Das Christkindlpaket
Wieder einmal steht das Weihnachtsfest vor der Tür. Und wieder einmal denke ich zurück an das Weihnachten meiner Kindheit. Auf dem Bauernhof in dem kleinen niederbayerischen Dorf mit gerade mal 70 Einwohnern. Ich hatte eine Großfamilie um mich herum, in der ich mich geborgen fühlte. Alles hatte seine Ordnung und alles war irgendwie
vorhersehbar. So wie die Ankunft eines großen Pakets, jedes Jahr genau zehn Tage vor Weihnachten.
Aber alles der Reihe nach. Erst einmal kam Otto, der einarmige Postbote, der jahrein, jahraus – auch im tiefsten Winter - mit einem Fahrrad von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus fuhr und die Zeitung, Briefe und Postkarten zustellte. Otto brachte also jedes Jahr Mitte Dezember eine Paketabholkarte und bekam dafür meist ein paar schmalzgebackene Kücheln von der Oma. Und Mama zwinkerte Papa ganz schelmisch zu und sagte:
„Das Paket vom Christkindl ist da. Sei
so gut und fahr` schnell zur Post. Sonst holen es die Engel wieder ab und bringen es zu einer anderen Familie.“ Als kleines Kind saß ich mit offenem Mund dabei und fand das alles schrecklich aufregend und geheimnisvoll.
Am nächsten Tag fuhr Papa dann mit seinem Traktor in die Stadt und als er wiederkam, hatte er – mit Seilen am Beifahrersitz festgeschnürt – das in dickem braunen Packpapier eingewickelte Paket vom Christkindl dabei. Er stellte es ab in einer Ecke in unserer Flez, so nannte man den gepflasterten Eingangsbereich eines Bauernhauses. Ja, da blieb es nun
stehen, bis es von meiner Mutter einen Tag vor Heiligabend in das Christbaumzimmer gebracht wurde. Ich saß oft stundenlang auf einem kleinen Schemel daneben und bewachte es. Das war auch notwendig, denn meine Brüder, die Zwillinge, hatten einmal mit einem Taschenmesser ein Loch hinein gebohrt. Da war das Christkindl dann so verärgert gewesen, dass es das Paket wieder abgeholt hat. Aber das ist eine andere Geschichte.
Am Heiligabend gab es immer für jeden einen Teller mit vielen Süßigkeiten und vor allem praktische Geschenke. Ein neuer Pullover, Hausschuhe, von der
Oma gestrickte Mützen und Socken. Na ja, die Freude hielt sich in Grenzen. Aber dann - ganz am Schluss - wurde das Christkindlpaket aufgemacht. Und hervor kamen die schönsten Sachen, die sich ein Kinderherz erträumen kann. Märchenbücher, Baukästen, Spielautos und -figuren für meine Brüder, Puppen, die dazugehörigen Kleider und sogar einmal eine Puppenküche mit Einrichtung und Geschirr für mich.
„Seht ihr“, sagte meine Mutter „ man muss das ganze Jahr über schön brav und folgsam sein, dann schickt das Christkindl solche Pakete“.
Ich fand, dass das Christkindl entweder sehr großzügig oder vielleicht doch nicht
so allwissend war, denn ich war ja eigentlich gar nicht so brav und folgsam gewesen.
Ich habe die Christkindlpaketgeschichte geglaubt, bis ich etwa acht oder neun Jahre alt war. Wieder war Heiligabend. Mutter hatte die Geschenke aus dem Paket hervorgeholt und plötzlich hielt sie einen Brief in der Hand. Sie las ihn und fing zu weinen an.
Dann sagte sie zu Oma: „Sie ist gestorben.“
Wie, dachte ich mir, wer war gestorben?
Eine Fee, eines der Engerl oder etwa das Christkindl selbst?
O wie schrecklich! Mir kamen nun auch
die Tränen und ich schluchzte herzerweichend.
„Nein“, versuchte meine Oma zu beschwichtigen "nicht das Christkindl ist gestorben, die Tante Erna ist tot. Und nun ist der Onkel Karl ganz allein, der arme.“
Und wieder schluchzte sie in ihr Taschentuch.
Und dann erzählte Mama, dass Onkel Karl und Tante Erna im Krieg auf unserem Bauernhof einquartiert gewesen waren. Und die beiden hätten sich dann später in der Nähe von München sesshaft gemacht und weil der Onkel Karl ein ganz gescheiter Mann gewesen wäre, bekam er eine sehr gute Stellung in
einem großen Unternehmen. Dadurch ist er dann zu Wohlstand gekommen. Seine Wohltäter während der Kriegszeit hatte er aber nie vergessen und versprochen, so lange er lebe, würde er an sie Pakete schicken.
So, jetzt war es raus. Es gab kein Christkindl. Das Christkindl war dieser Onkel Karl gewesen!.
Onkel Karl schickte auch im nächsten Jahr ein Paket. Aber nun waren keine Spielsachen mehr darin. Hervor kamen nur noch Bücher. Bücher und nochmals Bücher! Er schrieb, dass Tante Erna immer die Spielsachen ausgesucht hatte.
Er würde sich in diesem Bereich gar nicht auskennen. Und deshalb würde er nun immer Bücher schicken. Und außerdem lese er selber sehr gerne und diese Leidenschaft wolle er weitergeben.
Onkel Karl hatte sich auf die Werke von zwei Autoren festgelegt. Karl May für meine Brüder und Astrid Lindgren für mich.
Wir Kinder waren erst einmal enttäuscht, dass nun keine Spielsachen mehr kamen. Besonders meine Brüder. Die hatten mit Stillsitzen und Lesen überhaupt nichts am Hut. Aber ich fing an, mich mit den Büchern anzufreunden. Durch eine Behinderung in meiner Bewegung
eingeschränkt, saß oder lag ich tagelang auf dem Sofa in der guten Stube und las und las. Ich tauchte ein in die wunderbare Welt der frechen Pippi Langstrumpf, mit Lasse und Bosse erlebte ich Abenteuer in Bullerbü und mit Familie Melcherson fuhr ich nach Saltokran und machte mit Malin, Pelle und Stina die Insel unsicher.
Irgendwann traute ich mich dann auch an die Karl May Bücher heran. Wenn ich mich recht erinnere, war mein erstes Reiseziel "Das wilde Kurdistan". Oder war es "Durch die Wüste"? Ich weiß noch, ich habe mich entsetzlich vor dem hintertriebenen Schut und dem gefährlichen Scheitan gefürchtet. So
sehr, dass ich schreckliche Albträume bekam. Aber Kara Ben Nemsi hatte mich, genauso wie den witzigen Hadschi Halef Omar, in sein Herz geschlossen und beschützte mich.
Jedes Jahr zu Weihnachten kam zuverlässiger Büchernachschub von Onkel Karl und nachdem ich ihm mal einen Dankesbrief geschrieben hatte, schickte er - ganz erfreut hierüber - von da an auch zu Ostern ein Paket. Und ich las und las. Irgendwann machten sich dann meine Eltern Sorgen, weil ich zu blass wäre von dem vielen Lesen in der Stube. Aber es war ihnen klar, dass sie mir das nicht verbieten konnten. Da
baute Vater für mich im Garten ein Sommerhäuschen.
Mein Lesehaus.
Irgendwann - ich glaube, ich war so um die fünfzehn Jahre alt, kam von Onkel Karl zum letzten Mal ein Paket. Vier oder fünf Karl May-Bände und zwei Bücher von Astrid Lindgren, die bis heute einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal und in meinem Herzen haben. Mio, mein Mio und die Brüder Löwenherz.
Onkel Karl war gestorben. Und ich hätte ihn so gerne einmal persönlich kennengelernt. Ich bin mir sicher, dass er mit seinen Büchern einen nicht zu
unterschätzenden Anteil an meiner Entwicklung und meinem Denken hat.
Mit den Büchern von Astrid Lindgren und Karl May habe ich gelernt, dass am Ende doch immer alles gut ausgeht. Ja, und ich bin genau so selbstbewusst wie Pippi und mit solchen Kerlen wie dem Schut nehme ich es allemal auf.