Romane & Erzählungen
Das Goldene Zeitalter - Kapitel 17

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"Das Goldene Zeitalter - Kapitel 17"
Veröffentlicht am 01. Dezember 2012, 4 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Die Pflicht des Menschen ist seine stetige Vervollkommnung. Ich versuche dies jeden Tag ein klein bisschen, zumindest wenn es durch Bücher geschieht.
Das Goldene Zeitalter - Kapitel 17

Das Goldene Zeitalter - Kapitel 17

Einleitung

Johanna erhält von Dr. Bruner vertiefte Informationen über die Arbeit der Historiker. Titelbild: www.pixelio.de/©Gerd Altmann/PIXELIO

Es war ein stinklangweiliger Kongress, zumindest für Dr. Johanna Niedermeyer. Der erste Abend, an dem sie mit ihrem alten Mentoren hatte sprechen können war ihr wohlig in Erinnerung. Jetzt aber saß sie, gekleidet in einen Businessanzug, auf einem sehr bequemen Stuhl und hörte den Worten von anderen Kollegen zu. Aber so recht wollte sie nicht hören. Zuerst lag das daran, weil sie fast die letzte Präsentation hielt, nur ein anderer Redner folgte ihr. Es war also unwahrscheinlich, dass vor ihr irgendetwas Interessantes gesagt werden würde, denn es war klar, dass man sich die Überraschung bis zum Schluss würde aufheben. Jetzt während des offiziellen zweiten Tages, denn Tag eins, den sie erlebt hatte, war nur der Anreisetag gewesen, der nie mitgerechnet wird und der offizielle erste Tag war bereits vorbei, wünschte sie sich wieder nach Hause. Sie würde am späten Nachmitttag sprechen. Die letzten Präsentationen fanden immer am letzten Tag statt ab Nachmittag und am Abend wurden dann Feiern abgehalten, wo man sich immer beglückwünschte, wie gut man sich präsentiert hatte und was für tolle Ergebnisse erzielt worden sind.

Johannas Erfahrungen dahingehend waren nicht allein positiv. Zu späterer Stunde kam es oft vor, dass die schon schwer alkoholisierten Herren sich sehr plump an die Frauen heran warfen. Und die waren nicht wenige, denn gerade bei den Biologen schickte man fast nur Frauen. Und Johanna hatte keine Lust sich von einem betrunkenen Deppen in den Ausschnitt glotzen zu lassen und womöglich nicht nur dumm anquatschen zu lassen, sondern auch betatschen zu lassen. Es waren zwar auch Wissenschaftler, aber sobald man zu viel im Tee hatte wurden auch solche gelehrten Menschen zu plumpen Urzeitwesen.

Zudem waren alle Präsentationen zwar schick, doch auch ihre Kollegen mussten sich in die grausame Wahrheit ergeben, dass es nicht Neues gab. Es war einfach nicht Neues herausgefunden worden, Punkt. Und da nutzte die hübscheste Verpackung nichts, wenn der Inhalt nur Luft war. Zwar klatschte man artig, doch alle wussten natürlich, dass dies nur Schein war. Denn hier saßen keine Laien, sondern nur Fachkompetenz. Und jeder aus seinem Fachbereich konnte exakt einschätzen, was da gesprochen wurde. Und sie wusste auch, dass es ihr nicht anders ergehen würde. Man blieb eigentlich nur, weil man auf den entscheidenden letzten Tag wartete und innig hoffte, dass doch noch eine Bombe würde platzen. Doch häufig war diese Versprechung nur heiße Luft und es war nicht viel Revolutionäres von den Sprechenden zu hören, auch wenn sie die Letzten waren. Wenigstens wurde man darin bestätigt, dass das eigene Fachgebiet nirgendwo auf dieser großen, weiten Welt irgendwie voran kam. Das befriedigte wenigsten marginal.

Nachdem Johanna am Abend den Tag beschlossen hatte und die Anwesenden laut klatschten, weil sie die Nichtergebnisse so schön verpackt hatte, begab sie sich wieder in die Bar und ließ ein Glas Rotwein ihre Gesellschaft sein.

In einigen Augen der Zuhörer hatte sie so etwas wie ein aufgeregtes Funkeln erkennen können, denn ihre Präsentation musste Begehrlichkeiten geweckt haben. Doch diese Hoffnungen wurden spätestens in dem Moment zerstört, als sie verkündete, dass es das war.

Während sie noch einmal die gewonnenen Eindrücke des Tages Revue passieren ließ gesellte sich ein junger Mann zu ihr, den sie zuvor noch nicht gesehen hatte.

„Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen setzen, Frau Doktor Niedermeyer?“

Sie setzte das Glas ab und blickte ihn groß an. Woher kannte er denn ihren Namen? War er auch während ihrer Präsentation anwesend gewesen? Schwer zu sagen, denn die hinteren Reihen konnte sie nicht erkennen, also hätte er dort auch sitzen können. Doch da saßen nur Fachleute, die sie fast alle zumindest vom Aussehen her kannte. Diesen Mann aber nicht, er konnte also sehr wahrscheinlich kein Antriebstechnologe sein, oder ein sonstiger artverwandter Ingenieur. Aber wer war er denn dann?

„Ja, bitte, setzen Sie sich doch“, bot sie ihm den Platz an ihrem Tisch an und er setzte sich dankbar.

„Oh, entschuldigen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe“, lachte er, denn er sah ja auch ihren verwirrten Blick.

„Dr. Nathan Brunner, ich bin ein Assistent bei der Historikergruppe von Dr. Winkelmann.“

Johannas Miene erhellte sich sofort.

„Sie arbeiten also mit ihm zusammen?“

Nathan nickte. „Wir arbeiten gerade sogar zusammen an der Geschichte des europäischen Mittelalters. Er sagte mir, sie beide würden sich noch aus seiner vorherigen Tätigkeit kennen und dass ich mich mal mit Ihnen anfreunden sollte. Und ehrlich gesagt, was er mir erzählte hat mich äußerst neugierig gemacht“, eröffnete er und beigte sich zu Johanna hinüber. Diese musste unweigerlich kichern.

„Verzeihen Sie, aber wie meinen Sie denn das?“

„Nun, er erzählte von Ihren wissenschaftlichen Arbeiten und vor allem der Arbeit, die Sie nebenbei betreiben. Und vor allem die finde ich sehr interessant. Zudem sagte er mir, Sie würden sich gerne uns anschließen.“

Sie nickte. „Ja, ich wäre gerne mit ihm vor ein paar Jahren hinübergewechselt. Aber ihn nahm man gerade so noch an, ich kenne die Ergebnisse des damaligen Abstimmungsverfahrens. Und wenn man einen so berühmten Mann wie ihn nur so knapp akzeptiert, obwohl er große Dinge vorzuweisen hat, dann ist es ja nicht sehr wahrscheinlich, dass an  mich auch nehmen würde. Ich werde wohl noch ein paar Jahre damit verbringen müssen kleine Erfolge einzufahren auf einem Gebiet, was momentan seinen Zenit erreicht hat, jedenfalls solange wir nichts Neues entdecken, was uns plötzlich viele neue Optionen eröffnet“, verfiel sie wieder ins Klagen und nahm sich augenblicklich zurück aus Angst, der junge Mann würde es falsch verstehen.

„Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen hier was vorheule. Sie werden jetzt nur schlecht von mir denken!“, erwiderte sie lachend und trank einen ordentlichen Schluck Rotwein.

„Ach was! Ich würde doch nicht schlecht von jemanden denken, der so eng mit unserem großen Dr. Winkelmann befreundet ist und mit ihm großartige Arbeit geleistet hat.“

Johanna errötete. „Bitte, hören Sie auf mich so zu loben.“

„Schön, ich lasse es. Aber ich will Ihnen einmal zeigen, dass unsere Arbeit auch nicht nur eitel Sonnenschein ist.“

Johanna beugte sich nun auch zu ihm vor.

„Sie machen mich aber neugierig. Erzählen Sie bitte. Ach ja, wollen Sie eigentlich etwas Trinken?“, fragte sie beschämt, weil sie die Gastfreundschaft bisher vollkommen außer Acht gelassen hatte.

„Gerne, für mich bitte auch einen Rotwein.“

Sie winkte eilig den Kellner herbei und gab die Bestellung auf, welche er auch prompt erledigte.

„So, stoßen wir erst einmal an?“, fragte er sie und ohne ein weiteres Wort erklang der Klang von zwei zusammenschlagenden Gläsern.

„Beginnen wir vielleicht erst einmal mit einer Sache, die ganz offensichtlich problematisch ist. Sie dürften sich eine ungefähre Vorstellung davon machen, wie wir uns Material beschaffen und vor allem, welche Schwierigkeiten damit verbunden sind.“

Sie nickte.

„Multiplizieren Sie das mit hundert und es kommt annähernd hin. Es ist grausam! Viele Bücher verweisen auf andere Bücher oder unbekannte Stellen und wir versuchen diese dann aufzuspüren. Aber offizielle Suchen bringen da nichts, denn offiziell gibt es die Meisten dieser Bücher einfach nirgendwo! Also müssen wir illegale Kanäle nutzen. Ja, ich sage es frei heraus, weil es so ist. Wir haben eine Sondergenehmigung so etwas zu machen, das heißt auch, dass man uns dafür nicht belangen kann, sofern dies allein der Arbeit dient. Solche Bücher dann in Privatbesitz zu behalten läuft auch uns ans Bein. Und wir müssen das Gleich machen, was auch Dr. Winkelmann gemacht hat. Wir müssen unsere Quellen offen legen und diese denunzieren. Damit verschwinden unsere Quellen. Den einzigen Vorteil, den wir haben ist derjenige, dass wir dann in den zu vernichtenden Beständen nachsehen dürfen, was wir nehmen und den Rest blasen sie dann durch den Schornstein. Dumm sind zwei Szenarien dabei. Zuerst, wenn wir Bücher der Vernichtung preisgeben, die wir später einmal nutzen könnten, aber wir können nicht alle behalten, Vorschrift. Mindesten 10% müssen verschwinden. Und bei kleinen Beständen sind solche 10% schon tödlich, wie Sie sich vorstellen können.“

Johanna stellte sich vor, wie toll es wäre auch diese Möglichkeiten zu haben.

„Nebenbei muss man ja sagen, die andere blöde Alternative ist auch, dass irgendjemand diese Quelle versiegen lässt und nicht wir selbst, weil irgendjemand einen dieser Sammler denunziert oder man den Käufer ausfindig macht und schließlich alles vernichtet. Dann gehen uns teilweise wichtige Schätze einfach sehenden Augen verloren. Das ist verdammt frustrierend müssen Sie wissen.“

Johanna verstand. Natürlich war der Blankoscheck zum Suchen nach den alten Werken erst einmal verlockend. Wenn man dann aber sah, welche Probleme damit verbunden waren, dann konnte einem die Freude wohl wirklich daran vergehen.

„Das nächste Problem ergibt sich aus den verwendeten Sprachen. Wir haben manche Sammlung zusammengestellt, die aus 5 oder 6 verschiedenen Auflagen besteht. Da schleißt das eine Buch ab, wo das Andere nicht weitermacht, oder es überschneidet sich manches. Und dann die unterschiedlichen Sprachen. Wir können manche interessante Passage nicht deuten, weil es einfach unmöglich ist, weil keiner die Sprache noch kann. Und wenn doch, dann ist es manchmal eine wahre Sisyphusarbeit da auch den richtigen Sinn herauszuarbeiten. Am Einfachsten sind da noch Bücher in altem Englisch. Glücklicherweise beherrscht Dr. Winkelmann so viele Sprachen. Er hat uns echt geholfen. Wie ich hörte arbeiten Sie an ihren Deutschkenntnissen?“

Johanna nickte. „Ja, ich beschäftige mich mit deutschen Werken.“

„Historische Werke?“, wollte Brunner genauer wissen.

„Nein, wobei, was ist heutzutage nicht schon historisch? Nein, religionswissenschaftlich.“

Er nickte. „Die sind aber auch von großer Bedeutung, denn gerade die Epochen, die wir erforschen, waren noch sehr von der Religion bestimmt. Ein vertieftes Wissen darüber kann wohl einige Verhaltensmuster genauer erläutern. Oh, Sie wären hilfreich an manchen Stellen, wo wir keine Ahnung habe, was wir mit den Verweisen auf irgendwelche Stellen in der Bibel anfangen sollen.“

Johanna jubelte innerlich. Solche Bewerbungen konnten ihr noch nützlich sein.

„Naja, ich bin ja noch nicht sehr weit gekommen. Ich kann bisher ja noch nicht auf die Quellen zurückgreifen, die sie alle nutzen können. Ich habe ja dafür noch nicht die Genehmigung.“

„Schade, eigentlich. Aber so etwas wie eine externe Genehmigung gibt es nicht. Der Grund ist aber auch verständlich, weil man die sonst ganz frei austeilen könnte und dann hätte plötzlich jeder eine und der Sinn des Verbotes wäre aufgehoben. Aber trotzdem gibt es Momente, da würde man es schon gerne anders haben.“

Dann blickte er wild um sich und sah, dass die Bar bisher wenig frequentiert wurde.

„Die letzte Sache für heute, die ich Ihnen erzählen will ist ein wenig delikat. Sagen wir so, das was ich bisher sagte, ist irgendwie alles verständlich, aber was nun folgt, wird Sie vielleicht nicht so sehr erstaunen, denn auch Ihre Wissenschaft ist, genau wie jede andere, reguliert durch die Behörden. Aber was wir teilweise erleben kann doch nicht mit den Erfahrungen der Anderen gleichgesetzt werden.“

Johanna blickte ebenfalls verschwörerisch um sich und beugte sich ganz nah zu Brunner hinab sodass sie seinen warmen Atem spüren konnte.

„Bitte, erzählen Sie“, forderte sie ihn, mit bebender Stimme, auf.

„Nun, man kann sich ja vorstellen, dass nicht immer alles schlecht gewesen ist, Wie sollten denn sonst die Vordenker unserer Gesellschaft in den naturzuständen gelebt haben? Nun ja, aber abgesehen von Denen gab es weitere große Personen der Geschichte, die wir aber in der Tat unerwähnt lassen. Besser gesagt, selbst wenn wir sie exakt erforscht haben versuchen wir ein haar in der Suppe zu suchen, sei es in der Lebensführung, gewissen Auffassungen etc. Und man kann bei jedem Menschen irgendetwas finden. Und es gibt auch manche geschichtliche Epoche, die geradezu Erstaunliches zu Tage förderte, aber wir lassen das entweder im Nebel, oder setzen es in ein falsches Verhältnis zu den negativen Dingen jener Zeit. Und wir verwenden sehr gerne die Ansicht von heute und versuchen sie auf die damalige  Zeit zu projizieren. Damit einhergehend kann man, das wird nicht verwundern, praktisch alles schlecht finden, denn nachher ist man ja immer schlauer, nicht wahr? Man kann sogar an den guten Sachen etwas aussetzen, aber wenn es uns hilft und unserer Gesellschaft nützlich ist verbergen wir selbst die schlimmsten Schnitzer der Erfinder oder der Ideengeber.“

Johanna war erschüttert.

„Sie betreiben also wissentlich Geschichtsfälschung?!“, fragte sie erschrocken.

„Pst. Bitte nicht so laut!“, mahnte Nathan Brunner sie. „Das muss ein Geheimnis zwischen uns bleiben. Ich wollte Ihnen ja vordergründig zeigen, dass bei uns auch nicht alles Gold ist, was glänzt, wenn Sie mir diese Redewendung gestatten.“

„Nun, aber können Sie da nicht ein wenig intervenieren, wenigsten die Wahrheit manchmal ein wenig durchscheinen lassen?“

Dr. Brunner blickte sie verständnislos an.

„Wenn wir dies könnten, dann würden wir es auch tun. Aber das geht leider nicht, weil die Gesellschaft uns im Wege steht, verstehen Sie? Das ist ein ganz normaler Vorgang. Jede Gesellschaft muss sich legitimieren. Und die Meisten tun dies aus der Geschichte heraus. Unsere Gesellschaft hat in diesem Sinne keine eigene Geschichte, weil sie eine neue Epoche ist nach einem verheerenden Schnitt. Aber es gab Geschichte davor. Natürlich muss man diese zur Hand nehmen. Und was macht man dann? Man hat ein neues Dogma für alle Menschen aufgestellt und hat nur die besten Absichten. Aber was ist denn dabei das Problem? Können Sie es mir sagen?“, wandte er sich an seine Zuhörerin.

„Naja, die Geschichte entspricht nicht diesem neuen Dogma, was sie ja auch nicht kann.“

Er klatschte in die Hände.

„Exakt, das ist der springende Punkt. Aber was machen wir denn dann? Was nicht passt muss passend gemacht werden, oder eben in unserem Fall muss es so angepasst werden, dass man nur zeigen kann, dass alles andere davor schlecht war. Und keine Frage, man kann, wenn man will, nur schlechte Sachen finden. Aber das ist doch nicht ausgewogen oder unvoreingenommen. Wenn man nicht einfach mal etwas Gutes entdecken kann und dies dann als herausragend in einer Zeit der Dunkelheit herzeigen kann. Aber genau das umgehen wir, sofern es nicht interessant für uns ist. Man kann sagen, wir haben immer die Vorgaben vor der Nase, egal was wir herausfinden. Und wenn wir dann erst einmal alles ordentlich herausgefunden haben, dann müssen wir es so kommentieren, wie es gewünscht ist. Und glauben Sie ja nicht, dass es das schon wäre. Auch bei Ihnen müssen ja erst die Zentralen und dann die Weltzentrale alles abnehmen und allgemein freigeben. Das ist ja bei und nicht anders. Da kommen dann die Experten von denen, lesen sich alles durch, unseren Urbericht und dann, was wir daraus gemacht haben. Und die sind gnadenlos. Alles, was denen nicht passt haben wir nochmal nachzuarbeiten oder sogar in ein schlechtes Licht zu rücken, auch wenn wir dachten, das wäre nicht nötig oder wir könnten das gar nicht. Aber die wenigen Jahre die ich nun schon dabei bin, die haben mir dahingehend gereicht.“

Johanna verstand ja die Wut von Dr. Brunner, trotzdem war sie nicht so verzweifelt wie er, besser gesagt, sie war nicht so abgeschreckt.

„Das ist verständlich, dass einem das nicht gefällt, aber glauben Sie nicht auch, dass es nicht schlecht ist das Wissen, was man hat, zu haben? Immerhin wissen wir alle irgendwelche Sachen, die wir nicht sagen dürften. Mag es aus Gründen des Anstandes oder aus Gründen des Strafrechts sein, aber immer müssen wir irgendetwas verheimlichen. Also, kein Grund gleich alles wegzuwerfen. Dafür dürfen Sie und ihre Kollegen auf einem Gebiet forschen, wo man ein ganzes Leben lang nur wenige Jahre beleuchten kann und so viel Wissen ansammeln kann, weil die Geschichte von früher erst mal rekonstruiert werden muss. Sie kommen zu Erkenntnissen, werfen alles bisher zu wissen Geglaubte um und machen es neu. Das ist doch herrlich. Zudem sehen Sie meist Land oder haben ein gewisses Ziel vor Augen. Wissen Sie, dass es eben das ist, was wir nicht mehr haben? Wir wissen sicherlich, was wir wollen, aber wir haben nicht allein die Schwierigkeit, dass wir nicht genug Material finden, nein. Primär haben wir das Problem, dass wir irgendwelche Sachen haben, aber damit nichts anfangen  können und wir haben nicht die Möglichkeit dann einen Experten zu holen, der uns dieses Problem lösen kann, indem er irgendeinen Text übersetzt. Und wir können, wenn wir in der Sackgasse stecken, nicht einfach irgendetwas Anderes erforschen. Ich denke nicht, dass mich die Zensur fertig machen würde. Natürlich ist es schlimm, was da geschieht, aber es dient ja auch eine gewissen zweck, Und je gefestigte die Gesellschaft ist, desto mehr wird sie die Wahrheit vertragen. Immer wieder werden plötzlich Erkenntnisse zur Verfügung gestellt, die wir schon vor 20 Jahren erlangten, aber sie nie publik machen durften. Also, sehen Sie nicht so schwarz, auch wenn es manchmal so erscheinen mag. Wir stecken da viel mehr im Schlamassel. Sollte es Ihr Ziel gewesen sein, weil Dr. Winkelmann glaubte, mich so ein wenig zu besänftigen, mich von meinem Wunsch abzubringen, so haben Sie das leider nicht geschafft. Noch immer hege ich den Wunsch, vielleicht sogar noch mehr als zuvor, weil ich ja jetzt weiß, welche weitreichenden Befugnisse sie alle haben.“

Dr. Brunner blickte ein wenig verschämt zu Boden.

„Naja, ich will Sie nicht belügen, Dr. Niedermeyer. Es war in der Tat mein Ziel ihren Wunsch nach der Stelle bei den Historikern ein wenig zu dämpfen. Aber das habe ich ja offiziell verpasst. Und Sie hatten recht, Dr. Winkelmann schickte mich. Er lässt Ihnen ausrichten, dass er sein Bestes versuchen wird, aber allein das kann nicht reichen. Er tut alles, was in seiner Macht steht und wir unterstützen ihn, muss ich dazu sagen. Denn gerade das Thema, an dem Sie forschen, dass könnte uns von nicht unerheblichem Wert sein. Es könnte sogar gut sein, wenn Sie noch ein wenig mehr Zeit in ihrer festgefahrenen Situation verbringen, denn dann können Sie ihre Kenntnisse noch weiter vertiefen und außerdem noch mehr Material ansammeln. Sollten Sie dann zu uns stoßen werden Sie wohl ebenso wie Dr. Winkelmann empfangen, denn als der mit seinen dicken Stapeln an Material ankam haben viele Kollegen sich allein deswegen dafür entschieden für eine Aufnahme des Externen zu entscheiden. Das war seinerzeit umstritten, auch Ihr Lager hat es nicht gerne gesehen, das wissen Sie ja.“

Johanna nickte. Sie erinnerte sich auch daran, dass sie seinerzeit schon einige der Schriften von Winkelmann, die er dann mit hinübernahm abgetippt hatte. In jener Zeit hatte er auch ihr Interesse für die Geschichtsforschung geweckt.

„Ja, es war nicht einfach für ihn. Er hat mir erzählt, dass man ihn gerade so akzeptierte und nicht gleich wieder aus der Forschungsgruppe warf. Man muss dazu sagen, dass es äußerst gewagt von ihm war, denn hätten sie ihn zurückgeworfen, dann können Sie sich ja ungefähr vorstellen, was dann unsere Leute mit ihm angestellt hätten, einem führenden Kopf, der alle verraten hatte und damit gescheitert war.“

Brunner leerte sein Glas, genau wie Niedermeyer.

„In der Tat, das war keine einfache Sache. Nachdem man ihn aber angenommen hatte und er seine Ergebnisse präsentierte und zwar vollkommen, denn im Verfahren der Aufnahme hatte er nur ein selbstgefertigtes Best of präsentiert, wurde selbst den Zweiflern klar, was dieser Mann uns allen helfen konnte. Und nach einem Jahr war sein Ansehen durch die geleistete Arbeit so sehr gewachsen, dass er fast ohne Gegenstimme zum Vorsitzenden unserer Forschungsabteilung gewählt wurde. Und ehrlich gesagt, um dies hier abzuschließen, freue ich mich, dass ich Sie nicht entmutigen konnte, denn  ich habe das Gefühl, Sie können uns noch sehr nützlich sein.“

Johanna strahlte ob dieses Kompliments. Dann erhoben sich beide, verabschiedeten sich mit freundlichen Worten und gingen auf ihre Zimmer.

Auch wenn der Kongress an sich morgen Abend würde zu Ende gehen hatte Johanna mehr bekommen als sie erwarten durfte, denn jetzt hatte sie einen Eindruck auf die Historikern gemacht und vielleicht half das ja in Verbindung mit der Autorität ihres ehemaligen Mentoren am Ende doch bald auf die andere Seite zu wechseln. Zumindest träumte sie in dieser Nacht bereits davon.

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RogerWright
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