Sue Dawn
Ich konnte es einfach nicht fassen. War das ein Zufall oder Schicksal? Ausgerechnet die Reiterin von gestern ging von heute an mit mir in die Klasse. War das wirklich möglich? Und jetzt muss ich noch neben ihr sitzen. Ich bemerkte, dass es ihr sehr unangenehm war. Zwischen uns war eine dicke Kluft, die ich dringend beseitigen musste, sonst würde sie mich für den Rest des Schuljahres hassen, davon war ich überzeugt. Doch was sollte ich tun? Zuerst einmal musste ich mich für gestern entschuldigen. Und dann konnten wir ein normales Gespräch führen. Ich schluckte und linste zu ihr rüber. Sie drückte irgendwas an ihrem Handy herum, das sie geschickt unter dem Tisch versteckt hielt. Waren die Lehrer blind? Wie konnten sie das nicht sehen? Mir wäre es sofort aufgefallen. Als sie meinen Blick bemerkte, schaute sie mich scharf aus den Augenwinkeln an. Schnell schaute ich weg und konzentrierte mich für den Rest der Stunde auf den Lehrer. Das Klingeln zur Mittagspause erlöste mich endlich. Jessica erhob sich mit einem Ruck und schlüpfte mit Leslie aus dem Raum. Dabei wollte ich mit ihr sprechen. Doch nun war das wohl nicht mehr möglich. Ich musste mich so schnell es ging bei ihr entschuldigen, lange hielt ich es nicht mehr aus. Ich folgte den anderen in die Schulkantine und holte mir etwas zu Essen. Es gab kein Fleisch, sondern Gemüseeintopf. Er hatte eine sehr merkwürdige Farbe, also grossen Appetit löste das Essen hier wirklich nicht aus. Ich sah in die Runde und suchte mir einen Platz. Natürlich, so war es immer. Alle Tische waren fast vollkommen besetzt. Zu irgendwelchen Fremden wollte ich mich nun wirklich nicht setzten. Ich blickte um mich und erkannten an einem runden Tisch einige Schüler aus meiner Klasse. Ich würde mich einfach neben sie hinsetzen. Mein Herz schlug schneller und meine Hände wurden langsam feucht. Mit raschen Schritten ging ich auf sie zu. Kurz vor dem Tisch stoppte ich, das Herz rutschte mir in die Hose, als ich Jessica am Tisch erblickte. Nein, warum hatte ich sie nicht früher erkannt? Jetzt war ich nicht bereit, mit ihr zu sprechen. Das musste geschehen, wenn ich mit ihr alleine war. Ich kniff meine Augen zusammen und wollte gerade verschwinden, als ich meinen Namen hörte.
„Hey Sue. Komm doch her und setz dich neben uns“, er lächelte. Ach ja, wie war noch gleich sein Name? Der Lehrer hatte sie mir doch alle verraten. Doch ich wusste es nicht mehr. Ich starrte mit weit aufgerissenen Augen in seine. Sie waren tiefblau. Wie die Weite des Ozeans. Ich lächelte. Ok, irgendwie würde ich das schon schaffen. Also, ein Angsthase wollte ich auf keinen Fall sein. Solange Jessica mich ignorierte (was sie auch tat), würde ich dasselbe tun. Ich ging auf den Tisch zu und setzte mich neben den Jungen, dessen Name ich vergessen habe. Alle blickten zu mir rüber und grinsten. „Danke für den Platz. Wie war dein Name nochmal?“, fragend starrte ich dem blonden Jungen ins Gesicht. „Ich bin Cedric und das ist Conny. Dort drüben sitzt Steph und das neben ihr ist Lucas. Rechts von Lucas sitzt Joana und Jessica wirst du bestimmt schon kennen. Ich nickte und schaute sie an. Ihr Blick verfinsterte sich. „Verpiss dich von diesem Tisch“, schnauzte sie wütend. Schockiert blickte ich sie immer noch an. „Los, mach dich vom Acker. Du kannst dich zu den Strebern setzen“, sagte sie. Conny hob die Hand. „Jessica, nun halt doch mal die Luft an. Was ist denn plötzlich in dich gefahren? Sue hat dir nichts getan, bist du etwa eifersüchtig oder was?“, fragte sie. Jess runzelte die Stirn und schaute sie ungläubig an. „Soll das ein Witz sein? Aber ich habe keinen Bock auf diese Tussi.“ „Schon gut, ich gehe. Ich will nicht, dass es wegen mir noch den dritten Weltkrieg gibt“, sagte ich. Ich hörte ein Lachen im Hintergrund und Jessica verzog das Gesicht.
„Nein, du bleibst Sue. Jessica kann hier nicht bestimmen. Und du, Jess, machst mal eine Pause, du hast es nämlich dringend nötig“, sagte Conny.
„Hör auf, über mich zu bestimmen. Ich mache eine Pause, wann ich will. Ihr könnt mich alle mal, besonders die Pferdequälerin. Du hast wohl nie gelernt, wie man mit einem Lebewesen umgeht“, sie erhob sich und stolzierte davon. Ich zuckte zusammen und fing mir dabei viele fragende Blicke von den anderen ein. Doch ich hatte nicht die Nerven, ihnen zu erzählen, wie ich Jessica gestern begegnet war. Als Jessica weg war, entspannte sich die Lage wieder. Cedric durchlöcherte mich mit vielen Fragen. Ich genoss die Aufmerksamkeit, auch wenn sie mir etwas unangenehm war. Die Mittagspause verflog wie im Nu und schon fanden wir uns wieder im Schulzimmer. Jessica würdigte mich keines Blickes, doch jetzt war meine Chance gekommen, um mit ihr zu sprechen. Denn seit heute Mittag war es noch viel schlimmer, dabei wollte ich das alles doch gar nicht. „Jessica“, sagte ich. Sie ignorierte mich vollkommen. Wieder tippte sie auf ihrem Handy herum. Doch ich redete einfach weiter. „Es tut mit wirklich leid, was gestern passiert ist. Ich kann noch nicht so gut reiten und das Pferd ist mir
durchgegangen, ich wollte dich nicht über den Haufen reiten. Und heute Mittag ist es auch nicht so gelaufen, wie ich es mir eigentlich erhofft habe. Bitte, lass uns nochmal von vorne anfangen“, ich mühte mir ein schwaches Lächeln ab. Endlich drehte sie den Kopf zu mir und funkelte mich an. Ihr Gesicht war Wut verzerrt.
„Halt die Klappe. Ich nehme deine Entschuldigung nicht an. Gestern hast du mich fast zu Tode geritten, dann setzt du dich an meinen Tisch und meine besten Freundin muss ihren Platz räumen, wegen dir. Verschwinde bloss, auf dich habe ich wirklich keinen Bock“, zischte sie. „Aber …“, sie liess mich nicht aussprechen. „Lass mich in Ruhe und quatsche lieber mir deinem geliebten Cedric“, murrte sie. Was sollte das denn jetzt? Langsam stieg der Verdacht in mir hoch, dass sie vielleicht doch eifersüchtig sein könnte. Oder stand sie etwa auf Cedric? Igitt, das konnte einfach nicht sein! Er sah ja nicht zum Kotzen aus, aber viel anfangen liess es sich mit ihm auch nicht. Aber er war nett, und das war doch das Wichtigste.
„Du hättest gestern auch einfach zur Seite reiten können. Du standest ja mitten im Weg, mit deinem Pferd“, zischte ich und konnte mir eine gemeine Fratze nich verkneifen. Doch das liess sie kühl. „Halt die Klappe und verpiss dich endlich in dein Loch zurück, dort wo du herkommst!“, schrie sie. Der Lehrer drehte sich fragend zu uns um, doch wir schwiegen beide. Der Rest des Tages zog sich hin. Wir sprachen nicht mehr miteinander und ich fand es auch besser so. Ich habe es versucht. Ich wollte mich bei ihr entschuldigen, doch wenn sie meine Entschuldigung nicht annahm, war das nicht mehr mein Problem. Mr. Johnson brummte uns eine Menge Hausaufgaben auf, besonders in Mathe. Das Fach, das ich überhaupt nicht leiden konnte. Als es endlich gongte, packte ich meine Ware zusammen und verabschiedete mich vom Lehrer. Dann trat ich den Weg nach Hause an. Draussen ging ich rüber zum Fahrradständer, holte mein Fahrrad und fuhr los. Auf dem Parkplatz fuhr ich dicht neben Jessica vorbei.
„Verflucht nochmal, kannst du nicht aufpassen. Wegen dir lande ich noch im Krankenhaus“, rief sie mir hinterher. Ich trat heftig in die Pedale und legte einen Zahn zu. Als ich durch Vancouver fuhr, verlangsamte ich mein Tempo. Die Dunkelheit war gerade eingebrochen. Immerhin war es Winter und da wurde es sehr schnell dunkel. Die Kälte holte mich ein. Meine Hände waren starr, weil es hier draussen so kalt war. Doch plötzlich huschte etwas vor mir über die Strasse. Erschrocken bremste ich. Da ist doch was gewesen?
Ich habe etwas Schwarzes gesehen. Ich sog die kühle Luft ein und schloss kurz meine Augen, bevor ich weiterfuhr. Es zischte. Deutlich habe ich es hinter mir gehört. Meine Bremsen quietschten, als ich anhielt. Langsam drehte ich den Kopf und blickte über meine Schulter. Erneut zischte es, aber dieses Mal vor mir. Rasch drehte ich den Kopf wieder nach vorn. Schatten. Ich konnte sie gut erkennen und ich wusste ganz genau, dass sie hier war. Und plötzlich sah ich sie. Die schattenhafte Gestalt, die aus der düsteren Gasse trat. Sie trug einen langen Umhang, ihr Gesicht war schwer zu erkennen. Ich sah nur glühende Augen, in einem stechenden Rot. Die Farbe von Blut. Ich schrie, wie ich noch nie geschrien hatte. Ich fuhr los, so schnell wie ich in die Pedale treten konnten. Das Zischen hörte nicht auf und ich wusste, dass mich der Schatten verfolgte. Plötzlich stand jemand mitten auf der Strasse und versperrte mir den Weg. Es war die Gestalt, daran hatte ich keine Zweifel. Ich fuhr langsamer, was sollte ich tun? Die Gestalt schoss auf mich zu, ich fuhr schneller und noch schneller. Bald würde sie mich erreicht haben. Doch in diesem Moment fuhr ein Auto um die Ecke. Die Gestalt stand im Licht. Ich sah einen langen schwarzen Zopf, bevor sie verschwand. Ich wollte nur noch Heim.