Der Ankunftstag von Dr. Niedermeyer beim Kongress, an dem sie eine Person trifft, mit der sie nicht gerechnet hätte und von dieser ebensolche Dinge erfährt. Titelbild: www.pixelio.de/©Gerd Altmann/PIXELIO
Als ob ihre Gebete erhört worden wären erhielt Dr. Johanna Niedermeyer schon am kommenden Werktag die Nachricht, dass sie als Vertreterin ihrer Abteilung auf einen Kongress nach Sydney reisen sollte, welcher über drei Tage ging. Bereits am Mittwoch sollte sie losfliegen. Ihre anderen Kollegen schienen das schon gewusst zu haben, denn sie reichten ihr an den beiden verbleibenden Tagen allerhand ausgearbeitete Mappen, welche den obligatorischen Fortschritt der Forschung in der Motorentechnik zeigten. Allerdings fielen die kritischen Anmerkungen besonders vielfältig aus. Zusammenfassend konnte man darauf verweisen, was Johanne ihrer Freundin Nora geklagt hatte. Wahre Fortschritte waren nicht mehr erzielt worden. Was man neu entdeckte konnte man nicht nutzbar machen. Man konnte es sich meist auch noch nicht erklären. Die Hoffnung war, dass irgendein anderer Kongressteilnehmer hier Erkenntnisse liefern konnte, die halfen. Dafür war diese Institution ja auch eigentlich da. Jedoch mochte man es nicht wirklich, wenn eine andere Forschungsgruppe einen überflügelte. Doch schaden konnte es soweit nicht, denn die gewonnenen Ergebnisse, wurden ja sowieso von den Wissenschaftszentralen bereits geprüft. Man hätte längst eine Benachrichtigung erhalten, wenn jemand eine öffentlich zugängliche Superentdeckung gemacht hätte. Eigentlich war das die größte Angst, dass solche Nachrichten während des Kongresses einen erreichte und die entsprechende Delegation dann grinsend ans Rednerpult trat und die gesamten Vorredner, die sich an diesem Problem die Zähne ausgebissen hatten, höhnisch verlachten. Zum Glück hatte sie so etwas nur gehört und noch nicht erleben dürfen. Gut, ihre Kongresserfahrung war beschränkt auf bisher zwei Weitere.
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Ausgerüstet mit verschiedentlicher Kleidung, auch mit Abendgarderobe, gerade für den letzten Abend und den mitgegebenen Auswertungen ihrer Kollegen bestieg sie den Jetflieger von Berlin International Airport nach Sydney. Diesen Flughafen hatte man auf den Trümmern des Großstadtflughafens BER errichtet, jedoch nahm er ein mehrfach größeres Areal ein als der damalige Flughafen, welcher, leider vor der Zerstörung durch Bombenangriffe, nur ganze 3 Jahre in Betrieb war, also 2017 fertiggestellt wurde.  Â
Den Namen dieses Fluggerätes werden die Leser sicherlich lächeln können. Doch fraglich ist, ob sie dies auch weiterhin tun, wenn ich sage, dass die Assoziation, die das Wort als solches auslöst durchaus berechtigt ist. In der Tat hatte man es geschafft die Geschwindigkeit von Jets mit der Geräumigkeit von Flugzeugen kombinieren zu können. Natürlich waren dies keine so gewaltigen Flugzeuge mehr, die gut 800 Passagiere transportieren konnten. Natürlich würde man dies, aus einer unbedarften Sicht, als einen Mangel ansehen. Wenn man aber bedenkt, dass diese, logischerweise, denn hier setzt die Physik nicht überschreitbare Grenzen, kleineren Flieger dafür um ein Vielfaches schneller waren als ihre Pendants zu Lebzeiten des Lesers, dann kann man sagen schlägt die hohe Geschwindigkeit die höhere Ladekapazität. Zudem mussten weitaus weniger Ziele angeflogen werden, weil man den Flugverkehr auf einige gewaltige Zentralflughäfen beschränken konnte und somit tatsächlich umweltfreundlicher reisen konnte, was ja das Credo der Generation des Lesers schlechthin ist und darüber hinaus konnte man eine gesundere Umwelt schaffen und daraus eine gesündere Gesellschaft generieren. Zudem, da die menschlichen Leben in ihrer Zahl eindeutig begrenzt sind, braucht man gar nicht mehr so viele Verkehrsknotenpunkte, weil man von den großen Flughäfen immer einfach per Bahn dorthin fahren konnte, wohin man musste oder wollte. Dies ist der größte Erfolg der vollkommenen Planung der gesamten Welt nach ihrer großflächigen Zerstörung. Alle Verkehrsnetze hatte man exakt durchgeplant und neu errichtet. So schaffte man die größtmögliche Effizienz, denn die Weltzentrale für Infrastruktur und Transportwesen hat alles in der Hand gehabt und hat es immer noch.
Johanna setzte sich auf den Platz, welchen man ihr zugewiesen hatte. Solche Flüge kannte sie schon, trotzdem hörte sie aufmerksam zu, als der Flugbegleiter eintrat und allen erklärte, wie man sich zu verhalten hatte.
„Meine Damen und Herren. Wir freuen uns sie auf unsrem Flug von Berlin nach Sydney begrüßen zu dürfen. Vor dem Start werden Masken von der Decke fallen. Nachdem sie sich angeschnallt haben und in eine bequeme Liegeposition gebracht haben setzen sie die Masken bitte dicht auf.“
Er nahm ein Modell zur Hand und demonstrierte es. Den Gurt legte er um seinen Kopf und drehte sich, sodass alle sehen konnten, wie die Maske aufliegen sollte.
„Für den Fall, dass ihre Maske ihnen, wider Erwarten, nicht passt, melden sie sich bitte und wir werden dann dieses kleine Einstellungsproblem beheben. Wir starten auch nicht, bevor sie alle die Masken aufgesetzt haben. Gut. Sobald das geschafft ist setzen sie sich bitte die Kopfhörer auf, die über ihnen hängen. Die von jedem Einzelnen zuvor aufgestellte Musikliste wird dann abgespielt. Mit Hilfe der Knöpfe, die sich in Ihrer Sitzlehne befinden, können Sie in der Liste vor und zurückspringen, wie Sie wollen und auch die Lautstärke regulieren. Das Essen nehmen sie alle bitte jetzt in Form der kleinen Pillen ein, die wir ihnen geben. Sie wurden danach ausgesucht, was ihren Krankenakten zu entnehmen ist, also keine Panik, hier erhält niemand etwas, was er nicht verträgt. Und dann noch die wichtigen Sicherheitshinweise. Sollten wir abstürzen wird die Dosis einfach erhöht, also, schönes sterben wünsche ich allen!“
Die Gäste jubelten und der Flugbegleiter begab sich wieder zurück in seinen Bereich, wo auch er den Instruktionen folgte, die er gerade allen anderen gegeben hatte.
Johanna erledigte das Notwendige mit geübten Griffen, nachdem sie die komisch schmeckenden Pillen hinab geschluckt hatte und kräftig nachgespült hatte. Sie setzte die Maske auf, die perfekt passte und dann legte sie die Kopfhörer an. Beruhigungsgas strömte ein und die Musik der Beatles erklang. Sie war vollkommen entspannt und sollte es auch die kommenden 2 ½ Stunden sein. Es war einfach nur herrlich so vollkommen entspannt zu sein. Und das war einfach so ein Spaß, sondern tatsächlich essentiell. Als man diese Jetflieger schuf erkannte man natürlich, dass es schwer werden würde ungeschulte Passagiere dort hineinzubekommen, den niemand setzt sich freiwillig dieser Geschwindigkeit aus, zumindest nicht, wenn sein Leben davon abhinge. Und so schuf man dieses System, während man den Reisekomfort deutlich verbesserte. Die Anstrengung für die Fluggäste wurde verringert, aber trotzdem fühlte man sich nach solchen Reisen ein wenig gerädert. Die Piloten selbst sind ausgebildete Kampfjetflieger, die brauchten das alles nicht. Â
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Nach dem Flug, als die Musik unterbrochen wurde, was allen anzeigte, dass der Jet gelandet war, begaben sich die Gäste in die Flugzeughalle.
Johanna stieg in einen großen Wagen. Der Chauffeur hatte ein Schild nach oben gehalten, auf dem der Name des Kongresses geschrieben stand.
In dem Wagen befanden sich noch ein paar andere Männer und Frauen, die sich ebenfalls in Schale geschmissen hatten. Sie grüßten Johanna respektvoll und achteten peinlich genau darauf, dass der Abstand ihrer Taschen zueinander immer gleich war. Niemand wollte auch nur einen Millimeter weichen, damit irgendjemand anderes zufällig sehen konnte, was man für wichtige Dokumente mit sich führte. Wissenschaft war ja eng miteinander verbunden, doch bei solchen Szenen merkte man, dass man es eigentlich nur tat, weil es die Gesellschaft so forderte. Wenn man einfach könnte, wie man wöllte, würde man voreinander auch nur die kleinsten Geheimnisse verstecken, genau wie früher.
Die Fahrt dauerte glücklicherweise nicht allzu lange, denn während sich alle anschwiegen und hofften, dass einer der Anwesenden tot umfiel, hatte sich Johanna nicht gerade wohl gefühlt. Als sie das erste Mal in einem solchen Wagen gefahren war hatte sie den kapitalen Fehler gemacht tatsächlich mit einem der Anwesenden Herren ein Gespräch anzufangen. Das musste sie dann aber auch bereuen, denn alle anderen straften die beiden, aber vor allem sie, mit so bösen Blicken, dass die beiden es unterließen auch nur daran zu denken eine Konversation zu beginnen. Dieser junge Mann, mit dem sie sprechen wollte, hatte ihr dann verraten, wie man sich bei solchen Anlässen zu verhalten hatte. Einfach schweigen und versuchen immer wieder so lange wie möglich die Luft anzuhalten, denn man mochte es nicht, wenn einem die Luft weggeatmet wurde.
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Vor dem Kongresszentrum angekommen halfen ihnen freundliche Angestellte beim Aussteigen. Die erfahrenen Kongressteilnehmen boten den Hilfsbereiten ihre eine Hand dar und mit der Anderen umklammerten sie krampfhaft ihre Aktentaschen. Johanna war da weniger steif. Sie reichte dem Angestellten erst ihre Tasche und ließ sich dann dankbar helfen, nahm ihre Tasche wieder auf und ging ebenfalls ins Kongresszentrum.
Die Eingangshalle bestand vollständig aus Glas und war an den Bau angeschlossen. Die Sonne schien durch die Glasscheiben und der blaue Himmel war zu sehen. Doch nicht so deutlich wie draußen, denn dieses Glas konnte, je nach UV-Lichtintensität, entsprechend getönt werden und somit einen gleichbleibend niedrigen Einfall garantieren, der bestimmt niemanden an der Gesundheit schädigte. Nicht einmal die Leute am Empfang.
Sie ließ sich ihren Zimmerschlüssel geben und schlenderte zum Aufzug. In das Kongresszentrum hatte man ein Hotel integriert damit man sich Wege ersparte. Und so war es überall auf der Welt. Die Konzeption war auf höchste Funktionalität und gleichzeitig hohe Bequemlichkeit ausgerichtet.
Im Fahrstuhl fuhren natürlich auch andere Forscher, die dort das gleiche Verhalten an den tag legten, wie in den Autos, die sie hierher gefahren hatten. Es war sogar noch schlimmer, weil hier eine größere Zahl von Menschen auf viel engerem raum zusammengequetscht war. Kurz bevor die Paranoia zu groß wurde entstiegen zum Glück immer mehr der Herren und Damen. Johanna war die Letzte im Fahrstuhl, denn sie war im obersten Stockwerk untergebracht. Der Komfort eines leeren Fahrstuhles konnte nicht in Worte gefasst werden.Â
Als sie ihr geschlossenes Gefährt verließ schritt sie durch einen langen Gang, der auf einer Seite vollkommen aus Glas bestand. Mann konnte hinab sehen in die schwindelerregende Tiefe, die man erklommen hatte, wenn man sich im 20ten Stock aufhielt.
Lachend ging sie an einer langen Reihe von Topfpflanzen vorbei, die einen angenehmen Duft verströmten. Man hatte in den Biolaboren dieser Welt auch für solche Räumlichkeiten Pflanzen geschaffen, die keine Blüten trugen, für aber einen sehr intensiven Duft ausströmten, der in den Nasen fast aller Menschen gut roch und ein angenehmen Wohlfühlgefühl auslöste. Nora war einer der wenigen Menschen, der diesen Duft nicht erriechen konnte. Was aber wohl daran lag, dass diese Forscher jeden Tag mit solchen Sachen zu tun hatten und sie hatte an einer dieser Gattungen mitgewirkt, was ihr wohl noch mehr diesen speziellen Duft verdarb, der jetzt weltweit genutzt wurde. Zwar forschte man an einem Duft, der einem jeden Menschen gefiel, doch momentan kam man dabei nicht voran, weshalb man sich auf andere Dinge konzentrierte.
Als Johanna ihr Zimmer aufschloss, die Aktentasche neben das Bett warf und sich auf das große Bett sinken ließ, welches sie sofort äußerst weich empfing, dachte sie ein wenig neidisch an Noras Forschungen. Bei denen gab es keinen Stillstand, weil immer irgendwas war, man konnte sich auf etwas Anderes konzentrieren, wenn man Bedarf dazu hatte. Sie nicht wirklich, bei ihnen in der Antriebstechnologie, als besonderes Gebiet der Ingenieurskunst, hatte man einfach nicht so sehr viele Alternativen. Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken, denn sie spürte die aufkommende Müdigkeit durch die Belastung des Fluges und das Bett war einfach zu einladend. Wenigstens den Zimmerschlüssel legte sie noch auf das Nachttischchen, zog ihren Mantel und die Schuhe aus. Dann legte sie sich, immer noch bekleidet mit ihrer Bluse-Rock-Kombination, unter die Decke und schlief nur wenige Augenblicke später zufrieden ein.
Als sie erwachte zeigte ihre automatisch umgestellte Armbanduhr, ebenso wie die im Zimmer, dass es bereits Abend war. Vorsichtig erhob sich Johanna Niedermeyer aus dem Bett und wankte ins Bad. Dort betrachtete sie sich erst einmal genauer.
Die Haare lagen falsch, Bluse und Rock waren verrutscht. Sie sah aus, wie ein ungemachtes Bett, also entschloss sie sich ihre Kleidung abzulegen und sich erst einmal ausgiebig zu duschen.
Nachdem sie das warme Wasser minutenlang wohlig massiert hatte und sie sich mit einem weichen Schwamm am ganzen Körper mit Körperlotion eingeschmiert hatte und diese gründlich, sowie die Haarwäsche, abgewaschen hatte, entstieg sie der Wanne und begab sich unter den Heizstrahler, der sie eine Minute später vollkommen getrocknet hatte. Sie rieb sich mit Hautöl ein und schlüpfte dann in ihre Abendgarderobe. Die restliche Kleidung packte sie rasch aus, ebenso verstaute sie die Dinge, die sie sonst benötigte und betrachtete dann erst einmal ihr Zimmer. Ein gewaltiger Fernseher befand sich dort, davor eine große Ledercouch, auf der man es sich zum Fernsehen bequem machen konnte. Das Bad kannte sie ja schon, doch besonders schön daran fand sie, dass es darin auch eine große Wanne gab, in der man auch Whirlpoolblasen aufsteigen lassen konnte. Es gab die obligatorische Minibar und eine kleine Küchenzeile, wenn man sich doch einmal etwas zubereiten wollte, abseits der üppigen Buffets. Das Bett war sowieso ein Traum. Wenn sie bedachte, dass sie dafür nicht eine Wertmarke opfern musste!
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Wenige Minuten später durchschritt sie den Speisesaal und griff sich ein paar Dinge, die man so essen konnte, ohne dabei gierig zu wirken. Man holte sich dafür eben häufiger etwas, das war der Trick du er wurde von allen beherrscht. Mancher führte ihn sogar so vor, dass man glauben konnte, man würde fast nichts auf dem Teller haben, wobei diese Artisten kaum Konversation machen konnten, weil sie ständig zum Buffet liefen.
Hier und da erblickte Johanna bekannte Gesichter von geschätzten Kollegen. Schnell fanden sich die Disziplinen zusammen und bildeten Grüppchen. Man versuchte dabei, natürlich freundlich, herauszufinden, was die Anderen wussten. Man erhoffte sich so Erkenntnisse darüber, wie viel der eigene Vortrag später würde wert sein. Dabei bemerkte Johanna wieder einmal, dass es männliche wie weibliche Forscher gab, die sich so ausdrücken konnten, dass sie viel, aber gar nichts sagten. Und diese Kunst war es, die man hier auch präsentieren musste.
Dann jedoch erblickte sie ein Gesicht, welches ihr viel Freude bereitete. Sie schob sich an den Gesprächsgruppen vorbei, schnappte so manchen Gesprächsfetzen auf und gesellte sich dann zu Dr. Harry Winkelmann, ihrem alten Mentoren. Dieser empfing sie mit offenen Armen.
„Oh, Johanna! Sie werden nicht älter, meine Liebe“, schmeichelte er schelmisch und führte sie ein wenig abseits der Anderen.
„Sie sehen aber auch sehr gut aus, Harry“, gab sie zurück. Und wirklich, Winkelmann sah man seine fast 70 Jahre nicht an. Sein grauer Bart war exakt rasiert und bildete die Linien seines Gesichts nach. Dieses war vollkommen offen und freundlich. Die Lachfältchen hatten sich tief um Mund und Augen eingeprägt. Seine Augen waren von einer Wissbegierigkeit erfüllt, wie sie selbst junge Forscher nur selten haben. Er war groß und schlank, größer noch als Johanna und trug einen fein geschneiderten, dunkelblauen Nadelstreifenanzug und schwarze Lederschuhe.
„Wollen wir uns nicht ein wenig nach draußen setzen, in Richtung der Bar?“, fragte er und Johanna ließ sich gern von ihm führen.
Die Bar im Inneren des Zentrums, war von vielen leeren Tischen umringt. In den Ecken hatte man große Ohrensessel aufgestellt, in die man sich genüsslich zurückziehen konnte. Und die beiden taten es, jedoch nicht, ohne dass Winkelmann für beide Sekt orderte.
Er schenkte ihr du sich je ein Glas ein und stellte die Flasche dann in den Eiskübel zurück.
„Auf unser Wiedersehen“, erhob er fröhlich sein Glas. Johanna stimmte ein und klirrend trafen sich die Sektflöten.
„Sag mal, wie lange habe ich dich jetzt nicht gesehen? Drei Jahre, vier?“, fragte Winkelmann.
„Ich glaube es waren fast vier. Ich habe Sie, pardon, dich damals auf dem großen Historikerkongress gesehen, als du uns gerade verlassen hattest. Sie wählten dich damals in den Vorstand, was einige von uns als Betrug ansahen.“
„Du etwa auch, meine Schülerin?“, fragte Winkelmann gelassen, weil er die Antwort kannte.
„Nein, denn ich teilte ja deine Ansicht bereits damals. Nur, ich bin noch zu jung und zu unbekannt, als dass ich gleich hätte wechseln können“, sprach sie niedergeschlagen.
„Komm Mädchen, das wird schon noch. Aber momentan will man nicht neu besetzen. Natürlich versuche ich immer mein Bestes. Deine letzten Aufsätze waren wunderbar, deine Handschrift, dein Stil, exorbitant. Du hast aus manch alter Dogmatik etwas gezaubert, dass wie die genialste Idee der Geschichte wirkte“, lobte er sie.
„Ohne deine Hilfe, dass du mich damals angenommen hast, als Einzige, als deine wissenschaftliche Mitarbeiterin, hätte ich das nicht geschafft. Aber wollen wir ähnlich sein, ich bin eine Verkäuferin von alten Lumpen. Ich wärme die Suppe nur auf und garniere sie ein wenig, sodass sie wieder wie neu wirkt. Hast du den Kommentar von Jones gelesen? Der hat es entlarvt, aber zum Glück haben ihn die Anderen ein wenig niedergeschrieben, oder ihm nicht so drastisch zugestimmt. Wenn du doch nur wüstest, wie gerne ich mal wieder etwas schreiben würde, was wirklich bahnbrechend ist, so wie unsere damalige Entdeckung zur Effizienzsteigerung der Wasserstoffgewinnung bei Biomassekraftwerken. Aber die basierte ja zu einem nicht unerheblichen Teil auf deinen Forschungen.“
Harry Winkelmann stieß mit seinem gegen ihr Glas.
„Johanna, nicht kleiner machen als man ist. Ich hätte wahrscheinlich noch heute nicht diese Verbindung gefunden, die du so einfach aus dem Hut gezaubert hast, weil du einfach schon damals klüger warst als ich es nach jahrzehntelanger Arbeit. Das ist und bleibt auch zu einem gewaltigen Teil dein Verdienst.“
Sie lächelte schief und stieß dann richtig an.
„Danke, aber sowas finden wir gerade nicht. Deine Prognose war damals korrekt, wir würden nach diesem Schritt wieder 20 Jahre auf den nächsten Knall warten können. Und langsam wissen es alle, dass es stimmt. Selbst die Optimisten unter uns sind hart arbeitende Pessimisten geworden, die sich über jeden Strohhalm an neuer Erkenntnis freuen. Aber was jammere ich denn hier, du kennst das Problem ja, deshalb bist du auch zu den Historikern gewechselt.“
Winkelmann lehnte sich zurück in seinem Sessel.
„Naja, sagen wir so. Wenn man Jahrzehnte ein Gebiet erforscht aber nebenbei eine gewisse andere Passion pflegt und das definitiv nicht einfach so dilettantisch, sondern richtig intensiv, dann will man sich darin auch beweisen. Und so ging es mir mit den Historikern. Mit der Geschichte der Naturzustände vor dem Goldenen Zeitalter hatte ich mich wirklich sehr intensiv auseinandergesetzt. Und ich muss sagen, dass sogar an der Grenze der Legalität. Wen ich interessante, aber selbstverständlich verbotene Bücher fand, dann bearbeitete ich sie und übergab sie dann freiwillig den Behörden. Und dafür denunzierte ich die, von denen ich sie erworben hatte. Es waren eigentlich immer irgendwelche Händler, die auf Märkten ihre verborgenen Schätze verkauften und sich der Tatsache, dass diese nicht legal waren, meist nicht bewusst waren. Manchmal schäme ich mich, wenn ich daran denke. Naja. Meine Aufzeichnungen verwahrte ich getreulich und als ich zu den Historikern stieß konnte ich mein Jahrzehnte lang geführtes Werk sofort präsentieren. Das beeindruckte sie so sehr und es enthielt wirklich auch für sie ein paar neue Erkenntnisse. Deshalb wurde ich auch sofort Vorstand unserer hiesigen Forschungsgruppe.“
Er genehmigte sich einen großen Schluck und schenkte dann beiden nach.
„Und, was machst du so nebenbei? Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein so vortreffliches Hirn sich nur damit begnügt, was es vorfindet.“
Sie errötete. Ihr Mentor hatte sie irgendwie durchschaut, aber sollte sie ihm wirklich davon erzählen? Sie wusste ja nun, dass er für die Wissenschaft über gesellschaftliche Leichen ging. Wer garantierte ihr, dass sie nicht schon am kommenden Morgen vor ein Gericht würde geführt werden und man ihr den Prozess machte? Aber er war ihr Mentor gewesen, der Vortrefflichste, den man sich als junger Forscher an der Universität nur vorstellen konnte. Außerdem war er ihr über diese Jahre ein so enger Freund geworden, dass sie sich beide duzten.
„Nun, ich beschäftige mich mit der Religionswissenschaft. Genauer gesagt speziell mit dem christlichen Glauben. Manchmal findet man abgedruckte anderssprachige Texte neben den offiziellen Ãœbersetzungen und Deutungen. Und mit diesen Schnipseln arbeite ich. Ich habe mich auf deutsche Texte eingeschossen, weil mein Großvater mir ein Wörterbuch überlassen hatte.“
Winkelmann nickte. Ahnte er, dass sie nicht nur die offiziellen Quellen nutzte, sondern sich gar auch andere Texte vornahm? Egal, gesagt hatte sie es ja nicht, also konnte er eigentlich auch nichts machen.
„Sehr schön. Ich glaube in der Tat, dass du dieser Gesellschaft mit deiner Forschung noch sehr nützlich sein wirst. Vor allem weil du eine so gut wie tote Sprache lernst. Das dürfte das Problem der Zukunft für unsere Forschung werden. Wenn wir solche Experten nicht mehr haben, die noch solche Sprachen beherrschen, dann werden wir nur noch mit sehr wenigen Quellen arbeiten können und das kann ja niemals gut sein um ein komplexes Bild zu erhalten. Ich sehe es ja heute schon. Ich beherrsche Französisch, Spanisch und ganz gut Portugiesisch. Es gibt einfach zeitlich-geografische Epochen, da wäre man blind, wenn man dies nicht könnte. Ich bin praktisch mit Ãœbersetzungsarbeit zugepflastert. Dabei muss ich aber Abschriften sehr alter Wörterbücher verwenden, weil teilweise Worte verwendet werden, im älteren Sprachgebrauch, die mir gänzlich unbekannt sind. Ich meine, wir können alle fließend englisch, aber Shakespeare ist trotzdem nicht immer sofort verständlich, nicht wahr?“
Johanna nickte und war von den Worten ihres ehemaligen Mentoren fasziniert.
„Soll ich mal ein wenig erzählen? Also en wenig Geschichte geben, über den Kontinent, auf dem wir gerade sind?“, fragte er verschwörerisch.
„Harry, nein! Was werden denn ihre Kollegen dazu sagen?“, fragte sie errötend und musste dann selbst kichern.
„Das Thema unserer Forschungsgruppe sind die neuesten Erkenntnisse über das europäische Mittelalter in der Zeit von 1200-1500. Also unschädlich, was ich erzähle. Wobei es natürlich auch noch nicht publiziert ist, also bitte ich dich es für dich zu behalten.“
Johanna blickte unruhig um sich. Noch hatten sich keine anderen Personen bei ihnen eingefunden. Winkelmann musste lachen. „Ach ja, die gute alte Kongresskrankheit! Alle denken immer, dass sie bespitzelt werden!“
Beide lachten über diese Merkwürdigkeit um dann konzentriert die Köpfe zusammen zu stecken.
„Die frühere Bedeutung Australien für das British Empire dürfte wohl ein interessanter Einstieg sein“, begann er seine Einführung, wartete aber auf die bereits jetzt aufkommenden Fragen seiner Zuhörerin.
„Darf ich schon jetzt Fragen stellen?“
Er lächelte sie freundlich an und bedeutete ihr dann zu sprechen.
„Was ist denn dieses sogenannte British Empire?“
„Ach, das Empire“, begann Winkelmann in einem Tonfall, der so von alten Leuten verwendet wurde, wenn sie an die gute alte Zeit dachten.
„Du dürftest wissen, dass es früher Staaten gab?“
Sie nickte zustimmend.
„Gut. Das Empire war ein Superstaat, der viele andere Staaten beinhaltete, die sich später von ihm lösten. Sie waren auf allen Kontinenten vertreten, besaßen überall Land. Deshalb waren sie auch ein Imperium. Das lässt sich heute natürlich nicht mehr verstehen, sofern man nicht weiß, dass sich damals Staaten die Welt unter sich aufteilten und es noch keine Weltgemeinschaft gab.“
Johanna fühlte sich, trotz Doktortitel und einem eigenen, großen Wissensschatz ausgezeichnet, wie eine Schülerin in der ersten Reihe.
„Nun haben wir die Basis. Di weißt, dass es, es gab und was es war. Nun, Australien gehörte auch dazu. Und nun der interessante Teil. Australien war, nach seiner Entdeckung, nicht als Ort zur Siedlung gedacht. Das Mutterland Großbritannien, was heute zum Teil die Stadt London ist, war sehr weit weg. Von den damaligen schlechten Transportmitteln hast du, denke ich, schon gehört.“
„Ja, Schiffe aus Holz. Und die Reise dauerte sehr lang, weil man auch dem Wind oder auch gegen ihn segeln musste. Dabei starben viele an Krankheiten, oder wegen auf der Reise lauernden Gefahren.“
Sie war froh auch einen Beitrag leisten zu können. Winkelmann war zufrieden mit ihr, das erkannte sie an seinem Blick. So hatte er sie früher häufig angesehen und es tat gut auch wieder so angesehen zu werden.
„Da haben wir die Bausteine zusammen. Was ergibt sich aber als Sinn? Australien war eine Gefangenenkolonie, wo man die hinbrachte, die man im Mutterland nicht haben wollte. Später kamen Abenteurer um in der Fremde ihr Glück zu suchen oder vor den Gläubigern in der Heimat zu fliehen. Das fiel meist zusammen. Die Jahre änderten das, je besser man alles besiedeln konnte. Aber trotzdem kennt man noch heute den ursprünglichen Sinn der Besiedelung, soweit man ihn erforscht hat.“
Johanna nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas.
„Das ist ja grausam! Ich meine, damals hatte man lange nicht die technischen Möglichkeiten um hier zu leben! Das muss eine grausame Tortur für die armen Menschen gewesen sein!“
Wieder einmal wurde ihr klar, wie grausam man seinerzeit verfuhr. Dagegen erschienen die Grausamkeiten der Gegenwart als nichtiger Witz.
Winkelmann schenkte ihr wieder ein.
„Und damit hat dein wacher Geist auch schon den Sinn unserer Forschung erspäht. Die Grausamkeiten der Naturzustände erkennen und der Welt zeigen. Je genauer unser Bild von damals wird, umso erschreckender wird es. Und so kann man die irrationale Sehnsucht nach der Zeit vor unserer am besten und effektivsten bezwingen.“
Er nahm ebenfalls einen großen Schluck.Â
„Willst du noch etwas in diesem Zusammenhang hören?“
Johanna lehnte sich zurück und ließ das gehörte für eine Minute sacken.
„Ja, ich denke ich möchte.“
Winkelmann blickte nun auch um sich, eine alte Angewohnheit eines jahrelang zu Kongressen Eingeladenen, wie er bereits bemerkt hatte. Immer noch blieb man der Bar fern.
„Gut. Dann wollen wir mal über die Ureinwohner Australiens reden; die Aborigines.“ Â
Johanna blickte ihren Mentoren groß an.
„Das sind die, die vor den britischen Gefangenen da waren?“, hakte sie nach. Er nickte. Dass es so etwas gab war ihr noch geläufig. Wie dieses Phänomen entstand weiß der geneigte Leser wohl. Für die Menschen im Goldenen Zeitalter ist dies ein wenig verständlicher Vorgang, der deutlich zu weit zurück liegt, da das Interesse primär an der Neuentstehung der eigenen Gesellschaft hängt. Trotzdem hörte man davon auch mal in der Schule. Deshalb wollte Johanna nicht intervenieren, denn es war ihr lieber, wenn Winkelmann fortfuhr.
„Nun kann man sich ja vorstellen, dass es zu Konflikten zwischen den Siedlern und den Ureinwohnern kommen musste, denn die Einen besaßen seit Jahrhunderten dieses Land. Und nun waren da Fremde, die dieses Gebiet für sich beanspruchten. Daraus ergab sich, dass die Siedler diese Ureinwohner bekämpften. Jetzt muss man sich das vorstellen, dass damals moderne Gewehre gegen Wurfpfeile kämpften. Schwer ist es nicht zu erkennen, wer dabei klar im Vorteil war. Und so drängte man die eigentlichen Besitzer in Reservationen zusammen, als wären sie Vieh und keine Menschen.“
Johanna war empört, wollte aufstehen, auf den Tisch schlagen, etwas Trinken. Letzteres setzte sich am Ende durch.
„Das ist unglaublich!“, entfuhr es ihr.
„Nicht wahr? Und so etwas erforschen wir und machen es nutzbar. Natürlich stößt man auch, das will ich nicht verschweigen, auf gute Akte. Doch ehrlich gesagt, die sind von geringer Zahl im Verhältnis zu den Gräueltaten und selten der Erwähnung wert, außer sie bilden vordenkende Linien zu unserer heutigen Sicht auf die Gesellschaft.“
Johanna sah, dass sich die Bar langsam füllte.
„Professor Winkelmann! Genau so etwas will ich tun! Das fordert noch den Geist, da findet man ungeklärte Streite und Probleme, die man lösen kann! Bitte, es muss doch einen Weg geben Ihnen zu folgen!“, flehte sie ihn an.
„Jetzt sieze mich nicht! Natürlich gibt es einen Weg, aber als Assistentin können wir dich schwerlich anwerben, dazu müsstest du Geschichte studiert haben. Und Externe, wie mich, lässt man nicht so einfach zu. Du weißt doch, die Wissenschaftler bilden sich immer etwas darauf ein, was sie studierten. Und wenn dann ein Fremder kommt fühlen sie sich bedrängt. Und deine wissenschaftlichen Erfolge sind beachtlich, aber es ist immer fraglich, wie das die Kollegen sehen. Ich kann dir nur versprechen mein Bestes zu geben. Vielleicht schaffe ich es wenigstens dahin, dass du auf einen Warteplatz kommst und sofort die nächste freie Stelle erhältst.“
Johanna Niedermeyer nickte, denn sie wusste, dass er Recht hatte, also wollte sie gar nicht mehr betteln. Zudem hatte er ihr einen unschätzbaren Einblick gewährt, der in Wertmarken nicht beziffert werden konnte!
„Oh, würdest du mich bitte noch zu meinem Zimmer begleiten? Die Informationen schwirren förmlich in meinem Kopf“, bat sie ihn und erhob sich schwankend. Harry hakte sie unter.
„Natürlich. Ich vergesse manchmal, dass nicht jeder ein Experte auf dem Gebiet ist und die neuen Eindrücke erst verarbeitet werden müssen. Gerne bringe ich dich noch zu deinem Zimmer.“
Und so schritten die beiden aus der Bar, von manchen Augenpaaren missmutig beäugt. Als er sie bei ihrem Zimmer abgeladen hatte verabschiedete er sich und Johanna warf sich, noch in Abendgarderobe, ins Bett. Schnell überkam sie der Schlaf, der ihr wirre Gebilde von den gehörten Dingen zauberte.