Schule? Stress zuhause? Auf einmal Stress mit den Jungs? Und auch noch Stress mit sich selbst? Von sweet sixteen ist Melissa entfernt. Zeit für sie, ihren Alltag mit neuem Mut auf sich zunehmen. Anmerkung: Der erste Teil dieser Geschichte ist etwa 10 Jahre alt. Mittlerweile gibt es 13 Kurzgeschichten, die in meinen Augen Seriencharakter annehmen. Die Geschichte ist hauptsächlich Unterhaltung, doch mein Ziel ist, ihr tiefere Bedeutung zu geben. Das bin ich Melissa schuldig :)
Als Melissa die Wohnungstür öffnete, sah sie den Zettel schon von weitem. Gefrustet darüber, dass ihre Mutter schon wieder eine Nachricht darüber hinterlassen hatte, dass sie den Nachmittag über mit ihrem Kollegen Sebastian unterwegs sein würde, warf Melissa den Ranzen unter die Garderobe. Dabei fielen die ganzen schön ordentlich platzierten Schuhe um, bestimmt würde das wieder Ärger mit der Mutter geben, aber das war Melissa mal wieder so egal.
Sie trottete zur Küche und fand eine Pizza mit Oliven im Kühlfach. Melissa hasste Oliven und ihre Mutter genauso, Oliven auf der Pizza gab es erst, seit ihre Mutter mit diesem Sebastian angekommen war. Und das kaum eine Woche nach der Scheidung mit Melissas Vater! Verärgert stieß Melissa mit dem Fuß die Kühlschranktür zu.
Ihr Magen knurrte. Melissa nahm sich einen Apfel aus der Obstschale, biss hinein und verdrückte sich in ihr Zimmer. Sie schob die Zeitschriften der Bravo Girl und der Popcorn von ihrem Korbsessel und kuschelte sich in die Kissen.
Aus Melissas Hosentasche rutschte ihr Handy heraus. Sie ergriff es mit der freien Hand und tippte die Nummer ihrer besten Freundin Olivia. Doch Oli meldete sich nicht. Dabei hätte sie sich jetzt unbedingt mit ihr unterhalten müssen! Ihr Freund Alex hatte sie heute schon wieder versetzt, sie wollten sich zu Melissas Sechzehntem nämlich im Eiscafe Mandarin nach der Mittagsschule treffen. Alex hatte Melissa in den letzten Tagen so oft vergessen, er verteidigte sich immer nur damit, dass er eben wegen der bevorstehenden Prüfung als Kfz-Mechaniker weniger Zeit übrig hatte. Doch heute wurde Melissa sechzehn, wie hatte er das vergessen können?
Jetzt hatte Melissa eine Idee. Vielleicht hatten sich Oli und Alex eine Überraschungsparty für sie ausgedacht? Ja, sicher sogar! Heute und gestern in der großen Pause hatten sie auch die ganze Zeit die Köpfe zusammengesteckt und waren Melissa aus dem Weg gegangen.
Der Gedanke stimmte sie wieder fröhlicher. Sie legte das Telefon beiseite und drückte sich stattdessen die Stöpsel ihres CD-Players ins Ohr. Fetzige Rockmusik schallte in Melissa hinein. Sie freute sich schon darauf, mit den Freunden Oli und Alex heute Abend in das Konzert zu gehen. -U2 live in Frankfurt!
Auf einmal läutete es an der Wohnungstür. Melissa ging nur widerwillig aus dem warmen Kissennest und bewegte sich in den Flur. Sie schaltete die Gegensprechanlage an: „Melissa Baumann, wer ist da?“ Die kratzige und tiefe Stimme des Postboten Herr Dachpinsel meldete sich. Melissa kannte ihn gut, er war ein alter Freund der Familie. „Ach, hallo Pinsel!“ flötete sie. „Komm hoch!“
Melissa stellte sich in den Hausflur und wartete darauf, dass der Briefträger, oder auch Herr Dachpinsel, die Treppen hinaufstieg. Sie lachte bei seinem Anblick. Er sah völlig erschöpft aus, sein Gesicht war ganz rot und die blaue Kappe trug er schief auf dem Kopf, wodurch die grauen Haare deutlich herausragten, sie hingen ihm total wild wie ein Pinsel in die Augen. Daher auch der Name. Seine marineblaue Uniform hatte er sich über den Rücken geworfen und einige Knöpfe seines weißen Hemdes geöffnet.
Schnaufend kam er bei ihr an. „Kannst du in diesem Haus nicht einmal eine Klimaanlage beantragen? Jetzt im Juli wäre das angebracht!“ Er grinste und streckte ihr seine linke Hand entgegen. „Aber erst mal wünsche ich dir alles Gute zum Geburtstag!“
„Danke!“ lächelte Melissa zufrieden. „Was hast du uns denn mitgebracht?“
Er holte drei Umschläge aus seiner Brieftasche heraus. „Einmal für deine Mutter , ein Brief von deinem Vater und haha...! - der rote ist auch für dich. Steht kein Absender drauf, aber den hat mir jemand für dich mitgegeben, der heute vor der Post auf mich gewartet hat.“
Melissa nahm die Umschläge dankbar entgegen. „Von wem ist der rote? Von Alex?“
„Ich kenne deinen Freund nicht persönlich und ich würde es dir auch nicht verraten, wenn er derjenige wäre, aber es war eine mir sehr sympathische Person, mehr sag ich dir nicht.“
„Na gut“, Melissa war ein wenig enttäuscht, aber hielt es zurück. „Willst du vielleicht noch was trinken? Oder ich hätte dir auch noch eine Pizza mit Oliven anzubieten...“
„Oliven? Nein, danke, finde ich scheußlich. Aber ich hätte nichts gegen einen Apfelsaft, wenn’s geht.“
Melissa nickte. „Komm rein, du kannst es dir im Wohnzimmer bequem machen.“
„Gern.“
Pinsel verschwand auf die Couch, während Melissa in der Küche nach einem Glas mit Saft schaute. Sie kam bald zurück. „Tut mir Leid, Pinsel. Der A-Saft ist leider alle, vermutlich war Sebastian schon wieder hier und hat übernachtet. Ich hab dir noch einen Rest Orangensaft eingeschenkt.“
„Macht nichts! Ich hätte auch notfalls Abwasser getrunken.“
Melissa lachte und reichte ihm das Glas. Neben ihm ließ sie sich nieder. „Du Armer tust mir echt Leid, dass du bei 30 Grad im Schatten arbeiten musst!“
Er zuckte mit den Schultern. Das tat er gern. Was sollte er auch dazu sagen, Arbeit ist Arbeit.
„Es sind ja nur noch so vier Stunden bis die Sonne untergeht, dann wird es vom Klima her angenehmer.“ Pinsel kratzte sich an den grauen Haaren. „Sag mal, ist deine Mutter schon wieder nicht da?“
„Ja, sie ist mal wieder mit Sebastian verabredet.“
„Sebastian, he? Wie ist der denn so?“
Melissa verzog die Nase. „Ich finde ihn ekelhaft schleimerisch. Verstehe nicht, dass Mama so auf ihn steht. Der Typ ist absolut langweilig und macht dauernd blöde Witze, die ich schon kenne seit ich fünf bin.“
Pinsel stellte das Glas ab. „Na ja, eine Scheidung ist für die Eltern nicht so leicht wie sie es manchmal vorgeben. Es ist ein großer Schritt, sich vom anderen zu trennen. Und wenn der Partner fehlt, braucht man schnell für etwas Ersatz.“
„Unter Ersatz verstehe ich aber nicht, dass man sich den ersten Idioten angelt, wie meine Mutter.“
„Aber ich glaube es war richtig, dass sich deine Eltern getrennt haben, Melissa. War dir das ewige Streiten nicht auch leid?“
Melissa willigte ein.
„Nun, ich muss wieder weiter, es hilft nichts.“ Pinsel stand auf und ächzte, als er die Brieftasche wieder umgürtete.
Melissa bekam Schuldgefühle, dass der nun schon fast 60 jährige wieder in die Hitze hinaus musste. Sie war zwar erstaunt, wie fit und fröhlich er noch in seinem Alter war, aber sie wusste, dass es für ihn eine Tortur war, jetzt noch Briefe auszutagen. Er hatte diesen Job immer geliebt und er hätte es von seiner Intelligenz noch zu weit mehr bringen können, aber er zog dies nun einmal vor. Doch unter solchen Bedingungen einen alten Mann hinaus auf die Straße zu schicken, war für Melissa unmenschlich.
„Pinsel, was würdest du davon halten, wenn ich dir helfen würde?“
„Ist das dein Ernst? Oh, du bist wirklich ein Schatz, Melissa!“
„Also ein bisschen kann ich dir schon Post austragen. Was soll ich denn auch hier machen, außer Hausaufgaben und Fernsehen?“
Pinsel strich ihr übers Haar. „Aber du kannst dich nicht morgen in der Schule für deine Hausaufgaben dafür entschuldigen, dass du mir geholfen hast, ja? Eine Stunde reicht, dann bist du auch bestimmt müde, weil es auf den Straßen so dämpfig ist.“
„Einverstanden.“
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Ungefähr nach der dritten Wohnsiedlung brach Melissa zusammen. „Pinsel, Hilfe.“
„Na, was habe ich dir gesagt, Mädchen? Unter keinen Umständen wirst du mehr schaffen. Tja, sieht so aus, als müsstest du jetzt das Eis spendieren!“
„Och, Pinsel, ich hab gar kein Geld bei mir!“
Er lachte. „Na, gut. Ich zahle. Ist ja auch dein Geburtstag und ich bin dir sehr dankbar, dass du dich so für mich abgemüht hast. Komm, wir gehen ins Mandarin. Ist doch gleich auf der anderen Straßenseite!“
Müde und verschwitzt betraten sie das Gebäude. Kaum wurden sie von den Gästen im Cafe realisiert, wurde Pinsel sofort von allen Seiten begrüßt. Er flüsterte Melissa später ins Ohr, dass er nur die Hälfte davon wenigstens ein bisschen kannte. Doch Pinsel galt in der Stadt als bunter Hund, der die Leute immer aufmuntern konnte und bei den Briefträgercharts sozusagen Platz Eins besetzte. Melissa war sehr glücklich darüber, dass Pinsel so viele Freunde hatte, sie gönnte es ihm und sie fand ihn auch richtig cool, die Leute seines Alters waren sonst immer so... alt.
Pinsel und Melissa setzten sich an die fast vollbesetzte Bar und ihre Bestellung wurde gleich entgegengenommen. Glücklicherweise bekamen sie Pinsels Eiskaffee und Melissas Früchteeis mit Schokosirup sehr schnell, trotz des großen Andrangs.
„Lass es dir schmecken, Geburtstagskind!“ sagte Pinsel und boxte belustigt mit seinem Glas gegen Melissas Eisschale.
„Werde ich“, bestätigte Melissa. „Weißt du, vorhin, als ich auf Alex ungefähr eine halbe Stunde lang gewartet habe, dachte ich, er würde bestimmt jede Minute durch die Tür kommen und wir könnten dann zusammen...“
Mitten im Satz stockte sie und ließ den Eislöffel fallen. Neben ihr erkannte sie plötzlich den blonden Zopf ihrer besten Freundin, sie hatte sie in der Menge gar nicht erkannt, obwohl sie direkt neben ihr saß!
„Oli!“ rief Melissa begeistert und signalartig wandte sie ihr das Gesicht zu. Aber, wieso sah sie so entsetzt drein? Schlagartig bemerkte Melissa auch die himmelblauen Augen ihres Freundes Alex hinter Oli auftauchen und zu ihrem Entsetzen war er voller rosa Lippenstift auf den Wangen, dem Hals und dem Mund. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass Alex die Verabredung keineswegs vergessen hatte, nur hatte er sich definitiv letztendlich nicht mit ihr hier getroffen.
„Melle! Hör mal, ich...“ begann Alex und stand von seinem Hocker auf.
Melissa gab ein ironisches Lachen zurück. „Also, ich werde irgendwie das Gefühl nicht los, als wärst du jetzt mit dem Pauken für die Prüfung fertig!“
Oli versuchte, Melissa an der Hand zu fassen, doch sie wich zurück. „Melle, du, es tut mir Leid. Alex und ich...wir haben uns hier rein zufällig...“
„Dann darf man euch wohl heute gratulieren, was? Das nenne ich ein schönes Geburtstagsgeschenk! Meine beste Freundin und mein Freund sind ein Paar?! Wisst ihr, ich dachte mir es ist schönes Wetter und die würden für mich bestimmt wieder eine Ãœberraschungsparty organisieren! Na, die Organisation ist euch wohl doch nicht ganz gelungen, aber wisst ihr was? Mit der Ãœberraschung hätte ich wirklich nicht im Geringsten gerechnet!“
Melissa stand auf und drehte den beiden den Rücken zu. „Ja, Pinsel, ich geh dann, will ja niemanden länger stören. Danke fürs Eis!“ Abrupt marschierte sie aus dem Eislokal.
„Melissa!“ hörte sie noch Pinsels Stimme hinter sich. Doch sie spürte, wie der Kloß in ihrem Hals plötzlich nicht weiter aufzuhalten war und jeden Moment ihre Kehle zuschneiden würde, wenn sie jetzt nicht sofort an die frische Luft kam. Ihr Lid füllte sich bereits mit Salzwasser. Schnell quetschte sie sich durch die Menge zum Ausgang hinüber.
Draußen erwischte Alex gerade noch ihren Arm, bevor sie um die Ecke verschwinden konnte. „Melle, warte. Hör zu, ich hab das wirklich nicht gewollt...“
„Lass mich los! Glaubst du, dass ich dir noch einmal ins Gesicht sehen will? Wie konntest du mir das antun?“
„Ich hab es nicht verhindern können, dass ich mich in Oli verknallt habe! Bitte versteh das doch! Wir sind uns echt vorhin zufällig über den Weg gelaufen und haben uns auch erst das eine Mal geküsst!“ Wie beruhigend!
Melissa wand sich aus seinem Griff und drehte sich zu ihm um. Seine Wangen waren gerötet, sein Haar zerzaust, wenn sie sich vorstellte, dass Oli soeben noch darin herumgefummelt hatte, kam in ihr die Wut auf. „Du hast dich in Oli verknallt? Wann denn? Als du mir erzählt hast, dass du für die Prüfungen lernen müsstest? Du hast mich angelogen, versteh erst mal das!“
In dem Moment kam Oli keuchend aus dem Mandarin.
„Ach ja, da kommt ja die hilfsbereite Freundin, meine beste Freundin seit der Grundschule! Na, wie geht’s?“ bemerkte Melissa gehässig. „Ich hoffe ihr amüsiert euch zusammen schön auf dem Konzert heute Abend!“
„Melle...“, begann Oli sich entschuldigend, doch Melissa hieß sie schweigen. Sie wollte nur in Ruhe gelassen werden, sie ließ die beiden stehen und rannte los. Weg, nur weg. Sie rannte ohne zu wissen wohin, sie flitzte die Straßen lang, durch die brennende Hitze, sie sah den Weg nur verschwommen, die Betondämpfe raubten ihr mit einem Mal die Gesinnung, sie spürte, wie ihre Knie einsackten und plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen. Melissa wurde schwindlig, sie fühlte sich so müde und kraftlos, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.
Kopfüber fiel sie einfach nach vorne und wurde abgefangen. Als sie die Umrisse von der Person erkannte, löste sie sich schnell aus dieser missglückten Umarmung. Sie war in die Arme des beliebtesten Jungen des Stufenjahrgangs gelaufen: Matthias Johnson, er hatte eine amerikanischen Vater gehabt. Melissa konnte ihn nicht ausstehen, er war schon immer abscheulich zu ihr gewesen und jetzt stand sie direkt vor ihm und sah ihr wackliges Spiegelbild in Matthias fast schwarzen Augen.
„Oh, bist du dumm, Baumann?!!“ fuhr er sie an und strich sein T-Shirt glatt. „Hast du keine Augen im Kopf? Siehst du denn gar nichts?“
Der hatte mir jetzt gerade noch gefehlt, um den Tag perfekt werden zu lassen. „Halt deine blöde Schnauze, Matze. Geh und kümmere dich besser drum, dass du die Handynummern deiner Billigblondinen richtig einspeicherst!“
„Friss Dreck!“
„Gurgle dein Rasierwasser, voraussichtlich du benutzt welches für deine drei Barthaare!“ Melissa holte Luft, um gleich noch was draufzusetzen, aber auf einmal überkam sie ein stechender Krampf im Magen. Sie musste sich hinsetzen, ihr wurde übel, sie nahm auf der Bordsteinkante Platz.
„Was hast du denn, Baumann? Ist dir schlecht?“ stichelte Matthias sie. „Soll ich Mami Bescheid sagen, dass sie dich abholt?“
Melissa setzte der Schweiß aus. Vor sich sah sie immer wieder das Bild von Alex und Oli, wie sie sich im Cafe küssten und wie sie in letzter Zeit in den Pausen zusammen gesteckt hatten. Sie hatte das Gefühl, als würden ihr die Sonnenstrahlen wie Nadeln in den Kopf stechen.
Matthias stieß ihr belustigt mit dem Schuh in die Seite, sie ächzte auf. „Hör bitte auf!“ brachte sie leise und heiser aus sich heraus, es klang beinahe wie ein Flehen der Mädchen, die sich in der Schule immer an ihn heranmachten. Wie entwürdigend!
Er stutzte und zog den Fuß wieder zurück. Langsam beugte er sich zu Melissa nach vorne und sah ihr ins Gesicht. „Hast du da gerade bitte gesagt?“
„Ja“, sagte Melissa etwas beherrschter und drehte sich von ihm weg. „Verschwinde, lass mich in Ruhe!“
Melissa grub sich mit ihrem dunklen Pferdeschwanz tief in ihre auf die Schenkel aufgestützten Arme, was ihr half, das virtuelle Sonnenfeuer von ihrem Scheitel weniger nachzuempfinden. Sie blieb einen Augenblick in der Lage, doch dann entschloss sie sich, besser nach Hause zu gehen und sich vielleicht zu der Olivenpizza in den Kühlschrank einzuschließen und ihr von diesem abscheulichen Ereignis mit Alex und Oli zu erzählen.
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Es wurde doch nicht der Kühlschrank, aber die Badezimmertür, die sie verriegelte. Melissa brauchte dringend eine kalte Dusche, sie streifte sich das T-Shirt über den Kopf und zog ihre verfranzte Capri –Jeans herunter. Sie stellte sich unter den Brauskopf und drehte voll auf.
Es gelang Melissa jedoch leider nicht, das Bild von ihrem Freund aus den Gedanken wegzuwaschen. Im Gegenteil, all die gemeinsam mit Alex durchlebten Momente kochten wieder in ihr hoch. Partys, romantische Spaziergänge am Hafen, das Sitzen in der Scheune, die Alex’ Großmutter einst gehört hatte...
Zu ihrem Widerwollen stießen Melissa die Tränen in die Augen. Sie fühlte sich so betrogen, sie wünschte sich, dass sie nie sechzehn geworden wäre, dann hätte sie das alles nicht erleben müssen. Fängt denn so die „neue Phase“ an? Sechzehn erschien ihr immer als das Traumalter eines Teenagers, die Zeit, in der das ganze Jammern mal ein Ende hatte und man sich wieder in allem unter Kontrolle haben könnte aber jetzt schien es nach dem Schlimmer noch eine Steigerung zu geben, die ihr bewusst zu werden schien.
Die Scheidung ihrer Eltern war noch nicht lange her, Melissa fehlte ihr Vater, der seit der vergangenen Woche ausgezogen und in Berlin eine neue Wohnung gefunden hatte. Und vor wenigen Tagen eröffnete ihr die Mutter, dass sie einen neuen Freund hatte.
Auch Alex’ Eltern hatten sich vor ein paar Monaten getrennt und Alex war immer derjenige, mit dem Melissa über das alles sprach, sie fühlte sich einfach von ihm verstanden, er hörte ihr zu, wenn die Mutter keine Zeit hatte. Doch jetzt würde er nicht mehr zuhören. Er hatte jetzt Oli.
Melissa streckte ihre Hand aus und schaltete das Wasser aus. Sie musste plötzlich wieder an seine Worte denken: Was kann ich dafür, dass ich mich in Oli verknallt habe?
Nachdenklich trocknete sich Melissa ab. War sie eigentlich in Alex richtig verliebt? Was bedeutete es, in jemanden verliebt zu sein? Bisher hatte sie nie darüber nachgedacht, sie hatte es einfach nur genossen, jemanden um sich zu haben, der von ihren Problemen selbst Ahnung hatte. Jemanden zu kennen, der in der gleichen Hölle hauste wie sie war einfach schön und gab ihr Hoffnung. Und wo war diese Hoffnung jetzt? Erst mal weg.
Melissa ging nur leicht bekleidet aus dem Badezimmer. In der Küche fand sie im Wandregal noch eine Tafel Milkaschokolade, beim Auspacken stellte sie jedoch fest, dass sich darauf eine weiß –grüne Schicht gebildet hatte.
Unbeherrscht warf sie die verschimmelte Milka gegen den ungeöffneten Mülleimer. „Verdammt noch mal!“ schrie Melissa und trat nach der Schokolade, gleich mehrere Male. Sie stieß so heftig dagegen, dass sich auf dem Boden die Stücke einzeln verteilten und noch dazu bald schmolzen, während Melissa nur draufstarrte. Es war einfach überall so knallheiß. Ãœber den Schmutz würde sich die Mutter sehr ärgern, aber das war Melissa egal. Einmal, nur ein einziges Mal wollte sie auch so aufgelegt sein, wie sie sich fühlte. Immer kam die Mutter mit der Scheidung, wenn Melissa ihren Frust auf sie ablud, weil sie kaum noch Zeit mit ihr verbrachte, seit dieser Sebastian aufgetaucht war. Immer musste auf die Erwachsenen Rücksicht genommen werden, aber interessierte sich überhaupt noch irgendwer für sie?
Nachdem Melissa sich etwas beruhigt hatte und mit einem Lappen den Boden aufgewischt hatte, hörte sie Lachen im Hausflur. Sie erkannte die Stimme der Mutter, aber leider auch das verlogene Schleimmaul dieses geangelten Idioten.
Der Schlüssel drehte im Schloss und ihre Mutter kam in Begleitung Sebastians hereingeschwebt. Melissa verzog das Gesicht, als sie ihn sah. Sie schleuderte den Lappen ins Waschbecken und kam aus der Küche zu den beiden, die sich gerade im Wohnzimmer auf dem Sofa niedergelassen hatten. Als man sie wahrnahm stand die Mutter strahlend auf und drückte ihr einen Kuss auf die Backe: „Herzlichen Glückwunsch, Ließchen!“
Auch Sebastian trat näher auf sie zu und wollte sie umarmen, doch Melissa streckte ihm noch rechtzeitig die Hand aus.
„Danke“, sagte sie kurz angebunden. „Ich geh in mein Zimmer.“
„Aber, Maus, wieso denn?“ fragte die Mutter verblüfft. „Wir gehen jetzt zusammen schön ins Restaurant, wie versprochen!“
„Nein danke, ich war schon essen“, Melissa kam das Cafe in den Sinn. Sie drehte sich um und stapfte in Richtung Flur.
„Melissa!“ rief die Mutter mit einem kräftigen Unterton. „Was soll denn das?“
Obwohl Melissa sich große Mühe gab, konnte sie ihr aufgewühltes Inneres nicht länger besänftigen. „Ich hab keinen Bock auf euer komisches Essen, klar? Ich hab genug für heute, schönen Abend noch, ich will meine Ruhe!“ Mit deutlichem Knall schlug sie die Tür zu.
Kaum saß sie in ihrem bequemen Sessel, stürmte die Mutter herein. „Was fällt dir ein dich so aufzuführen? Siehst du nicht, dass Sebastian da ist? Er hat sich solche Mühe gegeben, dir ein schönes Lokal herauszusuchen und es war verdammt schwer, noch drei Plätze zu reservieren!“
Melissa versuchte, sie zu ignorieren. Es gelang ihr aber nicht, den Mund zu halten: „Macht doch was ihr wollt, geht, bleibt über Nacht!“
„Ich wusste, dass du von deinem Vater diese schlechte Erziehung bekommen hast...!“
Wieder rollte Melissa eine Träne aus dem Auge, die sie achtlos wegwischte. „Verschwinde endlich! Ich will dich nicht mehr sehen!“
Empört lief die Mutter aus dem Zimmer und ließ die Tür geräuschvoll ins Schloss fallen.
Nur kurze Zeit später hörte Melissa, wie sie mit Sebastian das Haus verließ. Sie drückte sich enger in die Kissen und schluchzte. Jetzt hatte sie sich auch noch mit ihrer Mutter verkracht. Ging denn heute alles schief?
Melissa wurde plötzlich alles zu viel. Und das ausgerechnet an meinem Geburtstag...! fiel ihr der Spruch aus der Fernsehwerbung Yes ein.
Melissas Magen knurrte heftig. Klar, sie hatte heute ja wieder fast nichts zu sich genommen. Sie raffte sich hoch, sie ging ins Wohnzimmer und erinnerte sich auch unerwartet wieder an die Briefe, die Pinsel vor ein paar Stunden vorbeigebracht hatte.
Halt, da war doch noch der geheimnisvolle rote Umschlag! Und, dabei war sie sich sicher, er war nicht wie gedacht von Alex!
Gespannt eilte sie zur Garderobe und nahm die Briefe an sich, die sie dort bei einer Kommode abgelegt hatte. Sie setzte sich auf den Teppichboden und berührte die Umschläge vorsichtig. Ihr Herz klopfte. Von wem könnte der rote sein? Sie fasste auf den Rücken des Umschlags und zerrte daran.
Ein schrilles Klingeln schreckte sie auf. Das Telefon? Wer rief denn da noch an? Sie legte den Brief aus der Hand und griff nach dem Hörer.
„Melissa Baumann“, meldete sie sich.
„Hi, Melissa, hier ist Irina.”
Irina? Stark, die hatte an sie gedacht?
„Hi, Irina!“
„Wie geht’s?“
Melissas Stimmung hellte sich automatisch auf. „Gut und dir?“
„Mir auch. Hast du nachher noch was vor? So um Acht?“
„Nicht direkt!“
„Heißt das jetzt ja oder nein?“
Melissa lachte. „Ja, ich habe nichts mehr vor“.
„Komm zu mir, wir gehen aus!“
„Cool, wohin denn?“
„Wird noch nicht verraten...aber`s wird toll, ich schwör, da kommst du nicht drauf!“
Melissa grinste. Eine Einladung von Irina bedeutete, dass man sich auf alles gefasst machen musste. Sie, Melissa, war seit einiger Zeit in eine ganz besondere Clique aufgenommen worden, sie gehörte zu drei Mädchen, mit denen Kummer, Leid, Melancholie und Bitterkeit im Nu verflog. Woher weiß Irina, wann sie mich anrufen muss? dachte Melissa verdutzt. Hat sie eine Art Piepser, der ihr sagt, wann ich mal dringend Ablenkung brauche?
„Ich komme um Acht!“ flötete Melissa ins Rohr und legte strahlend auf. Sie hüpfte einmal in die Luft und drehte sich um, klatschte dann in die Hände und drehte sich noch einmal um die Achse. Natürlich musste das leicht bescheuert aussehen, Matthias Johnson hätte bestimmt die besten Sprüche dabei von sich geben können, aber das war Melissa vollkommen egal. Sie war so glücklich, dass sie gleich noch ein bisschen verrückt spielen wollte und sogar daran dachte, Matthias zu fragen, ob er nachher zu ihrem Treffen mit den Mädchen mitkommen wollte. Aber nein, das war ihrer Ansicht nach tabu für Jungen und Außerirdische vom Planeten Matze.
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Pünktlich stand Melissa vor Irinas Wohnungstür. 10 vor Acht.
Prüfend sah sie nochmals an sich herunter. Sie trug ihre ausgefransten, aber sehr stylisch von Motten angeknabberten und etwas zu kurzen Jeansshorts, so wie sie ein sehr dummes Mädchen vom Jahrgang gerne trug, dazu ein dunkelrotes T-Shirt und ihre weißen Leinenschuhe. Um Melissas Hals baumelte ihre Lieblingskette, die mit dem verschnörkelten silbernen Anhänger, der einem M ähnelte, jedenfalls war er so in der Art irgendwie verschnörkelt. Ein Geschenk zu ihrem letzten Geburtstag. Ach, hat Alex da immer viel daran herumgespielt... Melissa schluckte kräftig runter.
Sie betätigte die Klingel und ca. fünf Meter über ihr vernahm sie lautes Reden. Dann wurde es auf einmal wieder still. Sie horchte, aber nichts rührte sich. Melissa klingelte nochmals.
Schwungvoll wurde dann die Tür vor ihr aufgerissen und ihre Freunde Irina, Paula und Silke brausten singend heraus. Bevor Melissa richtig realisierte, was geschah, stürzten sich die Drei auf sie und umarmten sie fest. Jede griff nach ihrer Rechten und gratulierte ihr zum begonnenen 16. Lebensjahr. Melissas Wangen leuchteten vor Freude auf, sie bedankte sich und ging dann mit den anderen die Treppen des Mehrfamilienhauses nach oben.
Irina, Silke und Paula geleiteten Melissa babbelnd ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch hatten die Freunde einen selbstgekauften Kuchen mit brennender Kerze für sie hingestellt. Melissa musste die Kerze sogleich auspusten und dann am Kopf des Tischs Platz nehmen. Ausgehungert schnappte sich Melissa ein Stück Backware und gab damit das Zeichen zum Losmampfen.
Irina bestand darauf, dass sie sie noch hochleben lassen müssten. Melissa wollte gerade vom Stuhl wegspringen, doch die Freundinnen hatten sich schon um sie herum versammelt und pressten sie auf die Lehne zurück. Auf Kommando lupften die Drei dann den Stuhl und ließen Melissa einmal aus Versehen an die Zimmerdecke anstoßen. Paula meinte aber scherzend, dass das Glück in der Liebe brächte und Melissa befahl, sie sofort nochmals an die Decke knallen zu lassen. Nachdem man sie wieder auf dem Boden abgesetzt hatte, berichtete Melissa den Freunden von ihrem amüsanten Nachmittag. Begonnen damit, dass sie von ihrem Freund und ihrer besten Freundin hintergangen wurde, der Begegnung mit dem für Melissa widerlichsten Jungen der Welt, den die Freunde allerdings nicht so schlimm fanden und dem Streit mit ihrer Mutter. Aber sie erzählte schon relativ gelassen.
Irgendwann kam dann die große Ãœberraschung, mit der Melissa vorerst gerne nicht gerechnet hätte. Die Clique hatte vier Karten für das heutige U2 –Konzert bekommen. Natürlich fand sie das total klasse von den Mädels. Doch Melissa war total von der Rolle. Sie dachte daran, dass sie dort möglicherweise Alex mit Oli dort treffen könnte, was sie den Mädchen auch stockend erzählte. Sie war zunächst ratlos und hätte die Karte am liebsten nicht angenommen, aber als sie sah, welche Mühe sich Irina, Paula und Silke doch gemacht hatten und wie sehr sie sich bemühten, sie zu überzeugen, konnte sie einfach nicht ablehnen.
Außerdem, es waren bestimmt Tausende von Besuchern auf dem Konzert. Wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit, dass sie denen, die sie nicht sehen wollte, dort über den Weg liefe? Melissa wusste in diesem Fall nichts mit den Pfadregeln anzufangen – wie schon häufiger im Mathematikunterricht – und verdrängte diese Befürchtung so weit es ging aus dem Kopf. Und, verdammt, wann hätte sie wieder die Gelegenheit, von geschätzt rund hunderttausend Menschen in der Messehalle zusammengequetscht zu werden?
Die Zeit verging wie im Flug, sodass die Clique bald aufbrechen musste. Die Mädchen aßen noch vor dem Konzert ein Eis, lästerten noch über den oder den ab und kamen schließlich gemütlich an der Messehalle an.
Bis sie allerdings hineinkamen und ihre Stehplätze eingenommen hatten, verstrich nochmals gut eine halbe Stunde.
Und dann, im funkelnden Scheinwerferlicht, trat die Band auf die Bühne. Um die Mädchen herum kreischte eine solch ohrenbetäubende Masse los, dass Melissa sich erst die Ohren zuhalten musste. Das Geschrei ging bestimmt eine dreiviertel Stunde lang, dann wurde eine Pause eingelegt. Eine halbe Stunde Pause, ...wozu dann die Musikeinlage dazwischen?!
Melissa glitt mit den anderen nach fast zehn Minuten ins Freie, wo sich alles an der Getränkeausgabe zusammendrängte. Es war unwahrscheinlich, noch zu einer Cola zu kommen, bevor das Konzert weiterging, also schlug Silke vor, noch in einer nahen Mc Donald’s –Bude für nach halbwegs Trinkbarem anzustehen. Der Vorschlag wurde angenommen.
Die Clique musste sich sogar ziemlich beeilen, doch nach fünf Minuten waren sie dort angelangt. Zum Glück bekamen sie die Getränke auch gleich, Melissa nahm als letzte ihre Cola entgegen, bezahlte und drehte sich nach hinten zu den Mädchen um. Doch sie sah zu spät, dass jemand direkt hinter ihr stand und verschüttete die Cola ungewollt über dessen T-Shirt. Als sie erschrocken aufblickte, traf sie der Schlag.
„Welcher Teufel hat denn ausgerechnet dich hier her geritten?“ Von wegen, es begegnet mir keiner!
Matthias funkelte sie herausfordernd an. Er hatte einen Arm um eine seiner blonden Ladies gelegt und keifte: „Spinnst du, Baumann? Rempelst wohl heute jeden an? Das Shirt zahlst du mir aber, hab ich eben erst neu gekriegt!“
„Bitte“, Melissa gab Irina, die neben ihr erschienen war, ihren Plastikbecher, zog 1 € aus dem Geldbeutel hervor und steckte ihn lustlos in Matzes Hand. Als er so aussah, als würde er sie gleich darauf zu Kleinholz verarbeiten, erhöhte Melissa die Summe auf zehn. Sie hatte absolut keine Lust, schon wieder Streit anzufangen. „Du musst ja wenigstens hübsch aussehen, wenn du dich mit ihresgleichen triffst.“
Sie zeigte auf das blondierte Mädchen, Melissa kannte sie, ein treudoofes Mädchen namens Katja Flinker, eine Klassenstufe tiefer, aber eine echte Sportskanone und ansonsten von der Natur auch äußerst begünstigt.
Matthias lachte betont auf und meinte: „Bist wohl wieder bei bester Laune! Wie schmeckt die Milch?“
„Du bist ja nur neidisch!“ gab Katja noch drauf und strich Matthias lächelnd über die Brust. Dabei blitzte ihre Zahnspange auf.
Melissa drehte sich rasch zu ihren Freunden um, bevor sie sich noch mit einem Brechanfall auf Matzes Brust verewigte. „Kommt, wir gehen!“
„He, Baumann!“ rief Matthias ihr noch vergnügt nach. „Wo geht ihr Strebertussis denn noch nach dem Konzert hin?“
„Antwortet bloß nicht“, warnte Melissa die Freundinnen und schob sie schnell nach draußen.
Die Vier begaben sich zurück in die Messehalle und tranken unterwegs ihre Getränke aus. Als sie wieder ihre Plätze in der Halle gesichert hatten, ging das Konzert auch gleich weiter. Melissa begann, es jetzt erst richtig zu genießen, der Lärm störte sie jedenfalls nicht mehr und er hatte auch deutlich nachgelassen.
Doch als bei „With or without you“ jeder um sie herum zusammen mit dem Freund bzw. der Freundin Arm in Arm kuschelte und schmuste, versetzte es ihr doch noch einen kleinen Stich. Ein Pärchen erinnerte sie doch zu stark an Alex und Oli. Melissa wand ihren Blick von den Pärchen ab und sah stattdessen zu Irina, Paula und Silke herüber, bei denen jede die Arme um die Schultern der anderen gelegt hatte.
„Komm“, rief Paula fröhlich und Irina meinte, als Melissa schmunzelnd ihren Arm um ihren Hals herumlegte: „Was die können, können wir erst recht, ich schwör!“ Melissa nickte. Im gleichmäßigen Rhythmus schwangen die Mädchen nun mit. Melissa fühlte sich gut dabei, es gab ihr ein Gefühl von Zugehörigkeit, das sie, wenn sie es sich recht überlegte, nie bei Alex so extrem gespürt hatte. Er war ein Zuhörer, aber nicht annähernd guter schlechte–Stimmung –Killer.
Überall wurden Wunderkerzen und blinkende Handys aus den Taschen gezogen. Melissa ließ ebenso ihr Display aufleuchten und schwang es durch die Luft.
In einem glänzenden Finale erzitterten die Gitarrenklänge die Halle und es wurde noch lange geklatscht und gerufen.
Melissa und ihre Freunde betraten wenig später völlig aufgelöst und lachend die Straße und liefen unter sternklarem Himmel wieder Richtung Innenstadt zurück. Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander, Melissa bedankte sich nochmals glücklich für den ihr außergewöhnlich schönen Abend und dann ging jeder seiner Wege.
Melissa tanzte noch ein Weilchen wie ein Wirbelwind auf der Straße herum. Sie blickte hinauf ans blaue Firmament und beobachtete das Aufleuchten jedes dort drin steckenden Sterns. Es waren viele Sterne, die auf sie herabschienen und plötzlich wusste sie, dass diese Sterne nie verschwinden würden. Ihr ganzes Leben lang würden sie über ihr bleiben, auch, wenn sie einmal von Wolken verdeckt würden.
In solchen Nächten sollte Melissa sich wieder darüber bewusst werden, dass sie nicht alleine war. Sie hatte ja Freunde, die sie nicht verließen, sie hatte auch alte Bekannte, die sie wohl noch häufiger umrennen würde oder ihnen zur Hilfe bereit wäre und sie hatte ihre Eltern, von denen es nur die einen gab, aber es waren ihre Eltern und es blieben ihre Eltern. Und Alex und Oli?
Nach und nach verschwanden die vielen Lichter und der Straßenlärm hinter Melissa. Sie sah ihr Wohnhaus vor sich auftauchen und freute sich, in ihr Zimmer zu kommen. Vor sich hinsummend schritt sie an die Haustür.
Melissa zog ihren Schlüssel hervor und öffnete. Als sie die Wohnungstür aufschloss, rief sie nach ihrer Mutter, doch es meldete sich keiner. Melissa seufzte. Hoffentlich war die Mutter nicht mehr böse.
Melissa machte sich für ihr Bett fertig. Plötzlich war sie doch sehr müde, es war ein langer Tag. Da erinnerte sie sich, dass es da ja noch diesen geheimnisvollen roten Brief auf dem Boden in der Garderobe gab.
Sie setzte sich vor die Kommode, riss den Umschlag auf und fischte einen ebenso roten Papierzettel heraus. Erstaunt las sie:
Hab erfahren, du wirst heute auch endlich mal 16. – Och , wie süß! Hätte dich allerdings höchstens auf 15 geschätzt. Weiterhin schön viel Pech mit allem!
Du feierst ja bestimmt mit Kuchen und Milch, zusammen mit deinen Strebertussis... Die haben ja die ganze Woche über geplant, wie sie dich „am besten überraschen“ können! – !
Ich freu mich schon, dich nachher auf dem Konzert zu ärgern! Hab mein bestes Mädel eingeladen, also denk dir diesmal gescheite verletzende Sprüche aus.
Matze
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Melissa brummte verärgert. Matze könnte Melissa doch im Mondschein begegnen!
Sie wollte den Brief am liebsten zerreisen, aber irgendwie konnte sie es schließlich doch nicht. Melissa spürte einen großen Widerstand in sich aufgehen. Sie konnte entweder den Kopf in den Sand stecken oder aufstehen, um den Dingen ins Auge zu blicken und sich nicht unterkriegen zu lassen.
Die Runde ging auf dich. Aber warte nur, dachte sie, warte, wenn ich dich morgen in der Schule sehe! Warte nur! Mit entschlossenen Fäusten erhob sich Melissa und ihr Mund verzog sich langsam zu einem selbstbewussten Lächeln.
„Mensch, Melissa, wirst du heute noch fertig?!” Ungeduldig klopfte Ingela mit der einen freien Hand gegen die Spülmaschine. In der anderen wedelte sie hektisch mit dem wasserdurchtränkten Topfschwamm, wobei Melissa einige Tropfen gegen das Gesicht flogen.
„Hey, hast du sie noch alle?“ rief Melissa entrüstet und fuhr sich kurz über die Wange. „Jetzt hab ich dein komisches Putzwasser auf dem Hähnchen!“
„Ach, papperlapapp“, machte Ingela. „Dreck macht Speck!“ Sie grinste belustigt und ging zurück zum Spülbecken. „Jetzt mach schon, so langsam wie du isst...mich wundert’s echt, dass du noch nicht dabei eingeschlafen bist“.
Melissa legte die Stirn in Falten und schob ihren Stuhl ein Stück zurück. „Das esse ich nicht mehr!“
„Ja genau, mal ist es zu heiß, dann wieder zu kalt und dann ist ein Haar drin...du hast immer die gleichen Ausreden, wenn dir was nicht schmeckt!“
„Mama!“ schrie Melissa. „Die hat Dreck in mein Essen und sagt, dass ich das essen muss!“
„Oh, was ist denn jetzt wieder los...?!“ Eine genervte Stimme meldete sich aus dem Wohnzimmer. Kurz darauf näherte sich Melissas Mutter auf dem Flur draußen.
„Hallo!? Ich hab nachher eine Verabredung, das weißt du genau, Melissa! Daniel kommt um 9, das heißt du verschwindest in einer halben Stunde!“ Ingela kickte mit dem Fuß den Spülmaschinendeckel nach unten. „Mach mal hinne!“
Melissa erinnerte sich. Vor etwa einer Stunde hatte der Typ angerufen. Gleich darauf war Ingela in ihr Zimmer verschwunden und hatte sofort den Kopf im Kleiderschrank vergraben. Dann stand sie noch ewig lange im Bad, schminkte und frisierte sich, enthaarte sich sogar wimmernd die Beine mit Wachs. Aber wer schön sein will,... Weil sie so lange gebraucht hatte, hatten sie auch so spät zu Abend gegessen. Das Essen, das die Mutter gekocht hatte, war nämlich angebrannt. Ingela hatte dann die Hähnchen übers Telefon bestellt. „Ich seh’ das gar nicht ein, dass ich schon wieder die Bude räumen soll, nur weil sich bei dir mal wieder einer angemeldet hat. Und du weißt genau, dass ich kein Senfhähnchen mag, du bist selber Schuld!“
„Hätte Vera nichts über die Würze gesagt, hättest du’s eh nicht gemerkt!“
Immer muss die ihren Senf dazugeben!
Leider war dieses Argument im richtigen Moment gekommen. Melissa bemerkte es oft immer erst hinterher, wenn etwas im Essen war, das sie gar nicht mochte. „Ach...du weißt natürlich immer alles besser!“
Müde kam Melissas Mutter in die Küche. Sie sah nicht sonderlich fit aus. „Hört auf, Schluss jetzt, ich hab Kopfweh!“
„Vera, die will sich schon wieder davor drücken, ihren Teller leerzuessen!“
„Ingela hat mein Hähnchen mit dem Schwamm verdreckt, Mama!“
„Verdreckt, pah! Ich hab’s ja nicht mal getroffen, du hast höchstens drei winzige Spritzer auf dem Gesicht abgekriegt!“
Melissas Mutter brüllte dazwischen. „Ruhe! Ich kann das nicht mehr hören. Melissa, du zierst dich nicht so und isst das kleine Hähnchenstück und Ingela, du putzt die Küche, wenn du hier noch Besuch haben willst! Ihr ignoriert euch gefälligst und wenn das nicht klappt, bleibt ihr nachher beide hier!“ Sie ging zum Herd um den zischenden Teekessel von der Platte zu nehmen.
„Immer muss ich hier tun, was die dir einredet!“ beschwerte sich Melissa bei ihrer Mutter. Sie stocherte mürrisch auf ihrem Teller herum. „Wenn die Besuch hat, muss ich immer weg!“
„Hättest du Lust, deine fast - Stiefschwester in der Wohnung zu haben, wenn dein Freund da ist?“ Ingelas Betonung auf Freund war Melissa nicht entgangen. Ja, wir wissen, dass du einen Freund hast und ich nicht! Sie musterte Ingela ausführlich. Immerhin hab ich nicht vergessen, mir die Haartönung nachzukaufen.
„Wenn du meine Stiefschwester wärst, würde ich meinen Freund höchstens 500 Kilometer von dir weg treffen!“ Sie hasste es, wenn die Tochter vom Schleimer – Freund ihrer Mutter mit so dummen Sprüchen ankam.
„Wenn ihr nicht augenblicklich euren Mund haltet, gebe ich euch so einen Hausarrest, dass ihr die nächsten Wochenenden mal so viel Zeit zum Pauken übrighabt, dass ihr nur noch ordentliche Klausuren schreibt, verstanden!“
Die Mädchen verstummten. Melissas Mutter wandte sich von ihnen ab und schlurfte zurück ins Wohnzimmer.
Verärgert steckte sich Melissa einen Bissen vom Fleisch in den Mund. Sie beobachtete, wie Ingela über die Tischplatte gebeugt schrubbte und deutlich dabei schmunzelte, wie Melissa sich das Essen herunterquälte.
Als Melissa auch noch versehentlich ein Fleischstück von der Gabel auf die Hose fiel und Ingela von einem heftigen Lachanfall gepackt wurde, hielt Melissa es nicht länger aus. Sie schnappte sich ihr Glas, nahm einen großen Schluck Sprudel, gurgelte damit laut herum, bis Ingela ihre beabsichtigte Aufmerksamkeit erreicht hatte, spuckte es wieder ins Glas aus und kippte Ingela das Glas auf den Pullover.
Ingela kreischte auf und war fuchsteufelswild. „Haben sie dir vielleicht in dein Hirn geschissen, du dumme Suppe?!!!“
Melissa lehnte sich zufrieden in den Stuhl zurück, drehte Däumchen und blickte Ingela herausfordernd an. Sie blieb ganz ruhig, während Ingela mit einem trockenen Handtuch hektisch über ihren Pulli rieb.
Aber die Freude hielt nicht lange, gerade da kam Sebastian, vom Schimpfen seiner Tochter alarmiert in die Küche herein. Er war wohl gerade erst von der Arbeit gekommen, er trug noch Jacke und Aktentasche. „Streitet ihr beiden Weiber euch schon wieder!?“
„Die ist so eine saublöde Henne!“ Ingela wies bitterböse auf Melissa. „Schau mal, Papa!“ Sie nahm kurz das Handtuch vom Pulli, um ihm den Fleck zu zeigen.
„Stress doch nicht so, is ja nur Wasser!“ äffte Melissa.
„Ich geb’ dir gleich Stress!“ warnte Ingela. „Ich...“
„Geh ins Bad, Ingela“, sagte Sebastian, „und wasch den Pulli aus. Ich will nicht, dass ihr euch die ganze Zeit nur in den Haaren liegt, während Vera da bei ihrem hohen Fieber im Wohnzimmer sitzt. Reißt euch endlich zusammen!“
„Aber Papa, guck dir die Melissa mal an, wie die grinst! Ich finde das echt unverschämt, ich mühe mich hier ab und sie versaut mir alles! Und Daniel kommt in einer halben Stunde...!“
„Zuhören! Ingela, du gehst dich jetzt umziehen und Melissa macht hier den Rest sauber. Mein Tag war auch nicht lustig und ihr geht uns beiden, Vera und mir, grad wirklich auf die Nerven! Macht, dass ihr hier fortkommt!“
Mit diesen Worten ging Sebastian wieder aus dem Zimmer. Ingela warf Melissa einen rachsüchtigen Blick zu, bevor sie sich auf den Weg zum Bad machte. Melissa zuckte mit den Schultern und stellte ihren Teller in den Geschirrspüler. Sie kniete sich mit dem Schwamm, den Ingela wütend ins Spülbecken geworfen hatte, auf den Fußboden und fing an, die Wasserflecken, die Ingela knapp verfehlt hatten, aufzuwischen. Ihre Ärmel krempelte sie hoch und pustete sich ihre Strähnen, die ihr so lästig ins Gesicht fielen, beiseite.
Melissa pfeifte dabei vor sich hin, sie empfand es nicht wirklich als Strafe saubermachen zu müssen. Ingelas Fluchen aus dem Bad stimmte sie wieder fröhlich, außerdem würde sie soll schnell den Gesichtsausdruck von vorhin nicht vergessen, als Ingela das Sprudelwasser abgekriegt hatte.
Nachdem Melissa ihre Arbeit für beendet hielt, fand sie noch einen Schokopudding im Kühlschrank, über den sie sich sehr freute. Dabei fiel ihr ein, dass Ingela sich diesen gekauft hatte. Sie war vorhin extra noch mal wegen dem Pudding in die Stadt gefahren, weil sie sich einen schnuckeligen Abend machen wollte. –Boah, schmeckt der gut!
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„Servus, Melle“, der Junge, der sich da auf dem Gang in der Stadtbahn zu ihr hintastete, nahm blinzelnd neben Melissa Platz. „Was hörst du da?“
„Hi, Willi“, Melissa drückte ihm einen Ohrstöpsel in die Hand, den er sich gleich ansteckte. „Weiß ich auch nicht. Bin heute morgen spät aus dem Bett gekommen und Ingelas Discman lag da grad griffbereit... sag mal, hast du schon wieder deine Kontaktlinsen vergessen?“
„Ja, Mann! Meine Brüder fanden’s witzig, die in ihrer Aufbewahrung unseren Fischen aus dem Aquarium zum Frühstück zu geben...“
Melissa wandte sich ihm grinsend zu: „Nee, echt?“
Willi blinzelte sie maulwurfartig an. „Ja, und als ich mich übers Wasserbecken beugte, um die Linsen wieder herauszuangeln, hat mir einer den Kopf heruntergestoßen! Na ja, und dann drückte mein Vater draußen im Auto auf die Hupe!“
„Aber, Willi, was, wenn die Fische die Aufbewahrungsbox aus Versehen für Futter halten und fressen?“
„Wenn die die wirklich schlucken, möchte ich dich mal ein gebratenes Schwein am Spieß mit einem Bissen verschlingen sehen!“ meinte Willi.
„Hey, als ich das letzte Mal auf eure Fische aufgepasst habe, dachte ich, die würden noch wachsen!“
„Nein“, brummte Willi, „wenn alles mit rechten Dingen zugeht, können sie nur demnächst eingehen. Ich hoffe, sie gehen ein!“
„Stimmt ja“, fiel Melissa ein. „Die hat doch auch... wie- heißt- sie- noch- mal bei euch mitangeschleppt?“
„Isabella, die Ballerina“.
„Genau. Wie lange läuft das jetzt schon mit ihr und deinem Vater?“
Willi überlegte. Er kratzte sich am Kopf und schielte angestrengt an die Decke. Nach einer Weile wendete er sich verwirrt an Melissa: „Hast du’n Taschenrechner dabei?“
„Was??“
„Ja, Mann. Wenn du es genau wissen willst muss ich ja auch die Tage der Trennungen bzw. nicht – Wiedersehens abziehen und es ist 6.57 Uhr morgens, ich bin praktisch noch im Schlafzustand!“
„Okay, wird akzeptiert“, nickte Melissa und wühlte ordentlich ihren Rucksack durch. „Ein Taschenrechner, ich weiß nicht...“
„Oder schreibfeste Papierutensilien?“
Melissa fand ihren Notizblock und drückte ihn Willi in die Hand, der sich es auf der Bank richtig bequem machte.
„Mhm...und vielleicht noch’n Stift?“
Melissa reichte ihm ihr Schlampermäppchen. „Hier, ich schätze mal, dir hat die Zeit nicht mehr gereicht....“
„Die Mädchen hatten meinen Rucksack ergattert und ihn über dem Fenster ausgeleert!“
„Ihr habt einander aber schnell ins Herz geschlossen!“ bemerkte Melissa schmunzelnd und steckte ihm ihren Taschenrechner zu, der ihr gerade noch in die Hände gelangt war. Willi rieb sich angestrengt die Augen, weil er die Ziffern auf dem Rechner so schlecht lesen konnte.
„Und wie oft sind Isabella und die Mädels bei euch ein – bzw. wieder ausgezogen?“ fragte Melissa weiter.
Willi holte Luft. „Also, jetzt wird’s echt kompliziert... Moment, das war... ach, ich Schlaule, jetzt hab ich’s gelöscht!“ Frustriert warf er Melissa den Taschenrechner in den Schoß. „Wenn ich so richtig zurückdenke, geht das jetzt ungefähr ein halbes Jahr lang und der Umzugsrekord liegt bei ... siebenmal in einer Woche...?“ Plötzlich stoppte er im Satz. „Oh, verdammt, ich muss ja raus!“
Melissa stellte eben fest, dass die Bahn stehen geblieben war. Willi raffte sich aus dem Sitz hoch, blickte sich hektisch um und warf sich schließlich auf allen Vieren krabbelnd auf den Boden und suchte fluchend seinen Rucksack.
„Ãœber dir!“ schüttelte Melissa sich vor Lachen, als Willis Kopf blitzartig nach oben bewegte und er gegen die gegenüberlegende Sitzbank rechts vom Gang stieß. „Du hast ihn oben ins Netz gelegt! Schnell, der Zugfahrer wartet nicht mehr lange!“
Willi stand sofort gerade, riss seinen Ranzen vom Gepäcknetz und schnallte ihn sich auf den Rücken, beugte sich verstreut zu Melissa hin und hauchte ihr einen Schmatzer ins Gesicht, wobei er die halbe Nase erwischte. „Danke, als Maulwurf käme ich ohne dich nie zurecht!“
Er sprintete schreiend auf den Ausgang zu.
„Ciao!“ brüllte Melissa ihm nach. „Pass auf, dass du nicht auf der falschen Seite rausspringst, ja?“ Verrücktes Tier!
Schmunzelnd drückte sich Melissa den zweiten Hörstöpsel wieder aufs Ohr und hörte den gleichen Track noch einmal.
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Naserümpfend steckte Melissa die Arbeit weg. Oli gab ihr einen leichten Knuff: „Astrein abgelaufen!“ meinte sie ironisch und beide nickten seufzend.
„Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich von Samstag auf Sonntag einfach im Bett geblieben und heute krank gewesen!“ Melissa legte den Kopf in ihre Arme und gähnte.
Gerade da läutete es zur Pause und Oli packte ihre Sachen ein. „Hast schon von dem Faschingsumzug heute gehört?“
„Was ist der schon heute? War der nicht erst ?“ wunderte sich Melissa desinteressiert.
„Ja, letztes Jahr, willst du hin?“
Melissa überlegte. „Na ja, nicht unbedingt, vielleicht... ach, ich weiß nicht, bin nicht soo scharf...“
„Ich wollte eigentlich noch Alex fragen...“, erwähnte Oli vorsichtig. „Also, wenn du Lust hast, mitzukommen...“
„Mal gucken!“ sagte Melissa kurz.
„Na ja, schon klar, dass du nicht mitwillst, wenn Alex dabei ist...“
Melissa rollte mit den Augen. Ist mir total egal, Mann! Mein Handyvibrator funktioniert tadellos! dachte sie und schlug sich in Gedanken zurecht. Schäm dich Melle! Schäm dich! So was aus deinem Mund! „Oli, mir macht das nichts aus, dass ihr miteinander geht, ja wirklich, ist doch schön für euch!“ Sie sagte die Wahrheit. Inzwischen kam sie mit der Situation klar und mittlerweile konnten die drei Freunde auch wieder rationale „Trialoge“ miteinander führen.
Oli glaubte ihr. „Okay, ich wollte ja nur nicht dass du sauer auf mich oder Alex bist... unsere Freundschaft ist mir echt wichtig, ich hab dich doch gern!“
Lächelnd gab Melissa ihr einen Klaps auf die Schulter. Sie nahm ihren Geldbeutel aus dem Schulranzen und zog sich ihre Jacke über. „Gehe zum Bäcker. Ich sag dir noch Bescheid wegen heute Nachmittag oder melde mich noch bei dir daheim!“
„Ja!“ reagierte Oli etwas spät, denn sie hatte sich mit Mitschülerin Gabi ins Gespräch vertieft. Melissa trudelte langsam aus dem Klassenzimmer und ging auf die Straße hinaus.
Die Bäckerei Mezger war nur knapp drei Minuten entfernt. Melissa musste nur über eine Ampel gehen, wunderte sich aber ziemlich darüber, dass ihr so viele entgegenkamen. Als sie vor der Tür zum Bäcker stand, konnte sie das schnell nachvollziehen: Geschlossen wegen Privatangelegenheit
Einmal, nur einmal brauch man etwas wirklich unbedingt aus diesem Saftladen und dann ist da einer krank oder krepiert! Lauter Egoisten!
Melissa las weiterhin noch folgendes Schild im Schaufenster Mezger: Kaufen Sie 6 Krapfen zum Preis von 3! Verpassen Sie nicht dieses einmalige Angebot zum Faschingsumzug!
Vor sich hinschimpfend kehrte Melissa wieder um, wo gerade Matthias in ihre Richtung hinschlenderte: Da kommt schon der erste Clown! „Hast du `ne imaginäre Freundin gefunden, mit der du dich unterhalten kannst?“
„Nein, die Geister, die ich rief wollten dich leider nicht mehr zurücknehmen!“
Melissa trottete zurück zur Schule. Matze bedankte sich gleich darauf im Hintergrund mürrisch bei ihr für den Hinweis über den geschlossenen Bäcker.
Nachdem Melissa kurz darauf ins Schulgebäude gehen wollte, kamen Oli und Gabi strahlend aus der Eingangshalle: „Melle, wir dürfen gehen!“
Melissa runzelte überrascht die Stirn, dass beide schon ihre Ränzen auf dem Rücken trugen und weitere Klassenkameraden folgten. „Die Puhlmeck ist krank und Frau Feldhase mussten wir noch ein bisschen bearbeiten, dass Chemie ausfällt!“ erklärte Oli stolz.
„Aber... woher wusstet ihr das? Wir haben keinen Ausfallzettel heute morgen bekommen, oder?“
„Matze war vorhin im Lehrerzimmer, weil er noch mit der Puhlmeck reden musste“, Gabi machte eine Pause. „Aber... ist der dir nicht gerade beim Bäcker begegnet?“
„Mein Ranzen liegt noch oben im Zimmer. Geht ruhig schon zum Bus!“
„Oh...sorry, haben wir ganz vergessen, dass der noch oben ist...“ meinte Oli entschuldigend. „Ciao!“
„Tschüß“, sagte Melissa und stapfte die Treppen zur Eingangshalle hoch.
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Als Melissa nach Hause kam war sie stinksauer. Die verdammten Lehrer hatten ihren Rucksack im Klassenzimmer eingeschlossen und die Sekretärin von Plaudertasche hatte die ganze Zeit über am Telefon gehangen und sie nur unnötig hingehalten. Letztendlich sollte Melissa sich nämlich laut der Sekretärin einen Lehrer suchen, der im Hauptgebäude unterrichte. Und bis Melissa da einen gefunden hatte, der, oh Wunder, gesund war, war die Stunde praktisch rum. Daraufhin war ihr die Stadtbahn vor der Nase weggefahren und in der nächsten die kam ereignete sich auf halber Strecke ein Personenunfall. Bis der durchteilte Leichnam von den Gleisen geschafft worden war, wäre Melissa zu Fuß schneller zuhause gewesen.
Übellaunig knallte Melissa ihren Ranzen in die Ecke und zog sich Jacke und Schuhe aus. Dabei überprüfte sie noch den Anrufbeantworter auf Meldungen.
„Hi, hier ist Max“, tutete es aus dem Apparat. „Inge, ich würde dich echt total gern mal wieder treffen, hab dich schon so lang nicht mehr gesehen... würde mich voll freuen, wenn du dich mal wieder bei mir meldest...!“ Ein Piepsen leitete auf die folgende Telefonaufnahme hin: „Hey, Inge, ich bin’s Jens. Hast du heute Abend schon was vor? Ich hätte da nämlich einen Vorschlag zu machen...“ Melissa spulte mit einem Tastendruck das Band weiter. „Hi, Spatz, ich sitze gerade im Büro und ich vermiss dich ganz doll!...“ Ja, wir dich auch, Daniel! Abermals haute Melissa auf die Taste. „Hier Sebastian. Tut mir Leid, hab noch eine wichtige Besprechung und die zieht sich vermutlich auf den ganzen Abend hin...“ Immerhin eine gute Nachricht, es geht doch!
Melissa ging hungrig in die Küche. Sie nahm eine von schätzungsweise 12 Packungen Miracoli aus dem Vorratsregal und schaltete den Herd an. In einem Topf kochte sie Nudelwasser auf und im anderen wärmte sie die Tomatensoße an.
Plötzlich hörte sie einen Schlüssel in der Wohnungstür und wenig später steckte ihre Mutter den Kopf zur ihr herein. „Ach Ließchen, bist du früher zurück?“
„Die Lehrer sind krank“. Melissa schleckte sich etwas Soße vom Finger, den sie darin eingetaucht hatte.
„Achso“. Ächzend stellte die Mutter eine prallgefüllte Jutetasche am Tisch ab. „Ich komme gerade vom Einkaufen, wollte eigentlich die Gemüsepfanne machen...“
„Kannst du ja noch. Warum bist du eigentlich schon da?“
„Die Chefin hat die Grippe, weißt du“, meinte die Mutter und räumte die mitgebrachten Lebensmittel im Zimmer auf. „Und da gab’s nicht so viel zu tun“.
Kann dieser verdammte Bazillus sich endlich mal bei mir injizieren?
„Und was gibt’s Neues in der Schule?“ fragte die Mutter nebenbei und nebenbei erzählte Melissa von der nicht ganz so perfekt ausgegangenen Geschichtsarbeit, die sie zurückbekommen hatte
„Tja, sind deine Noten“, lautete die Reaktion ihrer Mutter darauf, was mittlerweile ihr Standardkommentar war. „Du musst sehen, wie du durchkommst, wenn du einen guten Beruf willst! Du bist alt genug!“
Wieder klapperte ein Schlüsselbund an der Wohnungstür und gleich darauf schwebte Ingela bester Laune in die Küche. „Hi!“ flötete sie. „Mein Chef ist krank, ich durfte früher Schluss machen!“ Mit ihm oder mit der Arbeit? spekulierte Melissa frech.
Sie rutschte von der Tischplatte, auf der sie gesessen hatte und sah nach dem Essen.
Ingela trat neben sie an den Herd. „Bäh! Schon wieder Spaghetti?“
„Wenn’s dir nicht passt, bestell’ dir doch Hähnchen!“ deutete Melissa patzig an.
„Sie hatte halt Hunger“, äußerte sich die Mutter dazu. „Wir machen später noch was anderes, halt wenn Sebastian von der Arbeit kommt...“
Das Telefon klingelte. „Ich geh ran!“ Ingela marschierte aus der Küche und rief kurz darauf nach Melissa, die gerade die Nudeln abgoss.
Sie lief auf den Flur und nahm den Hörer an sich. „Melissa Baumann?“
„Servus, Melle“, hörte sie eine vertraute Stimme in der anderen Leitung.
„Hi, Willi! Was gibt’s?“
„Ja...ey, tut mir Leid wenn ich dich das jetzt frage, aber... hast du heute schon was vor?“
„Nein...!“ erstaunt hob Melissa die Augenbrauen.
„Also, ich hab da ein kleines Problem“, begann Willi. „Ich müsste da heute Nachmittag mit so `nem Rudel Wölfe auf den Faschingsumzug... könntest du mitkommen und im Falle eines übereilten Blutbades den Krankenwagen rufen?“
Melissa lachte. „Musst du Babysitten?“
Seufzen. „Das ist die Umschreibung meines Vaters.“
„Willi, dein Anruf kommt gerade richtig. Ich bin da gewissermaßen schon so halb mit Freunden verabredet, aber zu viert wäre das eine schöne gerade Zahl!“
„Je mehr desto besser“, behauptete Willi. „Ich hab für den Notfall Schnur zum Festbinden, aber hättest du noch zufällig eine Zwangsjacke daheim?“
„Ach komm, jetzt übertreibst du!“
„Naja, ich könnte da ja noch das Tränengasspray aus Isabellas Handtasche klauen...“ flüsterte Willi leise ins Rohr. „Schadet auch nicht!“
„Melissa“, bäffte es aus der Küche. „Zack, zack, ich muss noch telefonieren!“
„Schnauze, jetzt bin ich dran!“ brüllte Melissa zurück und hob die Hand wieder vom Hörer. „Wann gehst du?“
„Gegen 4, ginge das?“
„Ja, passt. Ich regle das dann noch mit Oli und Alex“, sie dachte kurz nach. „Und vielleicht bringe ich noch meine Mädels mit. Um 4 auf dem Friedrichsplatz?“
„Bis dann!“ Willi legte auf.
Melissa überlegte schnell und fing an zu wählen.
„Mensch, Melissa!“ rief Ingela wieder. „Jetzt mach, die Nudeln werden kalt!“
Das war ein Argument. „Ja okay, ich komme“, Melissa entschloss sich, später anzurufen.
Sie ging zu den anderen in die Küche und setzte sich an ihren Tischplatz. Wenig ekstatisch erblickte sie die beiden anderen Teller auf dem Tisch, die mit den Spaghetti gefüllt waren. „Ihr esst auch mit?“ Melissa sah Ingela und die Mutter schmatzen.
„Ja, es leben nämlich noch mehr Menschen als du in diesem Haus!“ bemerkte Ingela und zog schlürfend die Nudeln von ihrer Gabel, die aufgewickelt daran zusammenhingen.
„Die Nachbarn haben noch nie bei uns am Tisch mitgegessen! Ich dachte, du magst’s gar nicht!“
„Melissa“, fuhr die Mutter genervt dazwischen. „Jetzt iss und sei ruhig!“
Melissa probierte. „Wäh! Die sind ja eiskalt!“
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, meinte Ingela achselzuckend.
Ganz toll! „Dann mache ich sie eben noch mal warm...!“ gab Melissa zurück und wollte aufstehen.
„Nix! Der Herd bleibt jetzt aus!“ protestierte ihre Mutter scharf. „Außerdem sind die Spaghetti noch gut lauwarm!“
Lustlos rührte Melissa in ihrem Teller herum.
„Mann, jetzt ist für Melissa der ganze Tag verhunzt...“ spöttelte Ingela.
„Ach, sei still!“ zischte Melissa gereizt und trank einen Schluck.
„Sag mal“, grinste Ingela. „Ist dir eigentlich noch nie aufgefallen, dass das sowieso nur deswegen so viel Spaß macht, weil du dich immer so drüber aufregst?“
„Klappe!“ fauchte Melissa barsch zurück. Aber Ingela lachte nur.
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Später lümmelte Melissa im Wohnzimmer auf der Couch herum und zappte unentschlossen durch die Fernsehkanäle. Es kam überall das gleiche: Narrenfestivals ohne Ende, ein Kostümierter hässlicher als der andere, fand Melissa. Sie hatte mit Oli und Alex noch vorhin telefonisch den Treffpunkt um 4 Uhr am Friedrichsplatz vereinbart. Irina, Clara und Paula hatten ebenfalls zugesagt.
Gerade entschied Melissa sich für eine dieser Spaß – und Fressveranstaltungen im Programm, bei denen immer einer von diesen Spaßvögeln mit dieser furchtbaren Kronenmütze auf der Bühne vor den verkleideten Zuschauern stand und ihnen solche Sekundenbrüller und sonstige kleine Stories verklickerte, die für diejenigen urkomisch zu sein schienen. Jedes Mal wenn daraufhin dieses signalartige Tröten aus dem Blasorchester ertönte, betete Melissa, dass ein herabfallender Felsblock den Fernseher erschlug. Sie konnte nicht verstehen, weshalb manche Leute soviel Freude am Fasching hatten. Aber sie kannte eine entfernte Verwandte, die schon 80 war und das ganze Jahr über dieser Zeit entgegenfieberte. Melissa hatte sie gern, die Frau litt zwar ein wenig unter Alzheimer, aber sie war trotzdem lieb. Sie war nun mal damit aufgewachsen, in ihrer Familie wurde das immer sehr traditionell gefeiert. Außerdem konnte sie prima Berliner und Faschingsküchle backen, sowie kein anderer Konditor in der Stadt. Die waren wirklich wahnsinnig lecker, ...wie war noch mal Christels Telefonnummer?
Müde blies Melissa über den heißen Kakao zwischen ihren Händen, an dem sie sich die Finger wärmte, sich aber leider auch zugleich die Lippen verbrannte. Ungeduldig sah sie auf ihre Armbanduhr: Wo blieben Ingela und ihre Mutter? Sie waren im Shoppingviertel in der Innenstadt, wollten aber alsbald zurücksein, um Melissa in die Stadt zu fahren.
Melissa seufzte. Wenn sie nicht den Bus verpassen wollte, musste sie sich beeilen. Sie stellte bedauernd den halbausgetrunkenen Kakao ab und rollte sich gähnend vom Sofa. Mühsam erhob sie sich und wandelte zur Garderobe, um sich fertigzumachen. Da für sie das Wetter nicht wirklich vertrauensselig schien, griff sie in die Kommodenschublade und steckte noch ihren Knirps– Schirm in die Umhängetasche. Melissa schloss die Wohnung ab und ging die Stufen hinunter auf die Straße.
Unterwegs holte Melissa ihr Handy aus der Tasche und tippte Ingela eine Nachricht. Dabei stellte sie fest, dass Ingela bereits gesmst hatte und ihr mitteilte, dass sie und Melissas Mutter im Stau stünden. Darauf hätten wir vorher kommen können, bei dem Umtrieb!
Melissa hockte sich an der Haltestation auf die Bank und wartete. Hoffentlich würde der Bus überhaupt durchkommen, sie müsse sicher mit einiger Verspätung rechnen. Doch der Bus fuhr relativ pünktlich an. Keinen Moment zu früh, denn es hatte angefangen zu regnen und es artete zu einem echten Guss aus. Melissa stieg ein.
Die Tropfen donnerten prasselnd gegen die Scheibe. Aufmerksam beobachtete Melissa die kleinen Wasserstraßen, die sich auf dem Fenster bildeten und allmählich herunterflossen. Helau! dachte Melissa schmunzelnd. In ihren Gedanken stellte sie sich eine vom Gewitter völlig aufgescheuchte Meute aus Narren vor, die sich um einen trockenen Platz zum Unterstellen in wilden Zwei – oder Mehrkämpfen stritt und sich gegenseitig die Tröten und Rasseln um die Ohren schlug.
Der Bus hielt knapp 2 Minuten vom Friedrichsplatz entfernt. Melissa rannte los durch die Pfützen, weil sie doch etwas spät dran war. Inzwischen hatte der Regen wieder um Einiges nachgelassen. Plötzlich stoppte Melissa.
Ach du Sch...ande!
Der Friedrichsplatz war rappelvoll, Melissa sah nur Köpfe und Köpfe vor sich. Im Zug käme jetzt die Durchsage: Bitte rücken Sie zusammen, wir sind zu 150% überfüllt..
Melissa kratzte sich nachdenklich am Kinn. Ein Lautsprecher wäre jetzt aber wirklich gold wert!
Auf einmal hörte sie ein Stück hinter sich einen Schrei: „Melle!“
Als sie sich umdrehte, kamen Oli und Alex von der anderen Straßenseite hergelaufen. Sie waren klitschnass. Alex hatte seine Jeansjacke teils ausgezogen und behutsam über seinen und Olis Schultern ausgebreitet. Als die zwei vor Melissa stehen bleiben, streifte er sich die Jacke wieder über.
„Hallo“, sagte Melissa, spannte ihren Schirm auf und die beiden quetschten sich darunter. „Seid ihr schon länger hier?“
„Hi“, grüßte Oli schniefend zurück und ließ sich von Alex zärtlich die Regentropfen von der Stirn streichen. „Ja, Alex durfte früher gehen...“ Sie rieb bibbernd die Handflächen gegeneinander und Alex legte ihren Arm um sie.
„Mein Chef aus der Werkstatt ist krank“, grinste er.
„So ein Zufall!“ Melissa sah sich noch mal gründlich nach den anderen Freunden um. „Habt ihr Willi oder Irina; Clara und Paula irgendwo gesehen?“
„Wer ist Willi?“ wollte Alex wissen.
„Ihr Kumpel“, antwortete Oli stellvertretend, wobei Melissa die Betonung auf Kumpel nicht entgangen war. „Den kennt sie aus der Stadtbahn!“
„Ah, interessant...“
Melissa hatte nicht mehr zugehört, sondern forschte mit ihren Blicken die Menge nach ihr bekannten und vermissten Personen ab. Die Uhr vom Friedrichsplatz zeigte viertel nach Vier an.
Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie einen aschblonden langen Pferdeschwanz wiedererkannte und gleich dazu noch ein paar Hände, die sich zwischen zwei ziemlichen Fettbäuchen, die sich gegenüber anschwabbelten, durchwühlten. Die beiden Männer hatten jeweils einen Bierkrug und eine Weißwurst im Brötchen in ihren wurstigen Fingern und lachten blöde. An ihren trippelnden gleichgewichtsgestörten Bewegungen wurde deutlich, dass sie schon einige Promille intus haben mussten. Melissa schüttelte sich.
„Schicke Schuhe!“ rief einer der Betrunkenen Irina nach, die sich um ein gequältes Lächeln bemühte.
„Hey, Irina!“ scherzte Melissa, als sie herkam und sich angewidert die Kleidung abklopfte. „Na...? Wie viele Telefonnummern hast du schon eingesackt?“ Melissa gab ihr einen leichten Schubs.
Irina lachte und schubste sie ebenfalls. „So ein Typ am Torbogen hat mir ein Kondom zugesteckt“, verriet sie leicht verlegen und zeigte es kurz aus ihrer Handtasche. „Der sah ganz passabel aus für sein Alter...“
„Oh, wie alt?“ Neugierig wendete sich Oli ihr zu, bekam aber sofort einen Knuff von ihrem Freund, der ihr von hinten seine Arme um die Hüfte legte und sie kraftvoll an sich presste. Oli wuschelte Alex durchs Haar und drückte ihm seitlich einen Kuss auf die Backe.
„Echt knackig!“ hob Irina erwartungsvoll die Stimme und entgegnete: „Ich schätze so um die dreizehn...“
„Wer?“
Unerwartet schob sich Paula zwischen Oli und Irina unter den Knirps. Die andern lachten und begrüßten sie fröhlich. Allmählich bangte Melissa jedoch um die Unversehrtheit ihres Schirms.
„Echt nicht zu fassen welchen Umgang diese Kinder heutzutage haben, oder?“ Irina schüttelte fassungslos den Kopf.
„Was ist’n los?“ fragte Paula.
„Irina hat von einem Verehrer ein Zeichen seiner Zuneigung bekommen...“ stichelte Melissa.
„Haha!“ machte Irina und öffnete für Paula noch mal ihre Handtasche.
Paula grinste. „Ach, warst du auch am Torbogen?“ Sie fasste in ihre Jackentasche und holte das gleiche Päckchen heraus, das Irina bekommen hatte.
„Da wir gerade von Verhütung sprechen“, Alex meldete sich zu Wort. „Wusstet ihr schon, dass Matzes Freundin schwanger ist?“
Die anderen rissen erstaunt die Augen auf, aber Melissa zeigte sich wenig beeindruckt: „Ist das Kind von ihm?“
Amüsiert fassten die Freunde ihren Gag auf.
„Melissa, schäm dich!” maßregelte Irina sie neckend.
Achselzuckend fragte Melissa weiter: „Woher weiß du das, Alex?“
„Das Mädel ist die Schwester von `nem Freund von mir“.
„Apropos, Schwester“, fiel Oli ein und sprach damit Irina an. „Wo ist deine überhaupt?“
„Keine Ahnung!“ rief Irina. „Wir sind zusammen mit dem Bus gekommen und sie wollte noch was für sich gegen ihre Halsschmerzen aus der Apotheke holen, wir wollten uns hier dann treffen! Boah, hab ich jetzt ganz vergessen, aber dieser Kondomjunge...!“
Melissa klopfte ihr beschwichtigend auf die Schulter. „Sollen wir mal hingehen nach Clara gucken?“
„Ähm...“ Oli wechselte mit Alex einen Blick. „Ihr könnt doch auch allein nach ihr gucken, oder? Wir bleiben hier auf dem Platz...!“
„Bleibt!“ sagte Melissa. „Bis später... und falls ihr Willi, die Gurke, seht... Oli, du weißt ja wie er ausschaut...! Er soll sich nicht von der Stelle rühren!“ Ich könnte ihm auch eine SMS schreiben, aber ob er die lesen kann... Na ja, wäre hilfreicher, ich hätte die Nummer!!
Oli nickte. „Alles klar, wir sehen uns“. Sie fasste Alex bei der Hand und die beiden verschwanden in der Menschenmenge.
„Melissa, ich denke, du kannst den Schirm jetzt wieder zumachen“, sagte Paula auf dem Weg zur Apotheke. „Hat aufgehört“.
Während Melissa den Schirm einklappte, spurteten die Drei über die Straße. „Da drüben?“ fragte sie Irina und deutete auf die Rosenapotheke in einer nahen Seitengasse.
Irina bejahte, als sie sich wieder auf dem Gehweg befanden. „Ja, da wollte sie rein“.
„Sie steht bestimmt in der Schlange!“ sagte Paula aufmunternd.
Die Mädchen betraten die Apotheke, wo allerdings eine ganze Menge Leute an der Kasse anstanden. Die Drei liefen jede einzeln von der rechten und von der linken Seite die Reihe nach vorne und suchten sie nach Clara ab, aber sie war nirgends zu finden. Doch da entdeckte Melissa einen aschblonden Haarschopf hinter einer Zeitung hinter den Teeregalen der Warteschlange.
„Hey, Clara!“ rief sie und mehrere Gesichter drehten sich daraufhin verblüfft nach ihr um. Irina und Paula hatten Clara nun ebenso erspäht und liefen auf das Zeitungsmädchen zu. Clara sah sie kommen und hielt die Zeitung noch höher.
„Hi“, wisperte sie rasch dahinter vor, als die Drei sich zu ihr durchdrängten.
„Hey, was machst du denn hier? Wieso stehst du hier rum? Wir haben auf dich gewartet!“ sagte Irina vorwurfsvoll und wollte ihr das Medizini – Heft wegnehmen. Doch Clara wich aus.
„Psssstt!“ zischelte sie und die anderen blickten sie fragwürdig an.
„Warum seid ihr überhaupt gekommen? Es ist doch noch nicht mal Vier!“ Sie zeigte mit dem Finger auf die antike Standuhr in der Raumecke.
Melissa sah auf ihr Handgelenk. „Die ist stehen geblieben, schau!“ Sie zeigte Clara die Armbanduhr. „Wir haben jetzt genau 16.25 Uhr“.
Clara senkte die Zeitschrift Das Rentnermagazin, wieder fit und jung mit Schwung! und sah die anderen bestürzt an. „Oh, sorry, das wusste ich nicht!“ entschuldigte sie sich ehrlich. Dann verdeckte sie sich wieder hinter der Zeitung und wies Irina, Paula und Melissa mit einer gestikularen Handbewegung zu sich und flüsterte jedes Wort mit einer Pause und fast unhörbar: „In... der... Reihe... steht... Julio!“
„WAS?!“ rief Irina aalglatt aus und die Lautstärke reichte aus, um die Kassiererin auf die Clique aufmerksam zu machen.
Paula und Melissa lachten, als Clara ihre Schwester mit dem Rücken gegen das Teeregal drückte und sie durch ihre Lippenbewegung scharf zurechtwies, aber Clara musste auch kichern.
„Wo steht er denn?“ flüsterte Melissa verschwörerisch, als Irina wieder frei bei ihnen stehen durfte. Sie linste für einen kurzen Moment von der Zeitung rüber in die Warteschlange. Wie in Cobra 11 ! Nachsehen, ob die Luft rein ist.
Clara beugte sich zu ihr: „Da hinter dem großen grüngekleideten Gärtnermensch da, der mit den Gummistiefeln! Ziemlich in der Mitte.“
„Meinst du den Typ, der sich als Frosch verkleidet hat?“
„Oh...! Frosch! Gärtner! Was spielt das schon für `ne Rolle!“ zischte Clara feixend.
Paula meinte plötzlich: „He, den kenn’ ich! Das ist doch unser Nachbar Herr Heinrichs!“
„Ich hab DIE Idee!“ sagte Irina versehentlich laut und wurde von den anderen fast gleichzeitig in die Seite gekniffen. Wieder im Flüsterton wisperte sie: „Also wir machen das so. Paula, du gehst jetzt zu deinem Nachbar und fragst ihn irgendwas und wir kommen mit und suchen Claras Geldbeutel da auf dem Boden, den sie dort zufälligerweise verloren hat...! So hat Clara doch viel Zeit die Lage durchzuchecken, oder?“
„Die glauben doch nie, dass die so blöd ist und ihren Geldbeutel herumliegen lässt, während sie fünf Meter weiter weg eine Zeitung liest!“ widersprach Paula. „Und was soll ich denn den Heinrichs überhaupt fragen?“
„Na ja, vielleicht... ach da reicht doch "Schönes Wetter heute...!"“ winkte Irina gleichgültig ab.
„Klar, da draußen haut’s uns zwar jeden Moment den Hagel runter, aber...“ Melissa machte eine Verzweiflungspause. Der kauft uns sicher schnell ab, dass wir bekloppt sind! Sie atmete tief ein und schielte an die Decke.
„Ich weiß was“, Clara schien eine Idee zu haben. „Iris,“ sagte sie in amerikanischem Akzent, wie Irina vom Spitznamen her genannt wurde. „Wir können das so machen wie du gesagt hast, aber Melissa hat ihre "Kontaktlinsen" verloren!“
„Na gut, wenn ihr meint“, Melissa hatte da eben einen Artikel in der Zeitschrift gesehen: Brille, du kriegst sie früher, als du denkst!
Irina wollte losgehen und äugte noch ein letztes Mal hinter der Zeitung in die Wartereihe vor: „Also... hopp, Melissa, such deine Kontaktlinsen in der Nähe von dem Frosch!...“
„Nein!“ zischte Paula noch und packte Irina am Arm, bevor sie sich in Bewegung setzte. „Ich weiß noch was besseres. Melissa täuscht `ne Ohnmacht vor, während sie auf dem Boden herumkrabbelt! Sie hat nämlich den ganzen Tag noch nichts gegessen und ist Diabetikerin... Dann hat Clara noch mehr Zeit...“
Melissa protestierte, sich mit dem Finger auf die Stirn tippend: „Ich glaub, ihr spinnt! So wie ihr mich da hinstellt, stecken die mich bald frühzeitig in die Klapse! Clara kann sich doch gleich selber hinschmeißen, Julio ist doch beim Sanitäterdienst, oder?“
Die Freunde hielten sich die Hände vor den Mund. „Los, gehen wir, je länger wir noch warten, desto schlimmer“, Clara wischte sich eine Lachträne aus dem Auge.
Sie senkte auf Kommando die Zeitschrift.
Irina fuhr sich noch scherzend durchs Haar und zog sich das Band darin fest. Sie machte einen großen Schritt zum Regal und schaute sich betont interessiert die verschiedenen Teesorten an. Dabei pfiff sie noch ganz nebenbei vor sich hin, bekam aber gleich wieder einen Knuff von den anderen.
Paula lief auf den Nachbarn zu. Melissa, Irina und Clara folgten. Kurz vor Hr. Heinrichs bremste Melissa und kniete sich hin, Irina ebenfalls und beide klopften vorsichtig den Boden ab.
„Hallo!“ Paula tippte Hr. Heinrichs auf die Schulter.
„Hallo, Paula!“ begrüßte er sie gleich darauf höflich und wandte ihr den Kopf zu. Ãœber und über war der mit türkisgrünem Tüll und Stoff einbandagiert worden, einzig die Augen und Nasenlöcher waren zu erkennen. „Helau! Bist du denn auch hier beim Umzug dabei?“
Paula fand das Kostüm ziemlich dämlich, aber sie antwortete freundlich: „Ja, mit meinen Freunden“. Sie wies auf den Boden hin und zu Clara, die nicht weit weg von ihr unentschlossenes Grübeln vor einem Regal mit Wundsalbe vortäuschte und kurz aufsah.
„Was macht ihr denn da?“ hörte Melissa da die schroffe Stimme eines älteren Mannes über sich, dem sie unbeabsichtigt an den Fuß geboxt hatte. „Entschuldigung“, murmelte sie.
„Meine Freundin sucht ihre Kontaktlinsen“, fauchte Irina hinter ihr provoziert zurück und fügte energisch hinzu: „Wenn sie ruhig stehen bleiben würden, wäre das um Vieles einfacher, danke!“
„Unverschämt!“ schimpfte eine Dame mittleren Alters, deren Absatz Irinas rechte Hand gestreift hatte. „Vordrängeln tun sich die jungen Leute auch immer! Wir stehen hier schon eine halbe Stunde, nicht war Puffi?“ Sie streichelte den Pinscher in ihren Armen unterm Kinn. Melissa sah besorgt das weißgebleckte Gebiss auf sich herunter blitzen. Von Frau und Hund...!
Melissa blickte sich mit verzerrter Miene nach Clara um, sie fühlte sich auf dem feuchten süffigen Boden gar nicht wohl, es roch auch nicht gerade vielversprechend nach Hund in den Teppichfasern. Clara verstand. Sie verfinsterte das Gesicht vor dem Gestell und ging schließlich vor Irina und Melissa in die Hocke.
„Habt ihr die Kontaktlinsen wieder?“ fragte sie und unterdrückte ein Schmunzeln. „Ich hab die Salbe doch nicht gefunden“.
„Hast du?“ Irina stand auf und ließ den Blick auf ihr haften. „Schade“.
„Ja“, versicherte Clara grinsend und berührte Melissas Schulter. „Hast du die Kontaktlinsen?“
Melissa schlug der Dame noch "ungewollt" gegen die Füße und meinte dann: „Ach, da sind sie ja!“
„Paula, wir können gehen!“ rief Clara der Freundin zu.
Paula verabschiedete sich noch kurz von ihrem Nachbar und daraufhin schritten die Vier ganz gediegen wieder aus der Apotheke heraus. Sie vermieden es dabei, einander anzusehen.
Draußen rannten sie beinahe zwei kleine Jungen mit Plastikpistole und Sheriffhut über den Haufen. „Also, die Jugend von heute!“ brüllte Irina ihnen nach und die Freunde lachten. Sie flitzten über die Straße und eilten wieder zum Friedrichsplatz zurück.
„Ey, Leut’!“ Irina musste sich den Bauch halten. „Das war echt spitze! Darüber müssen wir unbedingt mal ein Buch schreiben!“
„...Das A und O des Flirtens!“ ergänzte Melissa poetisch und grinste. „Hey, Claire, wie lief’s?“ Sie gab ihr einen Klaps auf die Schulter.
Clara strich sich die Tränen aus den Augen. „Ach, ganz gut. Er hat mal rübergeguckt...“
„Hast du noch mehr darin herausinterpretieren können...?“ Paula schmunzelte.
„Na ja, ich denke Jungs schauen eigentlich immer so aus...“ lachte Claire und kratzte sich an der Nase.
Irina sah auf die Uhr. „16 Uhr siebenundvierzig... Leut’, was machen wir?“
„Oh“, machte Melissa erschrocken. „...Uns Sorgen, wo Willi steckt...!“
„Achje“, Clara blickte sie an. „Stimmt, der wollte doch auch kommen! Was habt ihr denn miteinander ausgemacht?“
„Meines Wissens treffen wir uns um 4 hier!“
Melissa sah sich um. „Wo sind denn eigentlich Oli und Alex hin?“ Sie untersuchte ihr Handy auf Meldungen. Keine SMS. Melissa verstaute es wieder in ihrer Tasche. „Meint ihr, ich soll Willi mal anrufen? – Aber ich hab keinen Bock, ist mir zu teuer!“ Sie überlegte.
„Geh doch zur Telefonzelle“, schlug Paula vor. „Kannst meine Karte haben, falls du keine hast“. Sie holte die Telefonkarte aus ihrem Geldbeutel in der Jacke.
„Genau; danke, Paula, ich ruf Willi zuhause an! Wollt ihr dann schon zum Umzug? Ist ja nicht mehr allzu viel davon übrig um die Zeit...“
Ãœber ihnen kam ein lautes Grollen aus den Wolken.
„Eigentlich habe ich gar keine Lust mehr darauf...“ gestand Irina.
Paula stimmte zu. „Mir ist kalt, ich würde lieber noch in ein Café oder so was gehen...“
Eben spürte Melissa, dass ihr Handy in der Tasche vibrierte. Sie hatte eine neue Nachricht erhalten. Von Oli. „Melle, wir sind zu Party von Alex’ Freund gegangen“, las sie den anderen vor. „Falls ihr wollt, Rudolph- Geißen- Straße 18. Ciao“.
„Nie davon gehört...“ Irina beugte sich zum Display.
Ich wäre in der Tat genauso schlau, wenn sie geschrieben hätte: Berlin, Veilchenweg...!
„Geht schon mal vor ins Rigoletto und bestellt noch eine vierte Tasse heiße Schokolade, ja?“ Melissa wollte los in Richtung Telefonhäuschen. Das nächstgelegene befand sich an der Bushaltestelle, von der sie gekommen war.
„He, Melissa, ich komm mit, brauchst doch nicht allein gehen“, Clara hakte sich bei ihr ein.
„Okay“. Melissa bemerkte ein paar Wassertröpfchen auf den Plastersteinen. Sie öffnete ihren Schirm und Clara schlüpfte darunter.
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Der blondierte Kellner kam zu ihnen. „Zusammen oder getrennt?“
„Jeder selbst“. Irina schob ihre Münzen zur Tischmitte.
„2.20 macht’s dann für jeden“. Er kassierte das Geld und ging nach einem „Bye!“ zum nächsten Tisch, wo ihn drei andere Mädchen schon mit ihren Blicken taxierten. Melissa schätzte sie auf Vierzehn. Frage mich, ob die das hier irrtümlich für `ne Tabledance – Bar gehalten haben. Sie musterte kritisch ihr Outfit.
Die Freunde verließen das Café. Nicht weit von der Tür parkte ein rotes Auto.
„Also, ciao!“ riefen Clara und Irina und stiegen ein zu ihrem Vater. Paula und Melissa grüßten zurück und liefen zusammen weiter.
„Wann kommt dein Bus?“ wollte Paula von Melissa wissen.
Melissa schob den Jackenärmel vom Handgelenk. „Äh... JETZT!“ Sie raste los. „Tschüß!“
„Ciao!“ schrie Paula zurück und Melissa düste die Gasse herunter. Sie bog um die Ecke und da fuhr gerade ihr Bus an die Haltestelle. Gerade noch rechtzeitig huschte sie zwischen die sich schließenden Wagentüren und der Fahrer fuhr ab.
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Gegen Neun Uhr klingelte Melissa an der Wohnungstür. Schlurfend trottete jemand heran und ließ sie ein. Ingela sah müde und erhitzt aus. Ihre Nase war puterrot und die Augen glänzten. Sie trug ihren Bademantel mit dem Pyjama drunter und dicke Wollsocken.
„Krank?“ Melissa legte ihre Sachen ab und kam hinter ihr ins Wohnzimmer.
„Ich fühl mich echt elend“, Ingela nieste, warf das Tempo auf einen großen Haufen aus weiteren Taschentüchern und kuschelte sich auf dem Sofa in eine Decke. Im Fernseher wurde Karnevalstreffen gefeiert. Melissa setzte sich in den Sessel: „Dich hat sicher die 40°C - Grippe erwischt. In der Apotheke war’s heute auch echt voll...“
„Ich dachte du und deine Freunde waren auf dem Faschingsumzug!“
„Na ja, eher so halb. Wir haben noch `ne Besorgung machen müssen...“ Melissa kratzte sich die Nase. „Als wir auf dem Friedrichsplatz die vielen Leute gesehen haben, haben wir uns lieber ins Café gesetzt“.
„Mann, wir standen eine Stunde lang im Stau! Eine Stunde! Ständig sind irgendwelche Scherzkekse in Kostümen an uns vorbei und haben herumgeblökt und herumgeblödelt... Und so ein paar Typen auf dem Mofa haben uns `ne Flasche Bier über die Windschutzscheibe gekippt... Ach du, als wir zurückgekommen sind war `ne Nachricht von einem Willi für dich auf dem AB...“
„Ja, er hat mir vorhin am Telefon schon gesagt, dass ihm auch nicht gut ist...“ Melissa ging zum Wohnzimmerschrank. Sie öffnete ihn und nahm ein Kartenspiel heraus. „Wir spielen eine Runde. Wo sind eigentlich Mama und Sebastian?“
Ingela hustete. „Weg, Essen“.
Melissa nahm die Karten heraus und mischte.
Auf einmal klingelte es an der Wohnungstür. „Oh, das ist Daniel!“ Ingela sah Melissa an. „Kannst du bitte aufmachen? Mir ist grad wirklich kotzübel!“
Melissa nickte und ging mit den Karten in der Hand zur Tür. Sie staunte nicht schlecht. Guter Geschmack, Ingela! Dafür dass er blond ist... nicht schlecht...! „Hallo...!“
Daniel kam herein. „Hi“.
„Sie liegt im Wohnzimmer“, sagte Melissa und kam sich dabei vor, als wäre sie eine Schwester von der Intensivstation.
Daniel lief zu Ingela ins Zimmer und setzte sich zu ihr auf die Couch. „Oh, Spatz...!“ Er strich ihr über die Wange, küsste sich auf die Hand und drückte sie Ingela behutsam auf die Stirn. „Du Arme! ...Ich hab dir was mitgebracht!“ Melissa guckte vom Sessel aus zu ihnen herüber und fühlte, wie doch ein bisschen Neid in ihr aufkam.
Daniel griff in seine Jackentasche und holte ein Päckchen Lakritz für Ingela heraus. „Hier, ich weiß doch, wie gern du das magst...! War extra noch nach der Arbeit in der Drogerie. Aber die darfst du erst essen, wenn du wieder gesund bist, ja?“
„Fällt mir schwer, aber ich tu’s nicht. Versprochen!“, Ingela streichelte Daniel den Arm. „Danke, lieb von dir“. Sie blickte zu Melissa rüber, die die Spielkarten wieder wegsteckte und in ihr Zimmer gehen wollte. „Hey, Melle! Kneifst du jetzt oder was? Wir machen Poker, da mach ich dich so richtig fertig, verlass dich drauf, ich zock dich ab!“
Zum ersten Mal hatte Melissa Ingela ihren Spitznamen sagen hören. Sie blickte Ingela erstaunt an. Ingela lächelte sie herausfordernd an.
„Das ist ja fies, ich hab das noch nie gespielt“, meinte Melissa und nahm gezwungen die Karten heraus.
„Pah! Traust dich wohl nicht!?“ funkelte Ingela zurück, warf ein weiteres Tempo zu dem Haufen und setzte sich auf.
Melissa drehte die Karten in der Hand. Sie musterte Ingela kritisch und begann zu mischen. Ingela hatte den Blick immer noch nicht abgewandt und Melissa sah nicht weg.
„Ich gebe, ich gewinne, du verlierst!“ sagte sie und teilte aus.
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„Aua!“ Die Bonbons prasselten Melissa direkt auf den Kopf. Willi und die anderen lachten.
„Mann, Melle!“ rief Willi. „Hab dir doch gesagt, wenn du soweit vorne stehst, tut’s weh! Aber du hattest die Wahl...Bonbons oder Gehweg!“
Die beiden Männer in der Waldschratverkleidung über Melissa schwenkten die Weingläser dazu in den Händen: „Helau!“
Dann rollte der Wagen weiter. Um Melissa herum wuselten lauter kleine Kinder in Feen-, Vampir-, Cowboy-, und Katzenkostümen und sammelten die Süßigkeiten vom Boden weg. Sie hätten Melissa beinahe umgerissen, weil sie ihr ständig zwischen die Beine griffen, um an die Bonbons heranzukommen. Schnell hüpfte sie zum Straßenrand und Willi folgte nach.
„Sag mal, Willi, blute ich?“ Sie wendete ihm den Scheitel zu.
Er fuhr ihr dort durch die Haare. „Ja, ein bisschen“.
Er lachte über den Witz. „Das Konfetti saugt’s wieder auf, mach dir nichts draus“.
Melissa schüttelte sich das Zeug aus den Haaren.
„Willi, ich will ein Eis!“ die fast- Stiefschwester zerrte ihn am Hosenbein.
„Schön, Lara, ich will Ferien! Oh bitte, eben musstest du doch erst auf die Toilette!“
Melissa lachte und nahm den Kopf wieder hoch. „Lara, ich geh mit dir, ich brauch mal eine Pause!“ Das Mädchen strahlte.
Willi schüttelte den Kopf. „Bei dem Wetter ein Eis! Lara, setz dich doch gleich in die Tiefkühltruhe!“ Trotzdem gab er Melissa etwas Geld in die Hand und bedankte sich dafür, dass sie mit ihr ging. „Du Willi“; meinte Melissa. „Ich wollte doch noch in die Bücherei...“
„Lass dir Zeit!“
Lara griff Melissa bei der Hand und zog sie auf den Gehweg. Sehr bestimmt für ihr Alter! fand Melissa und lächelte.
Unterwegs zum Eisladen kamen sie noch am Flomarkt in der Kirchengasse vorbei. Bücher, Kassetten und Kleider, die man unter vermodert, verlaust und versaut einkategorierein könnte. Unwillkürlich warf Melissa einen Blick in die Kartons, sie sah nebenbei auch noch Kleidungsstücke, die neuer schienen, vielleicht kamen sie nur aus einem Billigladen und wurden schlecht darin verkauft. Hey, diese schmierigen Baseballmützen da drüben kommen mir irgendwie bekannt vor... Irgendwo hatte Melissa diese verfilzten Mützen schon gesehen, sie kam und kam aber nicht drauf.
Lara wusste genau, wo der Eisverkäufer stand und führte Melissa zum Marktbrunnen. Sie bekam ihr Schokoladeneis und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Die Beiden setzten sich zusammen auf eine kleine Holzbank am Brunnen und Lara schleckte genüsslich. Melissa sah ihr aufmerksam zu und lächelte über deren Schokoladenbart um die Lippen. Lara aß schnell. Als sie nur noch die Eistüte in der Hand hatte, fütterten sie und Melissa damit die Tauben. Dann gingen sie zur Bücherei.
Nachdem Melissa die Ingelas fällige Bücher am Schalter abgegeben hatte, stürmte Lara blitzartig die Treppen nach oben vor. Erschrocken sah Melissa jemanden mit einem großen Stapel Bücher vor dem Gesicht die Treppe hinunterwanken.
„Vorsicht, Lara!“ schrie Melissa, aber da war es schon zu spät. Die beiden waren ineinandergekracht. Shit! Alarmiert rannte sie auf den Umgerannten zu und sah eine lackierte Baseballmütze auf der Stufe liegen. Sie schüttelte sich angewidert. Doch da fiel es ihr wieder ein. Plötzlich wusste sie, wer solche Mützen so gerne trug. Matze!
Noch hatte er sie nicht erkannt und lag auf den Stufen. Lara stand zitternd auf und streckte ihm ein Buch, das auf der Treppe verstreut worden war entgegen. Matthias rieb sich den Kopf, bedankte sich lächelnd bei ihr und legte es neben sich. Dann sah er Melissa hochkommen.
Sein Gesicht verfinsterte sich plötzlich. „Baumann!“
Melissa wunderte sich, wie verärgert er auf einmal klang: „Johnson!“
Matthias raffte sich hoch und blickte sie an. „Bist du zu dumm, um auf deine kleine Schwester aufzupassen?!!“
„Wenn jemand so schlau ist, sich mit zum Hals mit Büchern vollzupacken...? Melissa bückte sich nach einem Buch, das wie die andern auch mit der Vorderseite auf die Stufen gefallen war und drehte es um. Die frühe Vaterschaft ?
Aufgebracht riss Matze ihr das Buch aus der Hand. „Pfoten weg! Ich kann das selber aufheben, klar?!!!“ Er blickte sich rasch nach der Lektüre um.
Melissa war ganz perplex und starrte ihn verwundert an. Sie hätte nie gedacht, dass Matze sich solche Bücher ausleihen würde. Im Nu war Matthias wieder auf den Beinen, sammelte sie um sich herum auf und beeilte sich, die Stufen hinunterzugehen.
Melissa blickte ihm hinterher.