und erinnerte an den Sieg über das Drachenvolk. Denn vor langer Zeit hatten die Feen mithilfe eines Bündnisses mit fünf weiteren Völkern die Herrschaft der Drachen gestürzt und sie sich selbst zu eigen gemacht.
Im Kuppelsaal war ein reges Treiben zugange. Unzählige Feen schwebten in der Luft, Schmetterlinge flogen hin und her. Das Sonnenlicht strahlte durch die Kristallfenster der Steinbögen. Haijela aber beachtete das eindrucksvolle Szenario nicht, sondern flog zielstrebig zum großen Eingangstor.
„Helena, ich möchte, dass Ihr fünf Feen zusammenruft, die des Heilfeenstaubs kundig sind. Ich werde in der Zwischenzeit mit Lilia zu Rovenna zurückfliegen und Euch die Pegasi herbeirufen. Ihr selbst könnt Valroi nehmen. Eilt mir nach, so schnell Ihr könnt. Wir haben nicht viel Zeit“, sagte Haijela hastig.
Inzwischen hatten sie das Portal erreicht und konnten die beiden Pegasi sehen, die nicht weit entfernt warteten. Lilia erkannte ihre Herrin und trabte, gefolgt von Valroi, auf sie zu. Haijela schwang sich auf ihren Rücken und griff nach den Zügeln.
„Viel Erfolg!“, rief Helena Haijela hinterher, die Lilia zu einem scharfen Galopp angetrieben hatte. Nach nur wenigen Metern schwang sich der Pegasus mit seinen großen Flügeln in die Höhe.
Einen Augenblick schaute Helena ihnen hinterher, dann drehte sie sich um und flog zurück in den Kuppelsaal. Valroi ließ sie stehen.
Als sie das Eingangstor passiert und sich einige Meter in die Höhe geschwungen hatte, um für die anderen Feen gut sichtbar zu sein, verstärkte sie ihre Stimme durch den Feenruf. Das rege Treiben fand ein abruptes Ende. Gespannt lauschten die Feen ihren Worten.
„Hört, Bewohnerinnen der Palastinsel. Ich bitte fünf Feen mit mir zu kommen, die der Heilkraft mächtig sind.“
Sobald ihre Stimme verklungen war, begannen die Feen aufgeregt miteinander zu tuscheln. Helena musste nicht lange warten, bis sich fünf Feen zusammengefunden hatten. Sie nickte ihnen zu und flog zurück zum Eingangsportal. Sie spürte, wie ihr alle hinterherstarrten.
Morgen wissen alle Bewohner der Palastinsel von Rochvens Verletzung, dachte sie bitter und durchquerte das Eingangstor. Im Schutz eines Bogens faltete sie ihre Flügel zusammen und lehnte sich gegen den Stein.
Sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Am liebsten zog sie sich in die Bibliothek zurück, um an ihrer Runenübersetzung weiterzuarbeiten.
Aus dem Kuppelsaal drang lautes Stimmengewirr. Die Gerüchteküche war bereits am Brodeln. Ihre Begleiterinnen hingegen schwiegen. Helena wurde sich bewusst, dass sie nicht mehr ganz Herr der Lage war. In den vergangenen zwei Stunden war so viel geschehen, dass sie den Ereignissen kaum mehr gedanklich folgen konnte. Zuerst war Malona mit besorgter Miene in der Bibliothek aufgetaucht und hatte ihr erzählt, dass Shaila sich in ihr Schlafgemach zurückgezogen hatte und dort nicht gestört werden wollte.
Helena hatte gemutmaßt, dass Shaila ihr Lebensende nahen sah, was Malona aber nicht glauben wollte. Jetzt war sie sich ihrer Vermutung sicher, denn sonst hätte sie Haijela nicht allein, sondern zusammen mit ihrer Mutter in der Ahnengalerie angetroffen. Bevor Malona gegangen war, war Lariosa in die Bibliothek gestürmt und hatte von Rochvens Verletzung erzählt. Sofort hatte Helena ihre Runenübersetzung liegen lassen und war den beiden Feen gefolgt. Sie wollten zum Ratssaal der weisen Feen, um mit den anderen Mitgliedern zu beratschlagen, was angesichts der Vorfälle zu tun sei, als Haijela ihnen in der Ahnengalerie entgegengeeilt war. Nun stand sie hier und wartete auf die Pegasi.
In diesem Moment konnte sie fünf Punkte am Horizont erkennen, die sich rasch näherten.
„Seht, dort kommen die Pegasi. Wir reiten zum königlichen Stall. Seid Ihr bereit?“, fragte Helena ihre Begleiterinnen.
Sie stellte fest, dass sie eine von ihnen noch nie gesehen hatte und zwei als Lehrerinnen der Stadtschule erkannte. Bei den beiden anderen handelte es sich um eine Kriegerin und um die Bibliotheksgehilfin Kasjopeia, der sie zulächelte.
Wiehernd kamen die fünf Pegasi näher. Als sie zur Landung ansetzten, bissen sie nach ihren Artgenossen. Besorgt runzelte Helena die Stirn.
„Das wird ein ungemütlicher Ritt“, sagte sie in die Runde. „Die Pegasi sind aufgewühlt, weil ihr Leithengst im Sterben liegt. Gebt Acht und zeigt ihnen, wem sie zu gehorchen haben.“ Mit diesen Worten schwang sie sich auf Valrois Rücken, der mit der Ankunft seiner Artgenossen unruhig geworden war. Sie gab ihm einen Klaps auf die Kruppe, wurde jedoch selbst unruhig, da sie nicht die beste Reiterin war. Sie trieb den königlichen Hengst leicht an, doch der galoppierte schlagartig los, sodass Helena beinahe von seinem Rücken gestürzt wäre. Zur Sicherheit faltete sie ihre Flügel nicht ein und klammerte sich an seiner Mähne fest.
Erst kurz vor dem Eingangsportal zum Vorplatz des Kuppelsaals gelang es ihr, den Pegasus in die Höhe zu reißen. Erleichtert atmete sie auf, als sie das Tor unter sich vorbeirauschen sah und ein Blick über die Schulter ihr versicherte, dass die fünf Feen ihr folgten.
Haijelas Stute Lilia setzte auf der Wiese vor dem großen Gebäude des königlichen Stalles auf. Die angrenzenden Weiden erstreckten sich kilometerweit zwischen dem weitläufig angelegten Park des Palastes und den Vororten der Feenstadt. Vergoldete Skulpturen verzierten die prunkvolle Fassade des Stalles. Der Oberkörper eines steinernen Pegasus ragte über dem offenen Tor aus der Fassade heraus und gab den Ankömmlingen den Anschein, als wolle er auf diejenigen herabstürzen, die unerlaubt eintraten. Sein goldenes Stirnhorn war bedrohlich gesenkt und seine steinerne Mähne umspielte sein majestätisches Haupt.
Haijela trieb ihre Stute durch das offene Tor und ritt einen Gang entlang, an dessen linken und rechten Seite sich unzählige Boxen reihten. Die Hälfte von ihnen stand offen, da die Pegasi am Morgen auf die Weide gebracht worden waren. Die übrigen Tiere aber machten einen ohrenbetäubenden Lärm. Sie wieherten, stiegen auf die Hinterbeine oder versuchten gar auszubrechen. Zum Teil gelang es den Stallfeen nicht einmal zu zweit, einen Pegasus im Zaum zu halten. Eine von ihnen sah Haijela heranpreschen und ließ vor Schreck den Kopf eines Rappen los, der sich wiehernd aufbäumte. Nur knapp verfehlten seine Vorderhufe den Kopf der Fee, die sich gerade noch rechtzeitig zur Seite warf. Haijela sah aus den Augenwinkeln, wie sie sich aus der Box rettete, bevor der Pegasus donnernd gegen die Holzwände seines Stalles ausschlug.
Noch im Trab sprang Haijela von Lilias Rücken, als sie sich Rochvens Box näherten, die sich am Ende des Ganges befand und die komplette Rückwand des Gebäudes für sich in Anspruch nahm. Sie bot an sich für mehrere Pegasi Platz, war aber dem Leithengst der Herde vorbehalten.
Haijela lief in die Box hinein und fand ihre Schwester mit sechs weiteren Feen vor Rochvens Körper kniend, von denen keine mehr die Kraft aufbringen konnte, Feenstaub zu erzeugen. Hilflos streichelten sie den bebenden Körper des großen, dunkelbraunen Hengstes. In Rovennas Gesicht waren Anstrengung und Furcht zu lesen. Tränen in ihren Augen verrieten, dass sie das Ende ihres geliebten Tieres nahen sah.
Eine tiefe Wunde klaffte in Rochvens Flanke. Sein Körper hob und senkte sich in unregelmäßigen Abständen und bei jedem Atemzug entfuhr seiner Kehle ein röchelnder Laut. Einige Federn seiner kraftlosen Flügel waren herausgerissen, während die verbliebenen jeglichen Glanz verloren hatten. Schaudernd kniete Haijela sich neben ihrer Schwester nieder.
Reiß dich zusammen, mahnte sie sich selbst und ballte die Fäuste, um gegen den Reiz anzukämpfen, einfach davonzulaufen.
Sie versuchte sich zu konzentrieren und hob die Hände. Der Feenstaub drang nur schwach aus ihren Fingerspitzen, denn auch sie hatte ihre Kräfte nahezu verbraucht.
Helena, beeil dich, dachte sie und schaute sich zum Tor um. Eine Stallfee blickte zaghaft in die Box hinein, zog sich aber schnell zurück, als sie Haijelas Blick bemerkte. Von Helena und ihren Begleiterinnen war noch nichts zu sehen. Haijela versuchte erneut ihren Feenstaub auf Rochvens Wunde zu richten, doch er zeigte nur wenig Wirkung.
„Beeilt Euch, Helena, bitte kommt“, flüsterte sie flehend.
Rovenna hob den Kopf. „Warum kommt niemand, Haijela? Wieso bist du allein zurückgekehrt? Wieso ist Mutter nicht bei dir?“
Haijela nahm Rovennas Hand und drückte sie sanft. „Helena ist mit Hilfe unterwegs und wird bald hier sein. Ich habe fünf Pegasi zu ihr geschickt. Rochven muss nicht mehr lange durchhalten“, versuchte Haijela ihre Schwester zu beruhigen.
„Aber warum ist Mutter nicht bei dir? Warum lässt sie mich im Stich?“, fragte Rovenna aufgebracht. Haijela antwortete nicht, sondern sagte leise zu den Stallfeen: „Ich danke Euch für Eure Hilfe, aber Ihr könnt hier nichts mehr tun. Bald wird Unterstützung kommen, die noch bei Kräften ist. Geht und ruht Euch aus.“
Als die Feen die Box verlassen hatten, ließ Haijela die Hand ihrer Schwester los und streichelte Rochvens schweißnassen Hals. Seine sonst strahlend blauen Augen waren milchig trüb. Er schien seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen.
„Halt durch!“, flüsterte sie. Ihre Hand strich zu seinem Herzen. Es pochte, seine Schläge aber wurden langsamer. Wie betäubt ließ sie ihre Hand auf seiner Brust liegen. Rochvens Körper zuckte immer wieder.
„Helena, bitte beeilt Euch“, wiederholte sie immer wieder.
Plötzlich setzten die Herzschläge aus. Rochven war tot.
Fassungslos starrte Haijela auf den reglosen Körper. „Sie kommen zu spät.“
„NEIN!“, schrie Rovenna und schüttelte Rochven aus Leibeskräften. „Nein, nein, komm zu mir zurück. Rochven, das kannst du mir nicht antun, komm zu mir zurück!“
Rochvens Stirnhorn kratzte über den Boden und hinterließ einen tiefen Schnitt im Holz, das sich zischend in Asche verwandelte. Haijela, die ihre Schwester umarmen wollte, sah erschrocken auf. Was hatte das zu bedeuten?
Mit zitternden Händen fegte sie das Stroh beiseite. In diesem Moment spürte sie den kalten Wind aus dem Totenreich, der Rochvens Seele aufnahm.
„Nein, komm zurück“, wimmerte Rovenna.
Haijela streichelte ihren Arm, blickte aber gleichzeitig besorgt zu Rochvens Stirnhorn. Sie ließ ihre Schwester los und tastete nach der Asche. Als sie sie berührte, durchfuhr ein stechender Schmerz ihren Finger. Hastig zog sie ihn zurück.
„Wir hätten alle Feen zusammenrufen müssen, die Heilkraft herstellen können, um Rochven zu retten. Und was haben wir getan? Nichts! Nur nach unserer Mutter gerufen. Wie kleine Kinder haben wir auf ihre Hilfe vertraut! Sag mir, Haijela, wieso lässt sie mich im Stich? Und warum hat unser beider Kraft nicht ausgereicht, die Wunde zu heilen?“, rief Rovenna aufbrausend.
Haijela musste schlucken, als sie Rovennas Blick erwiderte. Das Gesicht ihrer Zwillingsschwester wirkte entstellt, so sehr war es von Rochvens Blut besudelt. In ihrem hüftlangen Haar hing Stroh und das Blut verklebte es zu dicken Strähnen. Ihr Kleid war schmutzig und an den Ärmeln zerrissen. Rovenna hatte offensichtlich versucht, die Blutung mit dem Stoff ihres Gewandes zu stillen. Sie sah so elend aus, dass Haijela sich nicht traute, ihr die Wahrheit zu erzählen. Den Tod eines weiteren geliebten Wesens würde sie nicht verkraften können. Stattdessen log sie: „Sie… sie war nicht im Schloss… ich habe sie überall gesucht, aber nicht gefunden.“
„Lüg mich nicht an! Mutter wollte mir nicht helfen, sag es doch! Ich weiß es ganz genau. Sie ist sicher der Meinung, dass ich selbst die Schuld an Rochvens Tod trage, weil ich wollte, dass er zur Hauptinsel fliegt. Aber ich wusste doch nicht… ich… Woher sollte ich denn wissen, dass es da draußen etwas gibt, das einen Pegasus angreift?“, schrie ihre Schwester plötzlich und sprang auf.
„Rovenna, beruhige dich!“, sagte Haijela sanft, doch die Trauer und Verzweiflung hatten ihren Zwilling in Rage versetzt.
„Was denkt sich Mutter eigentlich? Sie lässt ein Geschöpf sterben, nur um mich zur Rechenschaft zu ziehen?“
Sie funkelte Haijela böse an und ballte ihre Hände zu Fäusten, ließ sich dann aber wieder neben Rochven auf den Boden sinken.
„Rovenna, es ist nicht so, wie du denkst. Mutter hat einen Grund… ich kann ihn dir jetzt nicht sagen, aber…“ Haijela stockte und hob verzweifelt die Schultern. Nicht jetzt, nicht, da Rochven gerade gestorben ist, ihr treuester Begleiter, dachte sie.
Der fordernde Blick ihrer Schwester schien sie zu durchbohren. Haijela schauderte, als ihr bewusst wurde, dass Rovenna keinen Widerspruch dulden würde. Sie konnte nicht anders, als betreten zu Boden zu schauen und Rovenna die Wahrheit zu sagen. „Sie stirbt“, flüsterte sie.
Der fordernde Blick wich aus Rovennas Gesicht. „Das kann nicht wahr sein – sag, dass das nicht wahr ist!“
„Es ist wahr“, musste Haijela widersprechen.
Plötzlich wurde es im Stall ruhig. Wie auf einen Schlag bewegte sich kein einziger Pegasus mehr. Die Tiere standen reglos in ihren Boxen – sie spürten den Tod ihres Artgenossen und Anführers. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Es kam Haijela wie eine Ewigkeit vor, bis Rovenna sich aus ihrer Erstarrung gelöst und sich weinend in ihre Arme geworfen hatte.
„Es tut mir so Leid… ich… wollte dich nicht anschreien oder Mutter derart beschuldigen… ich…“ Die Tränen erstickten ihre gestammelten Worte. Haijela drückte Rovenna fest an sich.
„Es wird alles gut, noch ist es nicht soweit“, murmelte sie geistesabwesend und blickte über Rovennas Schulter zu Rochven. Ihr Blick fiel erneut auf sein Stirnhorn, das noch immer verkeilt im Holz steckte. Eine grüne Masse klebte an ihm und verdeckte seine Perlmuttfärbung. Erschrocken ließ sie ihre Schwester los und stolperte zurück. Rovenna hörte verdutzt auf zu weinen.
„Was ist los?“
Das ist unmöglich!, schoss es Haijela durch den Kopf. Doch als sie in Rochvens weit aufgerissene Augen blickte, wurde ihr sofort klar, dass ihre Vermutung stimmte. Der milchige Schleier, der die sonst so wachsamen Augen trübte, war nicht ein Zeichen von Erschöpfung gewesen, wie sie vorerst gedacht hatte, sondern der Beweis dafür, dass Rochven im Kampf verletzt worden war und durch die Zauberkraft eines anderen Wesens seine Sehkraft verloren hatte. War dies tatsächlich der Fall, war die Katastrophe viel größer, als sie angenommen hatten.
„Ich muss fort!“, presste sie mit Mühe heraus. Ihr Herz raste. „Rochven ist nicht umsonst gestorben. Er hat mit seinem Tod ganz Grajastos vor einem schrecklichen Unheil gewarnt“, rief sie schrill, machte auf dem Absatz kehrt und rannte an Rovenna vorbei aus der Box.
„Bleib hier! Lass mich nicht allein. Wo willst du hin?“, rief ihre Schwester, aber da hatte sich Haijela schon auf Lilias Rücken geschwungen. Die Stute bäumte sich auf und galoppierte Richtung Tor. Gerade als sie das Eingangsportal durchquerte und ihre Flügel spannte, setzten Helenas Pegasus und die ihrer Begleiterinnen auf der Wiese auf.
Sie kommen zu spät, dachte Haijela.
Als die Bibliothekarin die Prinzessin aus dem Stall stürmen sah, zog sie erschrocken an den Zügeln. Valroi protestierte laut wiehernd und buckelte, Helena aber rettete sich mit ihren Flügeln in die Luft. Sobald der Hengst jedoch durch das Eingangstor galoppiert war, kam er selbst zur Ruhe und ließ sich willig einfangen. Wie alle anderen Pegasi im Stall ließ er den Kopf hängen, um seine Trauer zu zeigen.
„Prinzessin, ich danke Euch. Was ist passiert? Kommen wir zu spät? Warum reitet Ihr wieder davon?“, fragte die Bibliothekarin aufgewühlt. Haijela ließ Helenas Pegasus los und sagte: „Reitet zu Rovenna, sie braucht Euren Beistand. Rochven ist tot.“ Helena riss erschrocken die Augen auf. „Ich selbst muss sofort zu meiner Mutter. Ich ahne etwas Schreckliches“, fügte Haijela leise hinzu, damit die anderen Feen sie nicht hören konnten. Als Helena nach dem Grund fragen wollte, sagte sie eilig: „Ihr werdet später davon erfahren. Eilt nun zu Rovenna, sie braucht Euch. Ich bin mir mit meiner Vermutung noch nicht sicher und möchte auf keinen Fall unnötige Panik verursachen. Zuerst werde ich meine Mutter fragen.“
Ohne Helenas Antwort abzuwarten, ließ sie Lilia herumwirbeln und trieb sie voran, bis die Stute sich in die Höhe schwang. Schnell ließen sie den Stall hinter sich und flogen über die weitläufigen Weiden. Einige Pegasi standen dicht gedrängt an einer Baumgruppe und ließen traurig die Köpfe hängen.
Das kann nicht wahr sein, ich muss mich täuschen, dachte Haijela immer wieder. Das Bild von Rochvens Stirnhorn ging ihr nicht mehr aus dem Sinn.
Der Schlosspark lag nun unter ihr. Einige Feen, die am Ufer eines Sees die Sonne genossen, schreckten auf, als der Pegasus über ihren Köpfen vorbeirauschte. Wenige Augenblicke später konnte Haijela den Kuppelsaal sehen. Anstatt wie zuvor auf dem Vorplatz zu landen, flog sie weiter in Richtung Shailas Balkon. Haijela hoffte, ihre Mutter dort direkt anzutreffen, doch er war leer. Kaum, dass Lilias Hufe den Boden berührten, da sprang sie ab und stieß die Kristalltür auf. Kurz darauf erreichte sie den Spiegelsaal. Shaila stand reglos in der Mitte des Raumes und starrte auf ihr eigenes Spiegelbild.
„Mutter“, rief Haijela und schnappte nach Luft. Erst jetzt bemerkte Shaila ihre atemlose Tochter und drehte sich beunruhigt zu ihr um.
„Was ist geschehen? Es wäre wirklich besser, du stündest Rovenna bei.“ „Nein!“, stieß Haijela gequält hervor. „Es ist viel schlimmer! Ein Dämonir hat Rochven angegriffen!