Eine traumhafte Schlittenfahrt
Lautlos, in großen, dicken Flocken fiel am Hl. Abend der Schnee vom Himmel und legte eine weiche, weiße Decke über das Land. Auf den Bäumen, Autodächern und Zaunpfählen bildeten sich hohe Mützen. Das Dorf schien sich für das Christfest vorzubereiten. Durch viele Fenster sah man bereits geschmückte Weihnachtsbäume, während da und dort einige Menschen mit den allerletzten Päckchen in ihre Häuser eilten. Aus den geöffneten Türen strömte unverkennbar der Duft süßer Weihnachtsbäckerei.
Auch Evas GroßmuAtter war mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt. Es sollte ein besonders schöner Weihnachtsabend werden, einer, der Klein-Eva für ein paar Stunden den Tod ihrer Eltern vergessen lassen sollte. Ihrer Eltern, die im vergangenen Sommer bei einem Seilbahnunglück ums Leben gekommen waren.
Der alten Frau war schwer ums Herz. Traurig trat sie ans Fenster.
Wie ein Astronaut stapfte ihre Enkelin im blauen Overall durch den Schnee. Die blonden Locken quollen unter der Strickmütze hervor und ließen das vierjährige Mädchen wie einen kleinen Engel aussehen. Emsig rollte es eine Schneekugel durch den Garten. Die Kugel wuchs und wuchs. Bald konnte sie Eva nicht mehr weiter bewegen. Sie überlegte kurz, holte eine Schaufel und begann, Schnee auf die Kugel zu häufen. Immer mehr Schnee. Oma öffnete das Fenster.
„Was machst du denn da, mein kleiner Engel?“
„Omilein, ich baue einen Berg aus Schnee. Hoch! Noch höher und noch höher. So hoch, dass ich hinaufsteigen und zu Mama gehen kann.“
Die Großmutter durchzuckte ein heftiger Schmerz und sie griff nach ihrem Herzen. Heiße Tränen schossen in ihre Augen.
„Na ja“, rief sie mit gepresster Stimme, „So schnell wirst du damit nicht fertig werden. In einer Stunde schon soll das Christkind kommen. Schaufle halt noch ein wenig, aber dann komm herein. Du musst dich ja für das Christkind noch schön machen.“
„Ja, Omi, nur noch ein kleines bisschen.“, lachte das Mädchen und schaufelte emsig weiter.
Da öffnete sich eine dicke Wolke direkt über dem Kind.
Strahlendes Licht fiel in den Garten. Eva hielt schützend ihre Hände über die Augen.
Was war das?
Staunen ergriff das kleine Mädchen und eine ungeahnte Glückseligkeit erfüllte es.
Verzückt lauschte es dem silberhellen Läuten unzähliger Glöckchen.
Zwei weiße Rentiere waren vor einen Schlitten aus purem Gold gespannt. Sachte und leise wie die Schneeflocken schwebte das Gespann vom Himmel nieder und landete direkt vor Evas Füßen.
Und da! Das Christkind war gekommen! Strahlender und schöner als in allen Bilderbüchern, als auf allen Weihnachtskarten. Seine Haare funkelten wie feinstes Silber und fielen locker über das weiße Seidenkleid und die silbernen Flügel.
Eva konnte ihren Blick nicht von dieser wunderbaren Erscheinung wenden. Gebannt starrte sie in das liebliche Gesicht . Und als das strahlende Lächeln des Christkinds in Evas Seele drang, fühlte sie sich geborgen und in so viel Liebe gehüllt, dass ihr ganz warm und wohlig ums Herz wurde.
„Schau“, sagte das Christkind mit der süßesten Stimme, die Eva je gehört hatte, „schau, wen ich dir da mitgebracht habe!“
Eva sah auf die Frau, die nun aus dem Schlitten stieg.
„Mama!“, rief sie und lief auf sie zu. „Mama, ich wollte dich heute besuchen. Ich habe begonnen, einen Berg aus Schnee zu bauen ... “
„Ich weiß, mein süßer Schatz, ich weiß .... ich weiß alles, denn ich bin immer bei dir.“
„Du bist immer bei mir? Warum sehe ich dich dann nie?“
„Ich werde dir alles erklären. – Nun aber steig ein. Wir wollen eine Schlittenfahrt machen – das ist mein Weihnachtsgeschenk an dich – eine Schlittenfahrt mit dem Christkind!“
Lächelnd hob sie Evchen auf den goldenen Schlitten, setzte sie zwischen sich und das Christkind .... und los ging die märchenhafte Reise.
Hoch und höher stieg das weihnachtliche Gefährt. Direkt in die Wolken und in den Himmel hinauf. Die Wolken leuchteten strahlend weiß. Sie sahen aus wie locker hingeworfene Wattebällchen.
Das Rentiergespann steuerte der größten entgegen. Dort saß der Weihnachtsmann in einem Schaukelstuhl und kontrollierte, ob alles seine Richtigkeit hatte. Er verglich die Briefe der Kinder mit den fertigen Päckchen. Dann übergab er sie den Englein, die sie mit vor Eifer glühenden Wangen in Empfang nahmen und auf verschiedene Schlitten verstauten.
„Nehmt ihr auch gleich welche mit?“, fragte der Weihnachtsmann und blinzelte das Christkind freundlich durch seine dicken Brillengläser an.
„Nein“, sagte das Christkind, „ich komme später noch einmal vorbei. Jetzt habe ich einen lieben Gast auf meinem Schlitten, der wieder nach Hause zu seiner Oma muss.“
„So, so“, brummte der Weihnachtsmann, „Na, dann gute Fahrt .. und liebe Grüße auf die Erde!“
Eva staunte. Sie konnte sich an den pausbäckigen Englein nicht satt sehen. Wie lieb sie waren! Und wie freundlich sie ihr zulächelten!
Doch die Reise ging weiter. Jetzt kamen sie gerade an einer winzigen Wolke vorbei, der Wolke zweiunddreißig. Einige Männer saßen auf ihr und spielten Karten.
„Schau“, flüsterte Mama, dort sitzen Papa und Opa.“ Papa sprang auf.
„Mein Evchen!“, rief er und kam zum Schlitten gelaufen. „Da staunst du, was?
Wir haben deinen Schneeberg gesehen, auf dem du zu uns kommen wolltest. Da gab deine Mama keine Ruhe mehr, bis ihr das Christkind diese Schlittenfahrt erlaubte.“ Er nahm sein Kind liebevoll in die Arme und strich über sein Lockenköpfchen.
„Es ist wunderschön, dass wir uns heute sehen dürfen. Doch du musst mir versprechen, nie wieder traurig zu sein, weil wir nicht mehr auf Erden weilen – wir sind dennoch immer bei dir. Versprich mir das, meine Kleine. Mach´ es gut und pass auf dich und Oma auf - und frohe Weihnachten!“
Damit machte er kehrt und gesellte sich wieder zu den Karten spielenden Männern. Einer von ihnen – das war sicher Opa – winkte dem Mädchen zu.
„Haben alle gehört von deinem Besuch, ist eine nette Sache. Wenn du wieder heim kommst, lass mir die Oma schön grüßen!“ – Und er winkte, genau wie Papa, solange er Eva im dahineilenden Schlitten noch sehen konnte.
„Siehst du“, wandte sich die Mutter an das erstaunte Kind, „ siehst du, wie schön wir hier mit den Verstorbenen und den Englein zusammen leben. Und trotzdem sind wir immer noch bei euch.“
„Bei mir auch, Mama?“
„Ja, mein Kind! Ich bin als Seele, als dein Schutzengel stets um dich. Ich weiß alles, kenne alle deine Sorgen und Nöte. Du musst nicht traurig sein, weil du mich nicht sehen kannst.
Du kannst mich jedoch fühlen, kannst meine Nähe spüren. Du kannst mit mir sprechen, mir alles erzählen – ich werde dich immer und überall beschützen. Ich bin immer bei dir – vergiss das, bitte, nie. Du musst lernen, meine Gegenwart mit dem Herzen zu spüren.“
Sie griff nach einer vorbei tanzenden Schneeflocke und reichte sie ihrem Kinde.
„Sie soll dir helfen, meine Gegenwart und meine Liebe zu fühlen – sie möge dich als dein Glücksbringer durch das Leben begleiten.“
Behutsam landete der Rentierschlitten wieder vor der großen Schneekugel im Garten.
„Frohe Weihnachten!“, riefen Mama und das Christkind – und schon waren sie Evas Augen entschwunden.
Das kleine Mädchen setzte sich benommen vor seinen Schneeberg.
Hatte es das alles wirklich erlebt oder war es vielleicht nur ein schöner Traum gewesen?
„Bist ein bisserl eingeschlafen?“, lächelte Oma, als sie das Mädchen neben dem Schneehaufen fand, „hast dich beim Rollen der großen Kugel wohl zu viel geplagt?“
Doch Eva wusste, es war kein Traum gewesen. Sie hatte dieses Weihnachtswunder tatsächlich erlebt.
„Ein frohes Weihnachtsfest!“, flüsterte sie und sah glücklich lächelnd auf die glitzernde, bizarre Schneeflocke in ihrer Hand. Sie wusste, ihre Mama war bei ihr.
Glücklich umarmte sie ihre Oma.
Diese konnte den Blick nicht von Evas Augen wenden, denn sie leuchteten heller und strahlender als die vielen Kerzen am Christbaum.
( C ) I. H.