Einleitung
Bevor ich den Jahresrückblick startete, sah ich in die Runde. Ja, bisher hatte alles wunderbar geklappt, die Leute sahen zufrieden aus.
Zufrieden? Reichte mir das?
Nein, das reichte mir nicht.
Irgendwie fehlte etwas.
Ich wusste nicht was.
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Die perfekte Weihnachtsfeier
„Was, ins Alten- und Pflegeheim?“, entfuhr es mir, als meine Kollegin Mitte Oktober berichtete, dass sie nun endlich für die Weihnachtsfeier unserer Selbsthilfegruppe ein neues Domizil gefunden hätte.
„Geht nicht anders“, versicherte sie „alle anderen Lokalitäten sind ungeeignet, weil nicht barrierefrei. Und dort haben sie einen tollen Festsaal, den wir nutzen dürfen. Alles ebenerdig,
breite Türen, keine Schwellen, eine super Behindertentoilette – optimal für uns.“
Okay, okay, ich sah es ja ein. Es war einfach nur vernünftig, dorthin zu gehen, auch wenn ich - sowie alle anderen Mitglieder unserer Gruppe auch - von Pflege und Heim und ähnlichen Begriffen absolut nichts hören wollte.
Wir stürzten uns in die Vorbereitungen. Einladungen, Catering, Deko, stimmungsvolles Programm. Wie jedes Jahr hatte uns wieder der Ehrgeiz gepackt, die vorhergehenden Veranstaltungen zu toppen.
Die perfekte Weihnachtsfeier - unsere Gruppenmitglieder sollten sie erleben!
Am zweiten Adventssamstag war es dann soweit. Petrus lieferte mit einem weißen Zuckerguss auf Sträucher und Bäume einen stimmungsvollen Rahmen und sorgte mit eisfreien Straßen und Wegen dafür, dass sich unsere Leute ohne Sturzgefahr auf den Weg machen konnten.
Langsam füllte sich der Festsaal, der etwas abseits vom sonstigen Alten- und Pflegeheimbetrieb lag. Auf den Tischen leuchteten goldene Kugeln und Sterne auf frischem Moos und der Schein von dunkelroten Kerzen verbreitete eine heimelige Atmosphäre. Unsere Gruppenmitglieder hatten sich länger
nicht gesehen und so gab es beim gemeinsamen Essen viel zu erzählen.
Wie vorgesehen starteten wir anschließend mit unserem Programm, einem Musikstück mit Gitarre und Akkordeon. Danach ein Gedicht und wieder eine musikalische Einlage.
Bevor ich den Beamer für den Jahresrückblick einschaltete, sah ich in die Runde. Ja, bisher hatte alles ganz wunderbar geklappt, die Leute sahen zufrieden aus.
Zufrieden?
Nur zufrieden, reichte mir das?
Nein, das reichte mir nicht. Irgendwie fehlte etwas. Ich wusste nicht, was das war. Aber es musste noch etwas kommen,
ein weihnachtliches Highlight. Vielleicht sollten wir am Schluss noch einmal ein zu Herzen gehendes Gedicht zum besten geben? Etwas Berührendes, mit ganz viel Gefühl... Aber erst einmal der Rückblick mit den schönen Bildern unserer gemeinsamen Unternehmungen.
Wir waren etwa bei der Hälfte der Folien, da wurde die Tür aufgerissen. Ein älterer, nein - ein sehr alter Mann in Jogginghose und verwaschenem Pullover, unter dem ein karierter Hemdzipfel hervorlugte, kam herein und ging schlurfend durch die Reihen. Vor der Leinwand blieb er stehen, drehte sich schwerfällig um und sah uns an. Er sah
uns an, einen nach dem anderen. Aber sein Blick war ausdruckslos.
"Hallo", sagte ich "wollen sie mit uns die Bilder anschauen?"
Der Mann blieb stumm, aber er setzte sich auf einen freien Stuhl in der ersten Reihe. Es war mucksmäuschenstill im Saal. Jemand stand auf und brachte ihm etwas zu trinken. Er reagierte nicht und starrte nur erwartungsvoll auf die Leinwand. Ich setzte also die Präsentation fort und der alte Mann sah aufmerksam zu.
Kurze Zeit später wurden wir wieder unterbrochen. Ein Pfleger war auf der Suche nach unserem
"Überraschungsgast."
"Entschuldigen sie bitte die Störung", sagte der junge Mann. "Er ist sehr verwirrt und hat schon seit Stunden vor dem Eingang auf Besuch von seinem Sohn gewartet. Da wird es ihm wohl zu kalt geworden sein. Ich nehme ihn wieder mit. Also entschuldigen sie bitte nochmal die Unannehmlichkeiten".
Da ging ein Raunen durch den Saal und plötzlich riefen einige:
"Nein, lassen Sie ihn da. Er stört uns doch nicht."
Der Pfleger überließ den alten Mann unserer Obhut und der fand sichtlich Gefallen an unserer Gesellschaft. Denn ganz allmählich wich die Leere in seinem
Gesicht einem Ausdruck von Freude und Glück. Der Rückblick war nur noch Nebensache.
Ich sah wieder in die Runde. Und nun sah ich nicht nur Zufriedenheit in den Gesichtern, sondern jetzt sah ich, wie berührt und beseelt die Anwesenden
waren.
Und ich wusste, dass es nun keines Highlights mehr bedurfte.
Das Highlight unserer Veranstaltung war die Begegnung mit diesem alten einsamen Mann, der bei uns ein paar glückliche Stunden erlebt hat.
Und wir durften seine Freude spüren und damit das Weihnachtsfeeling, das man weder kaufen noch planen kann.
DAS MUSS MAN GESCHENKT BEKOMMEN.