Romane & Erzählungen
Das Goldene Zeitalter - Kapitel 14

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"Das Goldene Zeitalter - Kapitel 14"
Veröffentlicht am 24. November 2012, 4 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Die Pflicht des Menschen ist seine stetige Vervollkommnung. Ich versuche dies jeden Tag ein klein bisschen, zumindest wenn es durch Bücher geschieht.
Das Goldene Zeitalter - Kapitel 14

Das Goldene Zeitalter - Kapitel 14

Einleitung

Johanna klärt Nora über ihre Bibelübersetzung auf. Noras tiefere Gefühle für ihre beste Freundin werden ergründet. Titelbild: www.pixelio.de/©Gerd Altmann/PIXELIO

Samstags hatten weder Johanna Niedermeyer noch ihre Freundin Nora Teichmann für den Abend eine spezielle Planung. Normalerweise war der Samstag Abend perfekt geeignet mal auszugehen, doch das verkniffen sich die beiden auch manchmal, weil sie keine Lust hatten sich mit den üblichen Verdächtigen abends zu treffen, vor allem Johanna nicht, die, obwohl sie es nicht laut sagen würde, auf der Suche nach einer festen Beziehung war. Doch die Misserfolge der letzten Jahre hatten sie dahin gestimmt, dass sie nicht recht glaubte den Mann ihrer Träume bei einem Essen in einem Restaurant zu treffen, wo zufällig Mann und Frau an einem Tisch saßen und dann erst eine Weile miteinander redeten und wenn es gut lief auch zusammen aßen und dann vielleicht noch mehr gemeinsam taten. So füllte man seine nicht gerade üppig bemessene Freizeit aus um den Partner der Wahl, außerhalb der Arbeit oder dem Dienst für die Gemeinschaft kennen zu lernen. Bei den beiden genannten Institutionen war es allerdings deutlich wahrscheinlicher, dass man dort den Partner traf als bei den gemeinsamen Abendessen, aber der Mensch mag noch so rational sein, mit Wahrscheinlichkeiten kann er einfach nicht umgehen.

Lachend traten die Freundinnen in Johannas Apartment und diese begab sich sogleich in die Küche um den bereitgestellten Wein hereinzutragen. Nora machte es sich, nachdem sie eine Schale mit Konfekt aus dem Kühlschrank geholt hatte, im Wohnzimmer gemütlich. Als diese nach der Schale griff fröstelte sie leicht. Sie legte das Konfekt genüsslich auf ihre Zunge und sackte zusammen. Immer wieder von fröstelnden Schauern durchzogen spürte sie, wie die kalte Schokolade, immer mehr, in ihrem Mund zerfloss und vereinzelt mit ihrem Speicheln, jetzt warm, ihre Kehle hinunterlief. Nora liebte Schokolade, obwohl sie selten davon aß, selbst nicht von der, die sie gelegentlich zugeteilt bekam. Dafür war diese hier ein besonderer Hochgenuss für sie.

Johanna setzte sich neben sie und schenkte Wein ein, während sie belustigt ihre beste Freundin beim Schokoladengenuss beobachtete.

„Das ist besser als Sex“, äußerte Nora mit klebriger Stimme.

„Ehrlich? Dan lass mich mal probieren!“

Auch Johanna genoss, genau wie ihre Freundin, ein Stück des kalten Konfekts.

„Das ist tausendmal besser, aber leider macht es dick, Schatz“, äußerte Nora, als sie fertig war. Als auch Johanna ihr Genusserlebnis vollkommen ausgekostet hatte nahmen beide ihre Gläser und stießen klirrend auf den Abend an. Die beiden hatten sich in ihre besten Ausgehkleider geworfen und dezent geschminkt. Allein so hatten sie auf der Straße die Blicke der Männer auf sich gezogen. Dann kokettierten sie auch noch mit deren Phantasie,  indem die ihnen Kusshändchen zuwarfen und verstohlen blinzelten, wenn ein recht attraktiver Herr des Weges kam. Einer, der ihnen besonders lange nachsah wäre beinahe gegen ein Straßenschild gelaufen. Natürlich mussten die beiden, nachdem sie hinter der nächsten Biegung verschwunden waren, herzlich darüber lachen. Das dauerte auch eine Weile an, sodass sie einige irritierte Blicke ernteten, bis sie sich schließlich zusammenreißen konnten und, gelegentlich kichernd, wie kleine Mädchen, zu Johannas Apartment wanderten.

„Und, was machen wir zwei heißen Schnittchen jetzt so den lieben langen Abend?“, fragte Johanna amüsiert.

„Fangen wir doch mal damit an nachzusehen, was alles so im Fernsehen läuft“, schlug Nora vor.

„Nein, das hat sich schon erledigt. Um diese Uhrzeit wirst du nur noch Gottesdienste reinkriegen.“

Nora stöhnte laut. „Das ist doch Mist! Wieso müssen die denn andauernd sowas zeigen!“

Johanna wedelte tadelnd mit dem Finger vor ihrer Nase herum. „Also bitte, Nora! Was redest denn du da!“, sprach sie im Stile ihrer alten Lehrerin. Dann erhob sie sich und ahmte auch ihre Körperpose nach, wobei sie sich immer nach vorne beugte und die andere Hand im Rücken beließ. Anders als bei ihrer schon nicht mehr taufrischen Lehrerin, die noch dazu den Eindruck einer vertrockneten Pflaume gemacht hatte und auch entfernt immer nach Dörrobst roch, bot sich Nora ein sehr angenehmer Anblick in das weit ausgeschnittene Dekolleté ihrer Freundin. Sie musste zwar über die Imitation lachen, doch gleichzeitig genoss sie die appetitliche Aussicht.

„Du dummes Kind! Hast du immer noch nicht gelernt, wie unser Staat funktioniert? Du wirst es so zu nichts im Leben bringen, hast du gehört, zu nichts!“

Johanna wandte sich, zu Noras Leidwesen, von ihr ab und lief in Kreisen um den runden Glastisch. Dabei wedelte sie immer mit dem Finger und sprach, stur geradeaus blickend, zu Nora, die dieses Schauspiel jetzt immer amüsierter betrachtete, während sie sich nochmal Wein nachgoss.

„Die Gottesdienste werden gesendet, damit jeder, der auch am Sonntag arbeiten muss kein Problem hat dies zu verfolgen, auch wenn er nicht in einem Tempel ist. Und zudem sehen wir alle, sobald der erste Gottesdienst beginnt auch alle anderen den ersten bis zum Letzten, weil wir dann alle erkennen können, dass unsere Brüder und Schwestern damit beginnen den einzig korrekten Dingen zu lauschen. Alles andere Fernsehen ist auch gut, aber diese Programme machen wohl die Krone des Programmes aus, denn sie zeigen unverfälscht, was wirklich Fortschrittlicher Utilitarismus ist.“

Sie blieb vor Nora stehen und beugte sich zu ihrem Gesicht hinab, sodass diese ihren warmen Atem auf dem Gesicht spüren konnte. Noras Puls beschleunigte.

„Du wirst es nie, nie zu etwas bringen, wenn du das nicht lernst!“, schloss sie und ließ sich dann lachend auf das Sofa fallen. Nora musste sich zusammennehmen um nicht sofort rot zu werden oder besonders schnell zu atmen. Johanna sollte nicht bemerken, was sie fühlte. Doch die war auch so zu sehr damit beschäftigt sich selbst nachzuschenken.

„Ich will doch auch mal was von meinem Wein haben. Nicht dass du mir noch alles wegtrinkst, du kleiner Schluckspecht. Du hast schon früher immer so viel wegkippen können. Erinnerst du dich an unseren Abschluss bei der Uni?“

Nora massierte sich die Schläfen. Das tat sie immer, wenn sie angestrengt nachdachte.

„Naja, verschwommen“, eröffnete sie. „Woran ich mich erinnern kann war, dass wir damals zusammen getanzt haben, weil wir zu viele Mädels waren. Und dann begann das große Trinkspiel mit den Professoren. Ich habe die glaube ich alle unter den Tisch getrunken, selbst den Schneider, der seine Frau betrogen hat und immer einmal die Woche in der Kneipe saß. Die Lindner hatte ein enormes Stehvermögen, war als Letzte übrig. Ich glaube, die wollte sich an mich ranmachen, als alle anderen Professoren unterm Tisch schnarchten. Aber der letzte Tequilla hat ihr den Rest gegeben, zum Glück.“

„Ja und danach haben wir nochmal getanzt“, ergänzte Johanna lachend.

Nora wurde weiß wie eine frisch gekalkte Wand.

„Sag mir bitte nicht, ich hätte dann Mist gemacht“, flehte sie schon fast.

„Was hast du denn?“, fragte ihre beste Freundin verwundert.

„Naja, wenn ich betrunken bin, dass werde ich doch immer so anlehnungsbedürftig“, deutete diese an. Oh nein, nicht dass sie Johanna irgendwelche Avancen gemacht hatte, als sie betrunken war.

„Anlehnungsbedürftig kannst du laut sagen! Ich habe dich praktisch über die Tanzfläche getragen, Nora. Du hast zeitweise wie ein nasser Sack an mir gehangen. Und Schatz, obwohl du sonst eine Zierde unseres Geschlechts bist hast du dich in diesen Momenten angefühlt, als würdest du mehrere Tonnen wiegen!“

Johanna musste über das verblüffte Gesicht ihrer Freundin laut lachen.

„Du siehst mich gerade an, als erwartest du noch irgendetwas von mir. Nein, ich habe mir dann auch noch was reingekippt und wir sind abgeschwirrt. Dich hab ich dann ausgezogen und kalt abgespült. Das hat dich immerhin so nüchtern gemacht, dass du allein in dein Bett in der WG gefunden hast. Und am nächsten Tag hattest du einen irren Kater, der aber nach einem Tag Pflege, durch mich, wieder weg war.“

Ja, Nora erinnerte sich daran, dass ihre beste Freundin am nächsten Tag für sie gesorgt hatte. Und sie hatte es sich gern gefallen lassen, denn die lieben Worte waren Balsam für ihre Seele gewesen. Damals hatte sie sich von ihrem damaligen Freund getrennt, besser gesagt, der hatte sie abservieren wollen für eine andere, mit der er schon so gut wie in der Kiste war, als die Mindestzeit des Zusammenseins gerade so erreicht war. Damals hatte sie sich, wieder einmal, vorgenommen, dass die Männer sie mal konnten. Doch dann war ihr später der Mann über den Weg gelaufen, mit dem sie jetzt eine feste Beziehung führte, die gerade ein kleines Tief erreicht hatte, aber wie Johanna ihr unter der Dusche gesagt hatte würde es wieder bergauf gehen. Und gestern noch hatte er Nora Rosen geschenkt als kleine Entschädigung. Aber Nora hatte immer Trost bei Johanna gefunden, die nicht so viel Glück wie sie mit einer richtig festen Beziehung hatte. Sie hatte einmal scherzhaft geäußert, dass, sollte die Männerwelt nicht merken, was sie verlieren würde, könnten doch sie beide ein Paar bilden. Und Johanna hatte dies lachend begrüßt.

„Ja, danke übrigens dafür, hab ich dir das eigentlich schon mal gesagt?“, fragte Nora kleinlaut.

„Bestimmt und jetzt nicht Trübsal blasen, Nörchen! Komm, weg mit dem Glas!“

Johanna schenkte ihr tüchtig ein und Nora kippte den Wein wie Wasser hinunter, fühlte sich danach aber in der Tat wieder normal.

„So und jetzt zeig ich dir mal etwas. Das ist eine streng geheime Sache an der ich in meiner Freizeit arbeite“, begann Johanna verschwörerisch und weckte damit sofort das Interesse ihrer beten Freundin.

Die beiden begaben sich in Johannas Arbeitszimmer.  

Nora setzte sich auf den Drehstuhl und drehte ein paar Runden. Währenddessen öffnete Johanna den Safe und entnahm ihm die Bibel, das Wörterbuch und ihre Aufzeichnungen. Das alles breitete auf dem großen Schreibtisch aus.

„Weißt du was das ist?“

Nora war interessiert, konnte aber mit dem Wort „Bibel“ nichts recht anfangen. Doch dann dämmerten ihr ein paar Lektionen aus dem Unterricht.

„Scheiße, Johanna! Das ist ein verbotenes Buch!“, entfuhr es ihr erschrocken.

„Bitte, jetzt beruhig dich mal“, spielte es ihre Freundin herunter und hinderte sie bestimmt daran aufzustehen. „Du bleibst jetzt mal sitzen. Und du wirst auch wissen, was das ist?“

„Ein Wörterbuch“, kam es unruhig von Noras Lippen. „Aber jetzt mal ehrlich, woher hast du das?“

„Das ist einfach. Mein Großvater Hatte die Bibel in einem Karton aufbewahrt auf dem Dachboden, der irgendwo ganz hinten stand. Und da haben dann die Beamten der Geheimen Staatspolizei nicht nachgesehen. Er selbst wusste auch nicht, dass er das Buch noch hatte. Und er hat es erst meiner Mutter geschenkt und dann mir, weil meine Mutter genauso reagierte wie du, als sie die Bedeutung des Buches erkannte. Ich war immer sein mutiges Mädchen, musst du wissen.“

Lächelnd schob sie die Bücher beiseite und breitete die Übersetzung aus.

„Das ist der Beginn meiner Ãœbersetzung. Mit der Zeit habe ich begonnen noch andere Bücher über die ziemlich vergessene deutsche Sprache heraus zu kramen. Und ich glaube sie so langsam zu durchdringen. Aber es ist nicht so einfach, denn die Worte sind manchmal sehr schwierig und oft mehrdeutig. Da muss man manchmal ein wenig experimentieren, wenn man den wahren Sinn finden will. Aber ich bin auf einem guten Weg.“

Nora blickte Johanna entsetzt an. Dass sie nicht weinte war dem enormen Schock zu verdanken, den diese lockere Redeweise in ihr auslöste.

„Wie kannst du nur?“, fragte sie ungläubig.

„Wie kann ich bitte was?“

„Na das! Du nimmst ein an sich schon verbotenes Buch und übersetzt es auch noch. Das ist schrecklich! Du kannst dafür sonst wie lang in eine Umerziehungsanstalt wandern. Und wenn du dann rauskommst ist dein Gehirn vollkommen gewaschen. Und ich hab dich dann auch mehrere Jahrzehnte nicht gesehen, ich würde meine beste Freundin verlieren!“, schluchzte Nora.

Johanna wurde flau im Magen. Sie beugte sich zu ihr hinab und umarmte sie wie ein weinendes Kind.

„Ach komm. Was soll denn mir schon passieren? Das ist doch alles nur für den Eigenbedarf. Ich habe mitnichten sie schon an Selbstmord grenzende Intention mein Resultat eines Tages zu veröffentlichen. Und wenn du siehst wie viel ich noch vor mir habe, selbst wenn ich immer schneller arbeiten kann, das dauert noch viele Jahre, sogar Jahrzehnte. Vielleicht schaffe ich es gar nicht bis zu meinem Lebensende. Da können meine Kinder das ja weitermachen, oder meine Enkel, wenn sie wollen. Und sonst benehme ich mich doch auch ganz normal, oder? Solange ich keine Auffälligkeiten aufkommen lasse wird niemand misstrauisch. Meine Arbeit vollführe ich mit voller Kraft und auch meinen Dienst für die Gesellschaft…“

Nora hatte sich langsam wieder gefangen und blickte zu ihrer Freundin auf.

„Aber, was ist denn mit der Liebe?“, fragte sie beinahe schon kindisch naiv.

„Was soll denn damit sein?“

„Du weißt doch. Du arbeitest den ganzen Tag. Mag sein, dass das alles funktioniert, aber einen Mann findest du so nicht, meine Süße. Und ich fände es nicht gut, wenn du als Fräulein einstmals von dannen gehen würdest.“

Johanna küsste Nora auf die Wange.

„Das ist ja süß von dir, dass du dir solche Gedanken machst, aber keine Sorge. Ich geh auch immer wieder aus. Ich finde schon jemanden, egal welches Geschlechts“, fügte sie lapidar an und dachte sich nichts dabei. Nora hingegen brannte der Kuss auf der Wange. Sie wollte sich schwören dort nie wieder zu waschen, aber das war natürlich dämlich. Trotzdem fühlte sie sich unendlich wohl und geborgen in den Armen von Johanna, welche sie in ihrem tiefsten Inneren nicht nur als eine sehr gute Freundin betrachtete, sondern als mehr. Und insgeheim hoffte sie immer noch, dass Johanna eines Tages einmal vor ihrer Tür stehen würde und verkünden würde, dass sie von den Männern endgültig genug haben würde und Nora dann auch niemanden haben würde und sie dann in ihr Apartment lassen würde, sie trösten und dann lieben würde.

An dieser Stelle sei eine Erklärung einzuschieben.

Der geneigte Leser wird aus dem Bisherigen schlussfolgern, dass Homosexualität eine sittliche Unanständigkeit für diese Gesellschaft sei, es vielleicht gar unter Strafe stände, wie der Leser, sofern er einen gewissen Sinn für Rechtsgeschichte hat, erkennen wird, dass es auch einstmals bei ihm so war. Aber glücklicherweise nicht mehr.

Und so ist es auch in der Gesellschaft des Goldenen Zeitalters. Homosexualität wird keineswegs strafrechtlich verfolgt oder ist sonst irgendwie mit einer Sanktion behaftet. Selbst gesellschaftlich nicht, was der große Schritt gegenüber der Ihrigen ist. Homosexualität ist im Gegenteil sogar erwünscht. Man begegnet homosexuellen Paaren mit Wohlwollen und die eigene gleichgeschlechtliche Sexualität ist kein Grund für Eltern sich zu schämen, sondern eher ein Grund zur Freude.

Wie ist das nun zu verstehen. Die Populationsregulierung förderte schnell zu Tage, dass es besser ist, wenn ein nicht unerheblicher Prozentsatz der Weltbevölkerung gleichgeschlechtlich verbandelt war. Denn dadurch entstanden weniger Kinder und so mussten weniger Kinder eingefroren werden. Man kann Homosexualität, wie es in einem Aufsatz dazu einstmals genannt wurde, als „regulierendes Korrektiv“ bezeichnen. Natürlich besteht auch für diese Paare die Möglichkeit der Adoption, denn wenn Neugeborene besonders lange eingefroren werden kann es ein, dass die natürlichen Eltern entweder schon sehr alt oder tot sind. Und dann adoptiert man sie, vor allem zu homosexuellen Paaren, die sonst die Möglichkeit des selbstständigen Gebärens nicht haben, oder Ehepaare, die aus medizinischen Gründen, keine Kinder bekommen können. Die Regeln zur Adoption sind übrigens nicht sehr viel gelockert worden im Verhältnis zu denen, die der geneigte Leser in seiner Zeit noch vorfindet. Sogar verschärfte man sie, indem man Kinder nur in Ehen (ja, auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften gelten als Ehen, weil man die entsprechende Grundlage änderte, dass Mann und Frau oder zwei gleichgeschlechtliche, ebenfalls heiratsfähige Partner, eine Ehe eingehen können) gibt zur Familienbegründung, wenn diese auch ideologisch korrekt sind. Verdächtige Ehepartner erhalten nicht die Chance zur Adoption und da reicht einer von beiden aus unabhängig vom anderen.

Wenn man dies nun sieht wird man sich zu Recht fragen, wieso für Nora dann die Bezeugung ihrer wahren Gefühle so schwer war. Das hatte familiäre Gründe. Ihre größere Schwester hatte den umgekehrten Weg erlebt. In ihrer Pubertät wuchs das spaßhafte Verlangen nach dem gleichen Geschlecht zu einer scheinbaren echten Veranlagung. Und sie war auch glücklich mit ihrer damaligen Freundin. Doch nach dem Abschlussball, sie hatte ein wenig mehr konsumiert, hatte sie sich nicht an ihre Freundin gehalten, die bereits gegangen war, da sie die alkoholgeschwängerten Stunden verabscheute, sondern an ihren besten Freund. Und als er sie schließlich zu sich nach Hause geführt hatte, denn der Weg war kürzer, waren die beiden sich dessen bewusst geworden, dass da mehr war. Für ihn schon immer, doch auch Noras Schwester war dem nicht abgeneigt. Und in der Nacht liebten sich die beiden mehrfach, was sie dahin brachte, dass sie erkannte, dass sie nicht homosexuell, sondern hetero war, denn sie empfand kein Verlangen mehr nach ihrer Freundin. Das alles führte dazu, dass erst sie sich von ihr abwandte, weil ihre Liebe enttäuscht worden war und die Person, die sie jetzt am Meisten liebte verhedderte sich in der Situation, dass es jetzt mehr als Freundschaft war und suchte schließlich schnell das Weite. So stand sie plötzlich allein da. Und Nora befürchtete, dass exakt das Gleiche würde geschehen. Auch wenn sie irgendwann allein sein würde, woran sie nicht dachte, könnte Johanna ebenso von ihr scheiden, wie es der Freund ihrer Schwester getan hatte. Also unterdrückte Nora ihr immer wieder aufkommendes Verlangen und erfreute sich der Freundschaft mit Johanna, auch wenn das nicht immer leicht für sie war, wie gerade eben.

Deshalb hatte sie aber nicht desto weniger Angst diesen geliebten Menschen zu verlieren, weil dieser sich einem verbotenen Hobby hingab.

Johanna schloss alles wieder weg und setzte sich auf die Tischkante.

„Und das ist noch nicht alles. Wenn ich erst einmal die wichtigsten Stellen übersetzt habe kann ich deren wahren Sinn herausfiltern und diesen mit den bekannten Aufsätzen der Religionswissenschaftler unserer Zeit vergleichen. Ich glaube nämlich nicht jede Interpretation. Und hier kann ich sie einmal am Original nachverfolgen. Stell dir das mal vor, wenn ich vielleicht eine ganz andere Bedeutung dieser Religion erkenne, abgesondert von den negativen Dingen, die der Mensch in ihrem Namen getan hat.“

Nora wurde jetzt richtig schlecht. Sie umfasste die Arme ihrer Freundin und blickte sie eindringlich an.

„Du lässt das alles fallen, einverstanden? Ich will keine nichtexistente Freundin mehr haben! Du legst dich mit diesem Hobby mit der Gesellschaft an sich an. Das geht nicht, den Kampf gewinnst du nicht. Bitte, tu es mir zuliebe. Bitte, fang doch ein anderes Hobby an, was weiß ich, Origami oder so. Irgendwas Ungefährliches!“

„Gott, Nora. Das ist so toll, dass du solche Angst um mich hast, aber ich werde von diesem Hobby richtig ausgefüllt. Meine Arbeit macht mir noch Spaß, aber weißt du, in den letzten Jahren glaube ich vollkommen mit meiner Forschung auf der Stelle zu treten. Und das glaube nicht nur ich, sondern auch meine ganzen Kollegen.“

Nora stutze. „Na aber, man liest ständig irgendwelche Sachen, dass ihr neue Erkenntnisse habt. Wo sind denn die bitteschön, oder lügt ihr etwa, verehrte Kollegen?“, fragt sie unwirsch.

„Was denkst du denn von uns! Die Erkenntnisse gibt es natürlich, aber was wir finden können wir bisher so selten fruchtbar machen für unsere Forschung, dass wir zwar neue Sachen sehen, aber nichts damit anfangen können. Einiges können wir uns kaum erklären, Nora. Und solange wir da nicht vorankommen und ehrlich gesagt, bisher ist das nicht gerade der Fall, dann treten wir auch bei den Ergebnissen auf der Stelle. So einfach ist das. Aber hier kann ich noch so forschen, wie es mir Spaß macht. Und ich komme voran, ich sehe Ziele, die zwar fern sind, aber ich kenne den ungefähren Weg dorthin. Nora, das habe ich so lange in meiner Forschungstätigkeit nicht gehabt. Bitte, nimm mir das nicht weg.“

Ihre Freundin verstand. Und es war verständlich, was sie vorbrachte. Aber sie wollte es trotzdem nochmals versuchen.

„Kannst du nicht an irgendwas forschen, was dich auch so ausfüllt, was aber ungefährlich ist?“

„Geschichtsforschung wäre schön, wie es mein Mentor betreibt. Aber bis man dahin kommt dauert es Jahre. Und bis dahin muss ich mich eben so bei Laune halten. Vielleicht stellen sich ja bald auch in meiner regulären Arbeit große Fortschritte ein und wir forschen uns wieder dumm und dusselig. Dann lasse ich das hier selbstverständlich fallen, versprochen.“

Nora war das deutlich zu wenig, aber es war besser als gar nichts, denn ganz sicher konnte sie Johanna nicht von ihrem Plan abbringen. Also ergab sie sich in das Unvermeidliche und man verlebt noch einen schönen Abend, ohne dieses Thema noch einmal anzuschneiden.

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RogerWright
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