2.Kapitel
Der Drache und sein Begleiter waren fort und Charlie, der kleine süße Charlie, schaute endlich von seinem verschlungenen Leckerbissen, der Katze, hoch und sah ihm lange hinterher. Dann sprang er auf und hüpfte von Dach zu Dach, von Fenster zu Fenster.
"Wir erleben ein Abenteuer, wir erleben ein Abenteuer! Ist das nicht cool?", rief er und sah sah mich erwartungsvoll an.
"Wir sind Bestien", erklärte ich ihm kalt. " Das meinte er nicht ernst. Menschen mögen uns nicht, Charlie. So viel sollte auch in deinen kleinen Schädel passen."
"Aber er ist doch kein Mensch. Er hat gesagt, er ist keiner! Ich habe genau gehört, wie er gesagt hat, ICH BIN KEINER. Oder? Oder, Abbie?"
Ich hatte seine Fragen satt. Ich sprang zum nächsten Dach und ließ mich eine Dachrinne nach unten gleiten, auf der Suche nach Mensch. Sofort vernahm ich eine frische Spur. Ein Mensch, der gerade erst hier entlanggegangen war und offenbar Angst gehabt hatte. Ich konnte diesen Angstgeruch deutlich vernehmen. Ein süßlicher, ängstlicher Geruch nach Schweiß. Ich folgte dem Geruch. Sah die nach unten gezogenen Schultern, die von einem Beben geschüttelt wurden. Der schöne, kalte Angstschweiß. Das frische Fleisch. Ich schlich mich an, kam näher und näher, setzte zum Sprung an und . . . scheiterte, als ich von Charlie hinter mir erschreckt wurde, der kopfüber von einem Fenstersims hing, wie eine Fledermaus, und mir eine Frage stellte. "Wir kommen doch mit, oder? Zu seinem Abenteuer?"
Das Mädchen, das ungefähr so alt war wie ich, drehte sich zu uns um und starrte uns aus ihren rätselhaften, tiefgrauen Augen hindurch an. Tränen liefen ihr übers Gesicht und sie schluchzte. Ich spannte mich an, bereitete meinen Sprung vor. Das Fleisch war so nah. Das Fleisch war so köstlich.
"Was ist denn?" Charlie riss mich aus meiner Starrungslosigkeit vor dem Sprung und ich wandte mich ab. Er sollte das nicht sehen. Erst dann fiel mir auf, dass er zu dem Mädchen sprach. Sie machte mir Angst. Ihre Augen waren intensiv, durchbohrten die meinen so lange, bis ich mich von ihnen abwandte und davonlief. Einfach davonlief. Vor meinem Opfer. Fauchend, weil mir das Fleisch entgangen war und ein dummer, einfältiger Mensch mich in die Flucht geschlagen hatte. Charlie rannte hinter mir her und stellte mir seine üblichen nervigen Fragen wie "Wer war das?" und "Wieso hast du sie nicht gefressen?" Ich schwieg, während ich rannte und die Sonne langsam aufging, mit roter, gelber und oranger Farbe den Himmel bemalte. Erst einige Bestienschritte später fiel auch Charlie auf, der mir wie immer gefolgt war, dass wir in Richtung Wallstreet liefen.
"Ist das dein Ernst? Wir machen echt mit? Yes", freute er sich und den Rest des Weges veranstaltete er solch einen Lärm, dass wir vermutlich weit und breit zu hören waren.
"Halt die Klappe, Charlie", murmelte ich mürrisch. Ich wusste selbst nicht, warum ich ausgerechnet bei diesem sogenannten Abenteuer dabei sein wollte. Ich war eine Bestie. Bestien waren nie die Helden einer Geschichte, hatten nie die Chance ein Abenteuer zu erleben, also warum hatte er ausgerechnet uns ausgewählt?
Wir kamen an. Nun hatte die Sonne endgültig den Horizont überschritten. Aber weder der Drache, noch der junge Reiter waren zu sehen. Irgendwo weit hinter uns hörte ich Geschrei. Ich wirbelte herum und sah den Jungen mit einem Langschwert in der Hand, umzingelt von Bestien, die ihn anfauchten und angriffen. Er kämpfte mit mehreren gleichzeitig, schlug dort einer Bestie den Arm ab, dort ein Bein. Es war nicht schwer zu übersehen, dass er dringend Hilfe benötigte. Ich schaute besorgt auf Charlie hinab, doch der hatte den Geruch nach Katze gewittert und war irgendwo davongelaufen, um sich seine Beute zu schnappen.
Schnell lief ich dem Drachenreiter zur Hilfe. Ich wusste, dass ich eine miese Verräterin war, als ich mich neben den Jungen stellte und eine kampfbereite Stellung einnahm, doch ich wusste selbst nicht, wieso ich das tat. Vielleicht verabscheute ich es einfach, dass sie ihn angriffen, obwohl er anders war. Obwohl sie ganz genau fühlten, dass er kein Mensch war. Obwohl sie eine andere Wahl hatten. Für uns Bestien war nichts als Menschenfleisch schmackhaft, für manche wie Charlie vielleicht noch Katze. Aber diese hier wollten den Drachenbesteiger aus Spaß töten.
Er, der Drachenreiter, warf mir einen überraschten Blick zu, als ich eine Bestie am Kragen packte und weit davonschleuderte. Bestien hatten übermenschliche Kräfte; selbst andere Bestien waren für sie kein Hindernis. Der Junge und ich waren ein gutes Team; fast wie abgesprochen stellten wir uns Rücken an Rücken, beschützten den anderen gegenseitig und kamen zur Hilfe, wenn der andere Hilfe benötigte. So kam es, dass am Ende nur noch ungefähr drei übrig geblieben waren. Den ersten übernahm der Junge; er täuschte von links an und stieß blitzschnell von rechts zu, als die sich von links verteidigte. Die Bestie sank auf die Knie und starb. Ich wetzte meine Krallen an dem Gesicht der einen Bestie, als ich plötzlich spürte wie die letzte Bestie mir von hinten den Rücken aufschlitzte. Es wenigstens versuchte, als sie plötzlich von dem Jungen aufgehalten wurde, der ihr das Schwert in den Rücken rammte.
"Vorsicht", flüsterte er mir leise ins Ohr. Die letzte Bestie brauchte kein weitere Aufforderung mehr; sie rannte selbst davon.
Der Boden war blutverschmiert, in meinen Haaren hing Blut, unter meine Nägeln (ich hatte meine Krallen wieder eingefahren) war ein roter Rand von Blut. Deagan nickte mir freundlich zu. Als wäre gerade gar nichts passiert, sagte er: "War schön, dich kennenzulernen. Ich bin Deagan." Er streckte eine Hand aus und half mir hoch. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich am Boden gelegen hatte. Im Gegensatz zu mir sah er so atemberaubend hübsch aus, mit seinem schwarzem Haar, seinen schönen dunklen Augen und seiner kräftigen Gestalt.
Schweigen lag zwischen uns, als wir unds gegenseitig begautachtetten, einer den anderen.
"Danke", sagten wir wie aus einem Mund, völlig gleichzeitig. In diesem Moment war auch schon ein Brüllen zu hören und eine riesige, dunkle Wolke surrte über unsere Köpfe hinweg. Charlie saß auf ihr.
"Dein Drache", stellte ich trocken fest. Verlegen strich ich mir Strähnen meines Haars, die mir vereinzelt ins Gesicht hingen, hinters Ohr.
"Bob. Sein Name ist Bob", sagte Deagan bestimmt. Er pfiff und der Drache sank auf den Boden.
"Ich fliege, Abbie, ich fliege! Ist das nicht irre?", rief mir Charlie jauchzend zu.
Deagan half mir charmant hinauf, doch ich brauchte ihn nicht. Die schuppige kühle Haut des Drachen fühlte sich an wie die kühlen Dächer Londons, die mein Zuhause gewesen waren, das ich jetzt vielleicht für immer verlassen würde. Auch Deagan sprang hinauf und setzte sich vor uns auf eine Art Sattel; mir hielt er den "Beifahrersitz" frei, ein weiterer Sattel, der neben dem seinen befestigt war.
"Im Namen der Neun Welten, lasst uns fliegen!", rief Deagan aus und klopfte den Drachen am Hals. Der erhob sich, schlug mit seinen Flügeln kräftiger und kräftiger und stieg auf, auf in Richtung Freiheit.