Biografien & Erinnerungen
Die Stimme

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"Die Stimme"
Veröffentlicht am 03. Juni 2008, 12 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
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Über den Autor:

16. Oktober 1952 erblickte ich das Licht der Welt in sehr bescheidenen Verhältnissen. Als Nesthäkchen wurde ich von meinen zwei Schwestern, zwei Brüdern und meinen liebevollen Eltern umsorgt. In meinen Erinnerungen ist die alte Hütte noch sehr präsent. Um das elterliche Bett vor Regen und Schnee zu schützen spannte mein Vater eine Plane an die Decke. Meine Schulzeit war alles andere als glücklich. Ungerechtigkeiten konnte und kann ich nur ...
Die Stimme

Die Stimme








Erinnerung an meinen Bruder....

 

Die Stimme



Es ist laut, alle drängen und hetzten und wollen von der Arbeit ins Private wechseln. Dieser Straßenlärm, das endlose summen, knattern, brummen des Feierabendgewühls überfordert mich. Ein bedrohlich nah heranfahrender Bus zwingt mich mit meinem feuerroten Rad auf den sicheren Gehsteig. Völlig aufgewühlt und außer Kontrolle starre ich auf meine rechte, den Griff des Lenker krampfhaft umfassende Hand.

Während ich meine blasse, durch die Anspannung hervortretenden Knöcheln betrachte, beruhige ich mich ganz langsam.

„Was?“

Verstehe diesen Herrn nicht, der wild gestikulierend spricht. Fahrrad schiebend haste ich weiter. Nach einigen Schritten wage ich einen argwöhnischen Blick zurück. Angewurzelt bleibe ich stehen und wie eine Regenwürmer pickende, stets aufmerksam, nach jeder Gefahr Ausschau haltende Amsel suche ich meine unmittelbare Umgebung nach dem bedrohlichen und unheimlichen Mannsbild ab. Ich kann ihn nicht mehr sehen, wo ist er?

„Beeile dich, du wirst verfolgt!“

Ich kriege keine Luft mehr, atme mehrmals kurz hintereinander ein und vergesse das ausatmen. Hyperventilierend erinnere ich mich an meine stets bewährte Beruhigungsmethode und betrachte erneut meine Hände. Konzentriert versuche ich die aufkommende Panik zu unterdrücken und schaue dabei angestrengt auf die schmutzigen Finger. Nur langsam kann ich mich etwas beherrschen und es gelingt mir, mich wieder auf mein geliebtes Zweirad zu schwingen und dem unsichtbaren Verfolger davon zu radeln.

„Beeil dich, er kommt immer näher!“

„Ja, ja!“

Wie von Sinnen kraftvoll in die Pedale tretend versuche ich der mir drohenden Gefahr zu entkommen. Schweiß gebadet und völlig ausgepowert schwenke ich mit meinem Rad routinemäßig links ab, überquere den kleinen Vorplatz, springe vom Fahrrad und schmeiße das geliebte und luxuriöseste was ich besitze achtlos an die Hauswand. Das Scheppern und Rumpeln tut in meiner Seele weh und dennoch ich habe keine Wahl, werde verfolgt und gehetzt. Zittrig, hastig und stets um mich schauend stecke ich den Schlüssel ins Schloss. Im Hausflur ein kurzes durchatmen, Luft holen und entspannen.

„He, die Gefahr ist nicht vorbei!“

„Was sagst du, nein bitte nicht!“

Nicht zwei, nein, drei Stufen auf einmal nehmend springe ich die Treppe nach oben. Im Dachstock befindet sich mein Zufluchtsort, der gehört nur mir, mir ganz allein und keine dunkeln Gestallten haben Zutritt!

Japsend, hustend und keuchend verriegle ich, von innen, der Zugang zu meiner Mansarde.

„Laserstrahlen, sagst du, das ist nicht dein ernst! Oh, Gott, was soll ich tun?

Unter meinem Bett ? - Da ist nichts! - Den Schrank schiebe ich vor die Tür!“

Ein rücken, ziehen und stoßen und schon versperrt das ganze Mobiliar meine

Zimmertür!

„Im Treppenhaus – nein, sag, das kann nicht sein, es darf nicht sein, ich will leben und nicht sterben! Es muss einen Ausweg geben! Das Fenster – nicht möglich, ich bin in der vierten Etage!“

„Du musst, Sie kommen!“

„Ich muss, ich muss!“

„Nicht nach unten schauen, halt dich fest am Fensterbrett! Gut, und jetzt an der Dachrinne - langsam nicht so hektisch!“

Ich rutsche vorsichtig über das Ziegeldach vor meinem Fenster und jetzt der Dachrinne entlang bis zum Ablaufrohr, festklammernd, Halt suchend, der Blick nach oben gerichtet,

klettre ich an der Hausfassade nach unten und hoffe inständig auf rettende Nachbarn, oder auf ein offenes Fenster.

Mit unglaublicher Kraft schaffe ich es auf den Balkon bei Schmids im Ersten, sie haben Licht, schauen die Tagesschau und öffnen erstaunt nach meinem heftigen klopfen die Terrassentür.

Der Griff zum Telefon und das sofortige eintippen der Nummer von der Notrufzentrale lässt mich endlich auf Rettung hoffen. Beruhigt bin ich deswegen noch lange nicht denn die Polizei ist noch nicht in Sicht! Gehe hin und her, rauf und runter, suche unter jedem Tisch und hinter den Gardinen.

Der Streifenwagen kommt angefahren.

Schnell verlasse ich das Haus und ohne den Gruß der Beamten zu erwidern steige ich ins Auto, setzte ich mich auf die Rückbank und warte ungeduldig auf die Fahrt in die Psychiatrische Klink.

Mit Schlaf und Tabletten wurde ich vom Verfolgungswahn befreit und erzähle dir meine kleine Schwester, das Grauen dieser Pein.

 

 

Erna Müller-Rytz






















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Hörbuch

Über den Autor

Coeur
16. Oktober 1952 erblickte ich das Licht der Welt in sehr bescheidenen Verhältnissen.
Als Nesthäkchen wurde ich von meinen zwei Schwestern, zwei Brüdern und meinen liebevollen Eltern umsorgt.
In meinen Erinnerungen ist die alte Hütte noch sehr präsent. Um das elterliche Bett vor Regen und Schnee zu schützen spannte mein Vater eine Plane an die Decke. Meine Schulzeit war alles andere als glücklich. Ungerechtigkeiten konnte und kann ich nur schwer ertragen und davon gab es in der Schule und außerhalb mannigfach.
Frauen brauchen keine Bildung, dieser Meinung war damals mein Vater obwohl meine Mutter einem 100% Job nachging.
1970 ziehe ich für einige Zeit zu meiner damals geschiedenen Schwester Irene und in diesem Jahr lernte ich meinen ersten Mann kennen.
1971 wurde unser gemeinsamer Sohn geboren.
Am 26. November 1974 erhängte sich meine Schwester Irene in ihrer Wohnung, am Schlafzimmerfenster. 13 Tage vor ihrem 29. Geburtstag! Mein verzweifelter Versuch eine Logik in den chaotischen Tod von Irene zu bringen, scheiterte. Entsetzen, Wut, Schuld, Enttäuschung und auch Angst der Verantwortung nicht gerecht zu werden.
Plötzlich war ich mit meinen 22 Lenzen die Ersatzmutter vom damals 10-jährigen Jungen, natürlich nicht ohne die Unterstützung meines ehemaligen Mannes, er war in all den schwierigen Zeiten mein fröhlicher und treuer Begleiter, auch wenn sich unsere Wege später getrennt hatten blieben wir jedoch Freunde. Abschied für immer musste ich am 18. Januar 1983 von Bruder Hans nehmen.
Im 33. Lebensjahr wählte er den Freitod. Ein Schnellzug erfasste ihn in Lenzburg.
Im gleichen Jahr starb auch mein Patenkind. Er war im zarten alter von 3 Jahren in ein Desinfektionsbad für Schafe gestürzt.
Der ohnehin schon angeschlagene Gesundheitszustand meines Vaters verschlechterte sich nach dem Todesfall von Hans zusehends, ja sogar schlagartig.
15. Juni 1984 war mein Vater gestorben. Wenigsten blieb ihm die nur ein gutes Jahr später schmerzliche Nachricht von meinem verunglückten Bruder Hugo, die ich meiner Mutter überbringen musste, erspart.
Am 5. Oktober 1985, im 39. Lebensjahr war er bei einem Tauchgang im Zugersee tödlich verunglückt.
Dieser Abschied war sehr, sehr, sehr schwer, dabei hat das Jahr 1985 glücklich angefangen.
Damals lebte ich allein mit meinem Sohn der ein fröhlicher, lieber und sorgloser Teenager war, ja, sicher in der Schule hätte er durchaus mehr leisten können...
Ich war glückliche Kioskleiterin. Durch gute Leistungen sowie Umsatzsteigerungen gewann ich immer wieder traumhafte und einzigartige Motivationsferien im Ausland unter anderem im Piemont, in Florida, Norwegen, Andalusien und vieles mehr. Den Kontakt zu den unterschiedlichsten Menschen war eine Herausforderung die ich gerne annahm. In meinem Team waren Frauen und Männer mit unterschiedlichsten Berufsausbildungen sowohl Hausfrauen, Lehrerinnen, Studenten und Verkäufer auch auf meinen 20jährigen Sohn durfte ich mich eine Zeitlang verlassen. Er war eine super tolle Unterstützung für unser Team. Zu den Kunden gehörte der Designer Luigi Colani oder der bekannte Jan Tinguely ebenso wie Obdachlose und natürlich meine neue große Liebe.
Am 17. Mai 1991 starteten wir mit einem gecharterten Düsenflugzeug im Berner Flughafen Belpmoos um über den Wolken unser Jawort zu besiegeln.
Am 17. Dezember 2003 wurde ich erneut daran erinnert, dass man diese Zeit nicht für immer hat! Mein geliebter Mann erlitt einen Herzinfarkt. Dieses Mal war es glücklicherweise nur eine Warnung. 2004 und 2005 wurde mein Mann erneut am Herzen operiert und konnte so einem erneuten akuten Herzversagen vorbeugen.
Während ich diese Zeilen schreibe genieße ich ein harmonisches und glückliches Leben!



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MarianneK Vom Anfang bis zum Ende Gänsehautgefühl und auch jetzt noch ... einfach klasse geschrieben ... habe es wieder sehr gerne gelesen.

Ganz liebe Grüße
Marianne
Vor langer Zeit - Antworten
Gaenseblume Das ist sehr spannend von Dir vorgetragen worden,habe es mir gerne angehört. LG Marina Gaenseblume
Vor langer Zeit - Antworten
Coeur Hörbücher ist für uns Schweizer nicht ganz so einfach... :)
Danke
LG Erna
Vor langer Zeit - Antworten
Coeur Re: Spannend bis zum Schluß -
Zitat: (Original von Shidah am 29.07.2008 - 12:58 Uhr) Hi-dies ist ein guter und spannender Text.
Gruß Jutta

Danke für deinen Kommentar und liebe Grüsse
Erna
Vor langer Zeit - Antworten
Shidah Spannend bis zum Schluß - Hi-dies ist ein guter und spannender Text.
Gruß Jutta
Vor langer Zeit - Antworten
Coeur *deleted* - Kommentar vom Autor gelöscht
Vor langer Zeit - Antworten
Rattenfaenger Re: Re: Die Stimme... -
Zitat: (Original von Coeur am 23.07.2008 - 19:39 Uhr)
Zitat: (Original von Rattenfaenger am 23.07.2008 - 11:16 Uhr) ...ist herrlich spannend und atemlos geschrieben. Mir gefällt zusatzlich das Wortbild...Angewurzelt bleibe ich stehen und wie eine Regenwürmer pickende, stets aufmerksam, nach jeder Gefahr Ausschau haltende Amsel suche ich meine unmittelbare Umgebung nach dem bedrohlichen und unheimlichen Mannsbild ab...
Herrlich, liebe Erna und
lG
Karl-Heinz*****


Schön, dass du gerade diesen Satz erwähnst. Er gefiel mir auch aber ich zweifelte an der länge und ob er nicht doch zu umständlich.... ach egal, fühle mich jetzt bestätigt! *grins*
Danke für dein Kompliment.
LG, Erna



Liebe Erna, bitte den Satz "niemals nicht" kürzen! Er hat von Deiner Hand genau die richtige Form gefunden und
lG
Karl-Heinz
Vor langer Zeit - Antworten
Coeur Re: Die Stimme... -
Zitat: (Original von Rattenfaenger am 23.07.2008 - 11:16 Uhr) ...ist herrlich spannend und atemlos geschrieben. Mir gefällt zusatzlich das Wortbild...Angewurzelt bleibe ich stehen und wie eine Regenwürmer pickende, stets aufmerksam, nach jeder Gefahr Ausschau haltende Amsel suche ich meine unmittelbare Umgebung nach dem bedrohlichen und unheimlichen Mannsbild ab...
Herrlich, liebe Erna und
lG
Karl-Heinz*****


Schön, dass du gerade diesen Satz erwähnst. Er gefiel mir auch aber ich zweifelte an der länge und ob er nicht doch zu umständlich.... ach egal, fühle mich jetzt bestätigt! *grins*
Danke für dein Kompliment.
LG, Erna

Vor langer Zeit - Antworten
Rattenfaenger Die Stimme... - ...ist herrlich spannend und atemlos geschrieben. Mir gefällt zusatzlich das Wortbild...Angewurzelt bleibe ich stehen und wie eine Regenwürmer pickende, stets aufmerksam, nach jeder Gefahr Ausschau haltende Amsel suche ich meine unmittelbare Umgebung nach dem bedrohlichen und unheimlichen Mannsbild ab...
Herrlich, liebe Erna und
lG
Karl-Heinz*****
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Coeur Re: Ängste können unser Leben beherrschen -
Zitat: (Original von Chrissy55 am 14.07.2008 - 20:54 Uhr) ich bin zwar selbst nicht davon betroffen, habe aber in meiner täglichen Arbeit damit zu tun als Psychologisch technische Assistentin. Meist beginnt es schleichend wie eine Sucht. Man misst ihnen keine besondere Bedeutung zu, aber irgendwann können sie einen so beherrschen, dass man nicht einmal mehr in der Lage ist, die eigene Wohnung zu verlassen. Niemand sollte diese Erkrankung leichtfertig abtun oder, wie viele Leute es machen, sagen: Stell dich doch nicht so an. So einfach ist es nicht.
Mir gefällt sehr gut, wie du das geschrieben hast.
LG Chrissy


Diese Ängste, so unterschiedlich sie auch sein mögen, manchmal ist es für Angehörige und Partner wirklich nicht leicht damit umzugehen.
Danke für dein Lob.
LG, Erna

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