Nayami Sakihara ist ein ganz normales 17-järiges Mädchen, allerdings nur so lange, bis man den schwer verletzten Kyo direkt vor ihren Augen aus einem Auto stößt. Entsetzt nimmt sie den wortkargen Straßenjungen mit sich und muss schon bald feststellen, dass er ein Geheimnis hütet, das weit über die normalen Grenzen der Gangszene hinausgehen. Je tiefer Nayami in jenes Geheimnis eindringt, desto klarer wird ihr, das es kein zurück in die Welt des Lichts gibt. Und schon bald muss sie nicht nur um Kyo fürchten...
Was denkt ihr, wenn ihr Jugendliche in zerrissenen Klamotten,mit großflächig tätowierter Haut und Alkohol in der Hand in den Eingängen irgendwelcher verlassenen Bauten seht?
Habt ihr Mitleid mit diesen scheinbar obdachlosen Teenagern? Verängstigen sie euch? Verachtet ihr sie und bezeichnet sie als "Gossenkinder" oder "Kriminelle"? Oder wünscht ihr ihnen sogar den Tod?
Ich habe mich nie mit solchen Fragen beschäftigt, bis "Er" mein Leben aus der Bahn brachte. Verzeiht, ich greife den Dingen mal wieder vorraus.
Ich sollte mich an dieser Stelle wahrscheinlich vorstellen: Mein Name lautet Nayami Sakihara und ich bin 17 Jahre alt. Mein Vater leitet eine große Firma in der Videospiele hergestellt werden. Ich habe eine ältere Schwester namens Mizuki und einen kleinen Bruder namens Kohaku. Meine Mutter arbeitet nicht, da Vater genug verdient. Ich gehe derzeit auf die Ikihara-Mädchenschule im Nobelviertel unsere Stadt. Und genau dort beginnt diese Geschichte:
„Also, wir sehen uns morgen!“, verabschiedete sich meine Freundin Kirika von mir und Sakuya.
„Ja, bis morgen.“, verabschiedeten wir uns ebenfalls und machten uns auf den Weg nach Hause. Vater besteht darauf, dass mich eine Freundin begleiten solle, und Sakuya wohnt in meiner Straße. Allerdings sollte es heute anders kommen.
„Du, Nayami... ich müsste noch einmal kurz zu Yukiji... du verstehst?“, fing Sakuya an.
Ich verstand tatsächlich. Yukiji war Sakuyas Freund, allerdings war ihr Vater gegen die Beziehung, weshalb man sich heimlich traf und ich dann immer als Ausrede herhielt. Das machte mir aber nichts. Sakuya würde das selbe für mich tun und jetzt hatte ich zeit, noch etwas alleine durch die Stadt zu bummeln.
Ein Fehler, wie sich herausstellte, da ich mich verlief, als es bereits dunkel geworden war.
Schlagartig nahm ich jedes Geräusch deutlich wahr und fuhr bei jedem noch so leisem Rascheln zusammen. Fest umklammerte ich den Tragegriff meiner Schultasche. Mein Handy hatte ich dummerweise zuhause liegen lassen..
Das quietschen von Autoreifen zerriss mein Trommelfell fast und wenig später sah ich etwa 100 Meter vor mir, wie ein großes Etwas aus einem Auto gestoßen wurde und mit einem dumpfen Aufprall auf dem Asphalt landete, während das Auto wieder mit qualmenden Reifen und einem schrillen Quietschen in der Dunkelheit verschwand
Ich schluckte, näherte mich dem Ding auf der Straße etwas, insgeheim hoffend, dass es nur ein großer Müllsack war, doch ich sollte mich wie sooft irren.
Nun trennten mich noch knapp 70 Meter von dem Etwas und ich erkannte, dass es sich um einen Körper handelte. Ein Tier vielleicht? Aber so groß?
40 Meter. Doch, es ist ein Körper, aber kein Tier. Es ist ein Mensch, oder eine Puppe vielleicht?
20 Meter. Es ist ein Mensch. Was war bloß mit ihm geschehen? Er rührte sich nicht, weshalb ich damit rechnete, das er tot war
Schließlich erreichte ich die Leiche und drehte sie von der Seite auf den Rücken. Bei dem Toten handelte es sich um einen jungen Mann, etwa älter als ich, aber auf keinen Fall über 20. Ich schätze ihn auf etwa 18.
Seine schwarzen Haare, welche fast vollständig mit der Nacht verschmolzen waren, waren mit Blut verklebt, welches auch in den Mundwinkeln der schmalen Lippen zu sehen war und an seiner Schläfe klaffte eine riesige Platzwunde. Seine Nase war früher wohl mal grade gewesen, was nun aber kaum zu erkennen war, da sie gebrochen war und seine Augen wurden von blauen Blutergüssen umkreist.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie er wohl vorher ausgesehen hatte, doch ich schaffte es nicht und ließ meinen Blick nur weiter über den Leblosen Körper wandern.
Dass die Leiche kein Shirt trug, irritierte mich, aber angesichts der Situation tat ich das ganze schnell wieder ab
Ein Drachentattoo zierte die Brust des Toten, zog sich bis zu seinem Hals hinauf, wo der Drache seinen Kopf hatte. Es waren einige offene Schnitt- und Stichwunden zu sehen, welche bei dem Tattoo wirkten, als hätte man den Drachen verwundet. Neben den frischen Wunden waren auch einige ältere Wunden und auch Narben zu sehen, die sowohl den Torso der Leiche, als auch seine Arme zeichneten. Wie oft hatte er wohl schon solche Kämpfe ausgetragen und überlebt? War er ein Gangmitglied?
Ich ließ meinen Blick noch etwas weiter wandern, sah in seiner rechten Armbeuge Einstiche, einige alt, andere neu. Ein Junkie vielleicht? Eher weniger, da einige Stiche verrutscht aussahen, als hätte der Typ sich gewehrt. Die frischeren Stiche hingegen waren erschreckend präzise.
Was hätte dieser Mann wohl erzählen können, wenn er noch leben würde? Ich schüttelte nur den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben und erfasste die Lage noch einmal:
Ich saß da also, auf der Straße, neben einer Leiche und hatte keine Ahnung was ich jetzt machen sollte. Ich war mit einem Toten allein....
Allerdings bewies der Typ mir wenige Sekunden nach diesem Gedankengang, dass er noch sehr lebendig war, da seine Hand nach vorn schnellte und mich an der Kehle packte, dennoch war der Griff der zitternden, blutigen Finger denkbar schwach.
Ich erschrak und begann zu zittern.
Der Griff der großen Hand wurde nach und nach immer zittriger und schwächer, ehe der Griff komplett erschlaffte und seine Hand an meinem Hals hinab, das Blut an meinen Kleidern verteilend, zu Boden glitt. Seine Augen waren halb geöffnet und der Drache auf seiner Brust zitterte unter dem unregelmäßigen Atemzügen seines Trägers
„Sir, was ist mit ihnen passiert? Sind sie ausgeraubt worden?“, fragte ich unsicher, wusste nicht einmal, ob er mich wahrnahm, geschweige denn hörte.
Er hörte mich, verstand jedes Wort, das merkte ich, als sein Blick meinen traf. Naja, besser gesagt starrte er mich einfach mit seinen glanzlosen schwarzen Augen an, als wolle er mir die Seele aussaugen. Sein Blick war seltsam. Hasserfüllt, kalt und... routiniert, als wäre es nicht das erste mal, das er so verwundet war.
Er machte Anstalten, aufstehen zu wollen, scheiterte aber und schaute an sich herunter, wirkte kurz sehr verwirrt, ehe er sich wieder zurück sinken ließ und seine Augen mit einem Arm bedeckte.
„Fuck... schon wieder versagt...!“, knurrte er mit röchelnder Stimme, welche einen leicht gluckernden nachklang hatte, als würde etwas in seine Lunge bluten. Schließlich spuckte er kurz Blut, schien aber gar keine Schmerzen zu haben.
„ähm... Brauchen Sie einen Krankenwagen Sir?“, fragte ich verunsichert.
Diesmal bekam ich eine Antwort, zumindest so etwas ähnliches: „Was interessiert es dich, ob ich verrecke oder nicht?!“
Wieder dieser gluckernde Nachklang und wieder spuckte der Typ Blut. Er verzog allerdings immer noch keine Miene.
„Wie könnte ich zulassen, das jemand in meiner Anwesenheit stirbt?! Das ist moralisch nicht richtig!“, ich war außer mir, da er mir feindselig begegnete, obwohl ich ihm helfen wollte.
„Moral... Soso.“, murmelte er nur, schaute zur Seite weg.
Ich schüttelte nur den Kopf und tastete seine Seiten ab, um zu sehen ob Rippen gebrochen waren. Dabei achtete ich nicht auf den Druck, den ich ausübte, denn er schien ja keine Schmerzen zu haben.
Falsch gedacht. Als ich mit der Hand auf eine gebrochene Rippe drückte, schrie er fast, begann zu zittern und zu keuchen
„Fass... fass mich nicht an...!“, japste der Kerl mit zusammengepressten Lippen.
Das war die erste Regung in seinem Gesicht und ließ mich noch entschlossener werden, ihm zu helfen.
„Lassen Sie sich doch helfen. Sie sind noch so jung und haben noch so viel vor sich. Sie sind stark und müssen nicht sterben. Sie müssen sich nur helfen lassen.“, versuchte ich den Typen zu überreden, meine Hilfe anzunehmen, „Ich muss sehen, wie viele innere Verletzungen Sie haben...“
Mit diesen Worten streckte ich meine Hand wieder nach ihm aus, tastete seinen Oberkörper weiter ab, aber vorsichtiger als vorher, dennoch stöhnte der Typ immer wieder vor Schmerzen auf und hatte die Hände gekrämpft, aber er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben um meine notdürftigen und wahrscheinlich komplett falschen Untersuchungen nicht zu stören.
Ich habe nicht die geringste Ahnung von Medizin, nicht mal von erster Hilfe. Keine gute Voraussetzung.
„Haben Sie ein Handy?“, fragte ich meinen "Patienten".
Dieser schüttelte nur schwach den Kopf und blinzelte leicht benommen, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren.
Ich bekam Angst, da sich sein Zustand so schnell verschlechtert hatte und durchsuchte die Taschen seiner weiten Cargohose nach einem Handy, doch ich fand nichts. Keine Brieftasche, keinen Ausweis, keinen Schlüsselbund nicht einmal Kleingeld.
In meinem Kopf setzte sich das Puzzle des Tathergangs zusammen.
Er war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und von Halbstarken verprügelt und ausgeraubt worden.
Ich weigerte mich zu glauben, dass es anders gewesen war.
Mit zitternden Händen kramte ich in meiner Tasche, wusste gar nicht, was ich eigentlich suchte.
Ich erschrak kurz, als meine Finger auf meine kalte Trinkflasche trafen und diese umklammerten und schließlich aus der Tasche zogen.
„Hier, trinken Sie!“, wies ich den Schwarzhaarigen an und hielt ihm die Flasche hin, doch er schüttelte nur den Kopf.
„Machen Sie schon!“, schrie ich den Tränen der Angst und einem Nervenzusammenbruch nahe.
Keine Reaktion mehr. Seine Augen waren ihm zugefallen.
Ich schüttelte mich kurz, er würde durchhalten! Er musste durchhalten! Ich könnte es nicht ertragen, wenn ein Mensch vor meinen Augen gestorben wäre. Ich leerte meine Tasche, fand darin etwas Kleingeld und mit diesem bewaffnet rannte ich zur nächsten Telefonzelle, rief einen Krankenwagen und eilte dann tränenblind wieder zu dem Raubopfer, neben welches ich mich wieder kniete und eine der pechschwarzen Haarsträhnen, welche durch angetrocknetes Blut ganz klebrig war, aus dem bleichen Gesicht strich.
Da sah ich auch schon das Blaulicht und hörte die Sirenen des Krankenwagens, welche auch den jungen Mann weckten.
„Ich heiße übrigens Nayami Sakihara.“, erzählte ich ihm, um ihn wach zu halten, „Und Sie? Wie lautet ihr Name?“
„Kyo... Kyo Takagi..“, röchelte er benommen, als die Sanitäter sich seiner annahmen und ihn in den Krankenwagen luden.
Einer der Sanitäter stellte mir noch ein paar Fragen und bot mir an, mich nach hause zu bringen, welches ich auch dankend annahm.
„Sagen Sie, er wird es schaffen, oder?“, fragte ich leise, den Blick kurz auf Kyo gerichtet.
Der Sanitäter, der mich vorhin ausgefragt hatte, zögerte: „Wir geben unser Bestes...“
Ich hörte den unsicheren und hilflosen Unterton aus seiner Stimme.
„Er wird es schaffen! Er muss es schaffen...!“, murmelte ich
„Wie gesagt, wir tun alles um deinen Freund zu retten.“
Wäre ich nicht so aufgelöst gewesen, hätte ich das wohl sofort korrigiert, aber so setzte man mich einfach Zuhause ab, wo ich bereits von meinen völlig aufgelösten Eltern empfangen wurde...