Beschreibung
Nachdem der Livoniter Deagan nun mit seinem Drachen aufgebrochen ist, um den Auserwählten auf der Erde zu finden, kämpft die Bestie Abbigail um ihr Überleben auf den Straßen Londons. Sie ist eine Bestie, so etwas wie ein Vampir, eine von tausenden auf der Menschnewelt, und verlässt sich auf ihren Instinkt, das Jagen und Töten, bis sie unversehens auf Deagan trifft.
Bild: © ElisabethBlack
Ich sprang. Flog über die schmutzigen Dächer Londons hinweg, flog höher und höher, dem Himmel entgegen. Die Welt um mich herum schien nur noch aus Schemen zu bestehen; dunkle Schatten, die keinerlei Bedeutung mehr für mich hatten. Und obwohl ich es liebte, einen Moment, einen kurzen Moment nur, frei sein zu können, war ich es nicht.
Ich landete aufrecht auf beiden Füßen, schlitterte das Dach entlang, bis ich kurz vor dem Rand zum Stehen kam. Ich schaute nach unten in die lähmende Tiefe und bereute es sofort wieder. Zwar war ich es gewohnt, von Dach zu Dach zu springen und nie runterzufallen, trotzdem erinnerte ich mich noch daran, als ich noch jung und neu bei den Bestien gewesen war und die Großen nachgeahmt hatte. Ich war tief gefallen und ich hätte mir das Genick gebrochen, wären meine Kräfte nicht in Kraft getreten; die Kräfte, die mich stark und unverwundbar machen; die Kräfte, die meinen natürlichen Jagdinstinkt an die Oberfläche kommen ließen; die Kräfte, die mich zu einer Bestie machten.
Ich schnupperte mit der Nase und stieß auf eine neue Geruchsspur. Eine Geruchsspur, die mir fremd war, die ich noch nie in meinem gesamten Lebn als Bestie vernommen hatte. Doch kaum hatte ich sie gerochen, war sie wieder verschwunden. Es war im Verlaufe der Nacht immer wieder passiert, dass ich etwas Neues, Unbekanntes vernommen hatte. Heute Nacht war etwas anders, das spürte ich, doch ich kam einfach nicht drauf, was. Dann roch ich Mensch und mein gesamtes Gehirn, mein ganzes Denkvermögen hatte nur noch einen einzigen Gedanken.
Fleisch.
Der betrunkene Mann roch schrecklich und schmeckte ebenso. Es war kein schöner Anblick, als ich hinterher alles wieder ausspuckte, weil ich den Alkohol nicht vertragen konnte. Aber das war eben das Leben einer Bestie - Fressen oder verhungern. Das Motto. Wahrzeichen von uns, den freundlichen, stets hungrigen und skrupellosen Bestien, die keinerlei Sinn für Humor hatten, wenn es darum ging, sich das Essen zu teilen. Auch wenn wir alle einmal Menschen gewesen waren, gab es nichts mehr, das uns Appetit bereitete, außer vielleicht Fleisch. Es war schrecklich, jagen zu müssen, töten zu müssen, doch wie schon gesagt; es war unser Leben. Ich hatte mich schon lange damit abgefunden; seit meiner Verwandlung dachte ich nicht mehr viel nach, könnte man sagen; es war allgemein bekannt, dass Bestien nicht besonders helle waren (auch wenn wir unter den Menschen als Vampire bekannt waren). Doch in dieser Nacht fand ich mich nicht damit ab. In dieser Nacht überlegte ich, wie es wäre wegzufliegen, zum Mond vielleicht, einfach davon, fort von diesen dunklen Straßen Londons.
Als ich hinüber auf das nächste Dach sprang, hörte ich ein unsicheres Quieken hinter mir. Noch in der Luft wirbelte ich herum und machte einen Rückwwärtssalto, als ich auf dem Dach ankam. Gerade noch rechtzeitig fing ich den kleinen Knirps Charlie, eine furchtbar nervtötende Bestie, auf und zog ihn hoch.
" Wow, das will ich auch können! ", rief er begeistert aus. " Bringst du mir das bei-hei? "
" Noch so eine nervtötende Frage, die du dir übrigens selbst mit Nein beantworten kannst, und ich reiß dir den Kopf ab. " Bei uns Bestien hieß das so viel wie: Ich hab dich lieb, Schatz.
" Ach manno! Gehen wir zusammen Katzen jagen? " Jetzt wäre eigentlich der Part gewesen, bei dem ich ihm hätte den Kopf abreißen sollen, doch stattdessen wandte ich nur mein Gesicht von ihm ab, in das Dunkel der Nacht, damit mein Gesichtsausdruck für ihn verborgen blieb. Charlie fraß keine Menschen, er stillte seinen Hunger durch Katzen. Katzen. Das tat er schon seit ich ihn kannte; vielleicht gerade einmal drei Monate, als er verwandelt worden war, und seitdem lief er mir hinterher und ahmte mir alles nach, bedrängte mich mit Fragen und ging mit mir auf Katzenjagd. Menschen verabscheute er, so behauptete er jedenfalls, doch ich glaube, er brachte es bloß nicht über sich; er war doch erst acht. Es war trotzdem bewundernswert, dass er lieber schmutzige, streunernde Katzen aß, als saftiges, frisches Menschenfleisch.
Er plapperte munter weiter, während ich schon wieder meine Gedanken auf die Jagd konzentrierte. " Und da war eine Katze, die meinte Miau zu mir, als ich sie angegriffen hab, und ich da so zu ihr: Ich kann dich verstehen, ich bin doch eine Bestie und kann katzisch und die dann so: Schade, bei den Menschen klappt das immer. " Er lachte eine Weile über seinen komischen Witz, bis er bemerkte, dass ich gar nicht mitlachte, sondern angestrengt in eine Richtung schaute.
" Abbie? "
Ich winkte ihn zu mir, leise, ohne ein Geräusch zu machen. Er kam lautlos und wie auf leisen Pfoten zu mir und ich zeigte stumm über etwas Hängendes hoch am Himmel. Wir hatten gedacht, es wäre nur eine große, graue Wolke gewesen, die da den Himmel bedeckte, doch es war etwas anderes. Etwas gewaltiges. Riesengroßes, das Pranken hatte, etwas das aussah, wie ein Drache. Ein junger Mann saß auf ihn und steuerte uns an, als er sie sah. Der Drache brüllte und schlug so heftig mit den Flügeln, dass ich mich fragte, wieso noch nicht die Leute aus den Häusern gekommen waren. Der Mann sprang hinab und machte einen Salto, als er auf dem Dach vor ihnen landete. Er war eine Bestie, Menschen konnten das nicht, da war ich mir sicher, und es war höchste Zeit zu verschwinden. Ich wollte Charlie gerade ein Zeichen geben, als der Mann lächelnd einen Fleischklotz herausholte, der eindeutig nach Katze roch.
" Komm hierher, Kleiner, komm hierher. Leckerli! " Charlie schaute schuldbewusst zu mir hoch, drehte dann den Kopf zu dem Leckerli und entschied sich dafür, während er es mit gierigen Bissen verschlang.
" Brav ... ", sagte der junge Mann schmunzelnd, sah mich aber dabei an.
" Ich suche etwas. Wenn ihr mithelfen wollt, kommt bei Morgengrauen zu der Wallstreet. Ihr werdet mich finden, es ist nicht gerade schwer. " Er schaute breit grinsend zu seinem Drachen herauf.
" Wieso will ich dich nicht fressen? Wärst du eien Bestie, würdest du das Fleisch nicht freiwillig hergeben und wärest du ein Mensch, würde ich dich riechen. " Ich legte den Kopf schief, versuchte zu erraten, was genau er war.
" Ganz einfach: Ich bin keiner. " Er pfipp, das Untier brüllte, sank auf seine Höhe und er setzte sich auf den Sattel des Ungeheuers.
Charlie schaute kurz auf, winkte ihm zu, und versank dann wieder, um das Fleisch zu verschlingen. Ich sah dem Fremden neugierig hinterher.