Jessica Stewart
Ich habe mich heute mit Leslie schön
kapputtgelacht. Sue Dawn hatte nicht mal ein Auto, wie eine Grossmutter kam sie auf dem Fahrrad zur Schule. „Mrs. Stewart, Sie können nun zu Ihrer Mutter“, die Krankenschwester holte mich aus meinen Gedanken. Ich lächelte ihr dankend zu, bevor ich das Krankenzimmer betrat. Es roch nach Arzt und Desinfektionsmittel. Meine Mutter lag in einem Bett und war an mehreren Geräten angeschlossen. Als sie mich erblickte, huschte ein schwaches Lächeln über ihre Lippen. Ich trat sofort an ihr Bett. „Mum, wie geht es dir?“, fragte ich sie. „Schon ganz gut, mein Schatz. Mach dir keine Sorgen, morgen werde ich schon wieder entlassen. Was ist genau mit mir passiert? Ich kann mich an nichts mehr erinnern.“ „Das kann ich dir nicht sagen, ich weiss es selber nicht genau. Du bist vermutlich entführt worden. Doch weswegen, weiss ich auch nicht. Tut mir leid“, flüsterte ich. Sie schüttelte sanft den Kopf.
„Schon gut, ich wills auch gar nicht so genau wissen, Hauptsache ich komme hier bald raus“, sagte sie. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich möchte, dass du heute bei Oma schläfst. Ich will nicht, dass du nach diesem Ereignis allein zu Hause bist.“ Ich stöhnte.
„Mum, ich bin doch kein kleines Kind mehr, aber wenn du darauf bestehst, suche ich Oma natürlich auf“, sagte ich. Bei meiner Oma ist es voll easy, eine Nacht liess sich dort locker aushalten. „Moment, ich könnte doch auch zu Leslie“, sagte ich voller Hoffnung. „Nein, ich will nicht, dass du bei dieser Kifferin bist. Die raucht doch wie ein Schlot“, sagte sie. „Na gut. Bis morgen, ich gehe dann mal zu Oma.“ Ich lächelte ihr nochmal zu, bevor ich das Krankenhaus verliess. Mit meinem kleinen Auto fuhr ich in die Kings. Hier wohnt meine Oma, in einem kleinen Minihaus, zwischen all den Prachtbunkern. Ich stieg aus dem Auto und klingelte an der Tür. Doch niemand öffnete, das Haus lag in vollkommener Dunkelheit da. Ich drückte die Türklinke hinunter. Die Tür war offen. „Oma!!! Wo bist du? Ich bins, Jessica“, rief ich. Niemand antwortete mir. Ich rannte die Treppen hoch, ins Wohnzimmer. Wie angewurzelt blieb ich stehen.
Ich hörte ein Reissen und Schlürfen. Ich suchte mit meiner Hand nach dem Lichtschalter, als ich ihn fand, machte ich Licht. Meine Oma lag am Boden, über sie gebeugt war eine dunkle Gestalt. Sie war in einen schwarzen Umhang gehüllt.
„Oma!!“, schrie ich. Die Gestalt erhob sich mit so einer schnellen Bewegung, dass ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte. „Wer bist du?“, schrie ich in die Richtung der schattenhaften Gestalt. Sie drehte ihren Kopf halb zu mir rüber. Von ihrem Gesicht konnte ich nur wenig erkennen, ihre rot glühenden Augen und ihr langes Haar, welches zu einem Zopf geflochten war. Sie zischte. Ich rührte mich nicht vom Fleck. Was sollte ich tun? Diese Frage stellt sich wohl jeder in so einer Situation. Ich blickte ihr tief in die Augen, fasziniert von der blutroten Farbe. Sie wird mich töten, dachte ich. „Du kommst später dran“, flüsterte sie. Dann holte sie aus und sprang mit einem Ruck durchs Fenster. Es klirrte, als die Fensterscheibe in tausend Stücke zersprang. Ich rannte zum offenen Fenster und schaute nach unten in den Garten. Doch von der Gestalt war nichts mehr zu sehen. „Oma“, ich sank zu Boden und beugte mich über sie. „Wach auf. Los, wach auf“, schrie ich und rüttelte sie genau wie meine Mutter. Doch sie erwachte nicht. Was hatte diese Frau mit ihr gemacht? Ich suchte sie nach Wunden ab.
Als ich über ihren Hals strich, zog ich zuckend meine Hand weg. An meiner Hand klebte Blut. Omas Blut. Zitternd griff ich zum Telefon und rief erneut den Notarzt, genau wie letzte Nacht. Danach fasste ich nach der Hand meiner Oma und begann zu weinen. Die Tränen trübten meine Sicht und tropften auf ihre geschlossenen Augenlider. Ich versank in tiefer Tauer. Warum meine Oma? Warum sie? Ich wimmerte und fasste nach ihrer Hand. Ich umschloss sie fest und liess sie nicht mehr los, bis der Krankenwagen kam. Offenbar hatten sie auch gleich die Polizei gerufen, denn es rückten zwei Wagen von der Kripo an. „Du? Nicht schon wieder!“, hörte ich den Arzt sagen. Fragend drehte ich mich um, als er den Raum betrat. Es war der gleiche Arzt wie letzte Nacht. Ich erkannte ihn auf der Stelle. Die Santitäter kümmerten sich um meine Oma, während der Arzt mir seine Hand entgegenhielt. „Was? Nichts mehr zu machen? Das ist nicht gut“, hörte ich die Sanitäter hinter mir sprechen. Ich schluckte und drehte mich um und dann strömten die Tränen wie ein Wasserfall. „Sie lebt nicht mehr?“, schrie ich unter Tränen. Die Sanitäter nickten eisern und luden die Leiche meiner Oma auf eine Barre. „Nein, das kann aber nicht sein. Sie müssen doch etwas machen können“, ich versuchte, nach meiner Oma zu greifen, doch sie wurde schon weggetragen. Der Arzt hielt mich zurück. „Beruhige dich, wir bringen sie ins Leichenschauhaus. Dort wird sie untersucht“, berichtete er mir. Die Polizei begutachtete inzwischen das zerstörte Fenster und stellte mir einige Fragen, ich lieferte ihnen eine gute Personenbeschreibung. „Sie hatte rote Augen?“, ungläubig schaute die Polizistin in meine verheulten Augen. Ich nickte bloss. „Das reicht nun mit der Fragerei. Ich werde Sie ins Krankenhaus bringen“, sagte er. Doch ich schüttelte den Kopf. „Da will ich nicht hin“, wimmerte ich. „Irgendjemand muss es Ihrer Mutter erzählen“, sagte er und nahm meine Hand. Erschrocken hustete ich. Meine Mutter, es würde sie hart treffen. Doch ich musste es tun. Wir verliessen das Haus in der Kings. „Morgen wird dann noch die Spurensicherung vorbei kommen, um sich das demolierte Fenster anzuschauen“, er nickte uns zu, bevor ich mit dem Arzt ins Krankenhaus zurück fuhr. Er war wieder mit seinem Wagen gekommen. Im Krankenhaus kümmerte sich eine Schwester um mich. Ich bekam ein Zimmer, in dem ich diese Nacht schlafen konnte. Doch an Schlaf war nun echt nicht zu denken. Ich suchte noch in derselben Nacht das Zimmer meiner Mutter auf. Ob es ihr schon jemand gesagt hat? Es brannte Licht, also schlief sie noch nicht.
Ich öffnete leise die Tür und trat ein. Sie sass einfach nur auf dem Bett und starrte an die Wand. Ihre Augen waren rot verweint und ihr Gesicht war kreideweiss. „Mum, es tut mir leid, ich konnte nichts tun“, flüsterte ich. Ich setzte mich neben sie aufs Bett und sie schloss mich in die Arme. „Man kann es nicht ändern. Aber warum Oma? Ich bin so froh, dass es dir gut geht“, dann schloss sie mich in die Arme und wir schliefen zusammen ein.
Ich blickte in den Rückspiegel meines Autos. Ich sah wirklich schrecklich aus. Das lag wohl daran, dass ich gestern Nacht kaum geschlafen habe. Ich war blass, mein Haar war zerwühlt und man sah mir von weitem an, dass ich geweint hatte. Geschminkt habe ich mich auch nicht, dazu war keine Zeit. Ich zuckte mit den Schultern und stieg aus dem Auto. Leslie wartete an unserem Platz und rauchte wie immer einen Joint. Ich verzog mein Gesicht und trat neben sie.
„Morgen.“ Als sie mein Gesicht betrachtete, fiel ihr der Joint aus dem Mund und landete auf dem Boden. „Du siehst furchtbar aus, noch viel schlimmer als gestern Morgen“, sagte sie.
„Meine Oma ist gestern ermordet worden“, flüsterte ich. Les konnte ich alles erzählen, sie würde es hüten wie ihren eigenen Augapfel. Ihre Augen wurden gross und dann mitfühlend.
Das sah man sehr selten bei ihr, dass sie für irgendein Lebewesen Mitgefühl zeigte. „Was? Das tut mir leid. Erzähl mir alles“, drängte sie mich. Ich holte tief Luft und fing an zu erzählen. Es war schön, die schrecklichen Erlebnisse, vom Vortag, mit jemandem teilen zu können.
Sie legte den Arm um mich und nickte traurig.
Als wir das Schulgebäude betraten, schauten mir viele mitleidige Blicke entgegen. Was sollte das denn? Dann kam Conny auf mich zu und legte eine Hand auf meine Schultern. „Es ist furchtbar, was mit deiner Oma geschehen ist. Es tut mir schrecklich leid“, sagte sie mit weicher Stimme. „Woher weisst du das?“, fragte ich sie. „Das stand heute Morgen schon in der neuen Tageszeitung und schon viele haben sie gelesen“, erzählte sie mir. „The Vancouver Sun“ ist die berühmteste Zeitung in British Columbia. Und ausgerechnet sie haben den Mord meiner Oma mitbekommen. Ich biss mir auf die Zähne und zog wütend an Conny vorbei. Sie schaute mir hinterher. Das konnte doch nicht wahr sein. Lucas kam um die Ecke und blieb vor mir stehen. „Hey Jess, das mit deiner Grossmutter ist echt krass. Ich habe es in der Tageszeitung gelesen und ich dachte, die Geschichte über deine Oma könnten wir in unsere Schülerzeitung nehmen, wenn du einverstanden bist“, erklärte er mir. Ich lief an ihm vorbei, ohne etwas zu sagen. Er rannte mir hinterher. „Verpiss dich Lucas. Meine Oma ist gestorben und darüber werde ich nichts erzählen“, sagte ich. Ein Mädchen stand an ihrem Spind und las die „Vancouver Sun“. Als ich an ihr vorbeiging, riss ich ihr die Zeitung aus der Hand und suchte den Artikel über meine Oma.
Dann las ich ihn.
Mord in der Kings
Gestern Nacht um zehn Uhr wurde die alte Peggy Stewart von einem Unbekannten ermordet. Als sich der Mordfall erreignete, betrat Jessica Stewart, ihre Enkelin, gerade das Haus. Sie fand die tote Peggy Stewart im Wohnzimmer und beobachtete dabei, wie eine dunkle Gestalt durchs geschlossene Fenster sprang. Der Schaden ist eine zerstörte Fensterscheibe.
Die Todesursache der alten Dame ist noch nicht bekannt, sie wird gerade im Labor untersucht.
Die Beerdigung wird in den nächsten Wochen stattfinden.
Wütend warf ich die Zeitung zu Boden. Wie war das nur möglich? Wie hatten die Idioten von der „Vancouver Sun“ das so schnell rausgefunden?
Ich konnte es mir selber nicht erklären. Oma, dachte ich. Ich zog Leslie ins Schulzimmer und setzte mich an meinen üblichen Platz. Sue kam zu spät, der Lehrer warf ihr scharfe Blicke zu. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, doch ich schaute sie nicht an. Mein Blick haftete an der Tafel. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sie ebenfalls grinste.
Als es zur Mittagspause läutete, sassen wir schon alle an unseren Tischen und stopften das Essen in uns rein. Ich würgte. Es war auch heute nicht sehr appetitlich. Conny legte den Arm um mich und versuchte, mich zu trösten. Leslie war wie immer nicht da. Sie ass nie zu Mittag, sie ging lieber eine Rauchen. Mir verzog sich der Magen, wenn ich nur daran dachte. Sue sass mit uns am Tisch. Ich versuchte, sie zu ignorieren, sie war bis jetzt die Einzige, die zum Tod meiner Oma noch kein Wort gesagt hatte.
„Das mit deiner Oma ist schrecklich, was ist genau passiert?, fragte Conny. Wütend erhob ich mich. „Lasst mich doch mal damit in Ruhe.“ Mussten sie mich immer daran erinnern, was gestern Nacht passiert war. Ich verliess die Mensa und versteckte mich auf dem Klo. Hier war niemand, ich blickte in den Spiegel und betrachtete mein Gesicht. Tränen rannen über meine Wangen. „Oma!! Warum du? Warum du?“, schrie ich weinend und starrte dabei an die Decke. „Das weiss niemand“, flüsterte sie. Erschrocken drehte ich mich um. „Was willst du?“, fauchte ich sie an. Ich konnte nicht glauben, dass sie mir gefolgt war. „Verschwinde und lass mich endlich in Ruhe, du dumme Kuh“, knurrte ich mit verweintem Gesicht. Doch sie blieb, wo sie war, und rührte sich nicht vom Fleck. Darauf konnte ich nichts mehr erwidern.