„MADNESS“
Es begab sich eines Tages, dass ein Mann namens Tom auf einer Parkbank saß. Tom hatte gerade Mittagspause: eine volle Stunde lang (welch Seltenheit in unserer heutigen Zeit). Ebendiese Mittagspause genoss er in einem kleinen, aber grünen und ruhigen Park unweit seines Arbeitsplatzes. Um genau zu sein tat er das in jeder Mittagspause, und er saß jeden Tag auf derselben Bank, die am Rande einer kleinen Lichtung stand. So kehrte er jeden Tag zufrieden, satt und entspannt zu seiner Arbeit zurück.
Tom saß also auf seiner Lieblingsbank in seinem Lieblingspark. Es war ein schöner Tag im Spätfrühling, nicht zu warm und nicht zu kalt. Die Sonne lachte vom Himmel, die Vögel zwitscherten, und hier und da tollte ein Schmetterling durch die Luft.
Tom merkte jedoch nur wenig davon, denn er war in seine Zeitung vertieft. Seine Gedanken kreisten um die Geschehnisse in fernen Ländern, aber auch in seiner Heimat. Autounfälle, Wetterkapriolen, Diebstähle, die Eröffnung neuer Supermärkte, politische Skandale und die neuesten Techtelmechtel von Halbprominenten gingen ihm durch den Kopf. Die meisten dieser Dinge blieben nicht lange dort, nur lang genug, um sich eine Meinung darüber zu bilden. So bekam Tom viel von der Welt mit, sogar von verschiedenen Welten, nur eben nicht von der um ihn herum.
Darum bemerkte er auch den alten Greis nicht sofort. Der Alte – wohl irgendwo zwischen siebzig und achtzig, aber noch recht fit für sein Alter – ging langsam in Toms Nähe umher. Er zog Kreise von einer Ecke der Lichtung zur anderen. Sein Blick war abwesend und seine Schritte schienen willkürlich. Dennoch war der Alte auf eine seltsame Art zielstrebig. Ein Beobachter würde ihn wohl als verwirrt beschreiben.
Irgendwann, zwischen der High Society und den neuesten Cartoons, wurde Tom auf ihn aufmerksam. Nicht wegen dem durchaus lauten Geräusch, den seine Schuhe auf dem Kiesweg verursachten, auch nicht, weil er die halb hektischen Bewegungen des Alten aus den Augenwinkeln sah. Nein, es lag daran, dass der alte Mann plötzlich lautstark durch die Gegend zu rufen begann.
Es war bloß ein einziges Wort, das er von sich gab; nicht übermäßig laut, aber doch so, dass es in der näheren Umgebung hörbar war: „Madness.“
Auch Tom vernahm es. Zum ersten Mal seit fast fünfzehn Minuten blickte er von seiner Zeitung auf und begann, den alten Mann zu beobachten. Er sah zu, wie der Alte immer und immer wieder die Lichtung durchquerte und im Abstand von vielleicht dreißig Sekunden das Wort „Madness“ wiederholte. Warum er das tat, entzog sich völlig Toms Verstand. Es schien keinerlei Sinn zu ergeben. Zuerst dachte Tom ja, der Alte wäre verrückt. Er dachte, er wäre vielleicht ein Obdachloser, der im Park seine Kreise zog und sinnlose Worte brabbelte. So etwas kam weit öfter vor als man glauben möchte.
Doch dieser alte Mann war anders. Rein äußerlich machte er einen intelligenten und absolut normalen Eindruck. Er war sauber rasiert, trug frische Kleidung (inklusive Hut) und sogar einen Hauch Parfüm. Der Mann war definitiv kein Heimatloser.
Anfangs bemühte sich Tom, den Alten zu ignorieren. Er konzentrierte sich, so gut es ging, auf seine Zeitung; versuchte, die Fußstapfen und das Geschrei auszublenden. Doch das gelang nur mäßig. Immer wieder verlor er die Konzentration und war gezwungen, einen Artikel noch einmal ganz von vorne zu lesen. Er konnte die Informationen, ob wichtig oder nicht, gar nicht recht aufnehmen. Am Ende wusste Tom gar nicht mehr genau, ob ihm die Schwangerschaft des Popsternchens völlig egal war oder nur ein bisschen.
Schließlich hatte Tom genug. Der alte Mann ging ihm recht auf die Nerven. Er warf die Zeitung auf die Bank (heftiger als vielleicht notwendig) und stapfte auf den Alten zu.
„Is there something wrong? Can I help you?“ fragte Tom. Er sprach freilich Englisch, da er annahm, dass der Alte kein Deutsch verstand. Warum sonst sollte er auf Englisch schreien? Dabei war Toms Englisch ein Überbleibsel aus der Schule. Er hatte einen überdeutlichem Akzent, was sich für einen Muttersprachler sicher furchtbar anhören musste.
Der alte Mann hielt inne. Anstatt, wie Tom gehofft hatte, etwas zu erwidern, starrte er ihn nur an. In seinen Augen lag eine gewisse Verwirrtheit, vielmehr aber schien es, als wäre er nicht sicher, was er gerade gehört hatte. Also tat Tom das Erstbeste, das ihm einfiel, und wiederholte seine Frage.
„Can I help you? Are you okay?“ kauderwelschte er.
„Junger Mann, ich verstehe kein Wort von dem, was Sie da brabbeln. Sprechen Sie Deutsch mit mir. Oder sehe ich aus wie irgend so ein Teesäufer aus dem Norden?“ sagte der Alte plötzlich, in einem ruppigen, aber dennoch leicht humorigen Tonfall.
Nun war es Tom, der verwirrt war; mindestens so verwirrt, wie er den Alten zu sein glaubte.
„Ich… Verzeihung, ich wollte nicht… Ich dachte, Sie sprechen Englisch. Wo Sie doch so rückhaltlos ‚Madness‘ durch die Gegend geschrieen haben. Das ist nämlich Englisch, nicht wahr? Es heißt ‚Wahnsinn‘, im Sinne von Verrücktheit.“
„Wenn Sie das sagen,“ erwiderte der Alte und zuckte mit den Schultern.
„Wussten Sie das etwa nicht? Ja, aber… Warum rufen Sie ein Wort, dessen Bedeutung Sie nicht kennen?“
„Ach, wissen Sie, das hat mir so ein netter Herr aufgetragen. Wollte, dass ich hierher gehe und dieses Wort herumbrülle.“
„Und das machen Sie, einfach so? Nur weil irgendein Fremder sie darum bittet?“
„Tja, ich kann nun mal niemandem etwas abschlagen…,“ lachte der Alte verschmitzt.
Tom seufzte. Er rieb sich die Stirn. Das Ganze nahm langsam sehr eigenartige Formen an.
„Ich nehme an, Sie wissen nicht genau, wer sie darum gebeten hat?“ fragte er.
„Leider nein,“ antwortete der Alte mit leichtem Kopfschütteln. „Es war ein jüngerer Kerl, so ähnlich wie sie. Etwas fülliger vielleicht, und mit einem dicken Schnurrbart. Sah eigentlich recht wichtig aus. Der Kerl, meine ich, nicht der Bart.“
„Tja, das… das hilft nicht besonders. Die Beschreibung passt sicher auf viele Leute.“
„Möglich. Das war aber noch nicht lange her, vielleicht…“ Der Alte ließ seinen Blick durch den Park schweifen. Plötzlich rief er: „Da! Dort drüben! Das ist er!“
Tom blickte in die Richtung, in die der ausgestreckte Finger des Alten zeigte. Hinter einer Hecke sah er die Umrisse eines Mannes. Er schien recht groß zu sein, aber das war auch schon alles, was man durch die Blätter erkennen konnte.
„Sind Sie sicher?“ fragte Tom zweifelnd. „Wie können Sie anhand einer Silhouette sagen…“
„Doch, doch, das ist er. Wenn ich es doch sage. Ich weiß es genau,“ sagte der Alte mit einem solch überzeugenden Tonfall, dass Tom gar nicht zu zweifeln wagte.
„Nun, wenn Sie meinen… Gut, dann werde ich mal ein Wörtchen mit dem Herrn reden. Kommen Sie mit?“
Der Alte winkte ab. „Nein, nein, schon gut. Langsam glaube ich, dass der Mann verrückt war. Ich meine, mich um solche Dinge zu bitten. Und ich muss ebenso verrückt sein, darauf einzugehen. Nein, von diesem Kerl halte ich mich fern. Sie machen das schon.“
Die plötzliche Zurückhaltung kam Tom zwar etwas eigenwillig vor, aber das war ihm schon fast egal. Er wollte endlich wissen, was hinter dieser Geschichte steckte. Er hatte das Gefühl, dass er sonst nicht mehr ruhig schlafen könnte.
Mit eiligen Schritten stapfte Tom zu dem Mann hinüber. Ein Kiesweg führte zwischen den Bäumen hindurch, um das Gebüsch herum und dorthin, wo der Unbekannte sich befand. Es kostete Tom also keine Mühen, zu ihm zu gelangen.
In seinem Kopf malte er sich all die Fragen aus, die er dem Unbekannten stellen wollte, allen voran „Ist Ihnen langweilig?“ und „Was zum Teufel?“
Als er schließlich dem Mann gegenüber stand, da schienen ihm all diese Fragen aber unnötig. Sie waren plötzlich wie weggewischt.
Die Silhouette, die er durch das Blattwerk gesehen hatte, war eine Statue. Es war die Statue von einem der Stadtgründer. Um genau zu sein, von dem Stadtgründer, nach dem auch der Park und die daneben liegende Straße benannt war. Tom biss sich auf die Unterlippe. Wieso hatte er das nicht früher erkannt? Er kam fast jeden Tag daran vorbei. Das hätte ihm gleich klar sein müssen.
Immerhin hatte der Alte nicht gelogen, was die Beschreibung betraf. Die Statue zeigte einen Mann in militärischer Uniform, war ein wenig beleibt und trug einen eindrucksvollen Schnauzbart.
Aber abgesehen davon? Warum hatte ihn der alte Mann zu dieser Statue geschickt? Tom bekam den Eindruck, der Alte war tatsächlich schwer verwirrt. Vielleicht hatte er sich eingebildet, die Statue sei ein echter Mensch. Wer weiß, wie oft er schon hier vor dem Monument gestanden und langatmige Diskussion geführt hatte. Bei manchen Menschen forderte das hohe Alter einen schweren Tribut, das war Tom schmerzlich bewusst. Der Gedanke gefiel ihm nicht. Dennoch ergab diese Erklärung auf eine eigenwillige Weise Sinn.
Ebenso schnell wie er sich der Statue genährte hatte, ging Tom wieder zu seiner Bank zurück. Er wollte unbedingt eine Erklärung von dem alten Mann. Verrückt oder nicht, er konnte es nicht ausstehen, wenn man ihn zum Narren hielt.
Als er zur Lichtung zurückkam, saß der Alte gerade auf der Bank – seiner Bank – und las Zeitung – seine Zeitung. Der Anblick ließ eine nicht unbeträchtliche Wut in Tom aufsteigen.
„Wollen Sie mich veräppeln?“ fragte er scharf.
„Wie kommen Sie denn darauf?“ erwiderte der Alte, ohne von der Zeitung aufzusehen.
„Tja, vielleicht, weil der Mann, der Sie angeblich ums Herumschreien gebeten hat, nur eine Statue war. Ganz ehrlich, was sind Sie? Verrückt? Verlogen?“
„Überrascht, ehrlich gesagt. Hätte gedacht, dass Sie die Statue nicht extra sehen müssen, um sie als solche zu erkennen.“ Der Alte blickte an der Zeitung vorbei und Tom an. „Wo Sie doch jeden Tag in den Park kommen, nicht wahr?“ Dann las er weiter.
„Wa… Woher wissen Sie das denn?“ fragte Tom verblüfft.
„Weil ich genauso jeden Tag herkomme,“ antwortete der Alte. Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf seinen Schoß. „Und wissen Sie, jeden Tag sitzen Sie hier auf dieser Bank. Kein Wunder, ist eine sehr schöne Bank. Immer in der Sonne. Hell. Aber trotzdem schön kühl. Der Baum, unter dem sie steht, nicht wahr? Wirft genau den richtigen Schatten, damit es nicht zu düster wird. Zum Entspannen und Zeitunglesen ist diese Bank perfekt.“ Der Alte schnaubte und schüttelte den Kopf. „Aber leider ist das nicht möglich, da Sie sie ja jeden Tag besetzen. Jeden Tag! Eine Schande. Schade um die schöne Bank.“
Für einige Augenblicke sagte Tom kein Wort. Er versuchte, die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen.
„Eine Sekunde. Wollen Sie damit sagen, dass diese ganze Aktion, die Sie hier veranstaltet haben, nur den Zweck hatte, mich zum Aufstehen zu bewegen? Damit Sie sich hersetzen können? Ist das Ihr Ernst?“
Der Alte lachte. „Ja, schuldig im Sinne der Anklage. Ehrlich gesagt war ich mir nicht sicher, ob es funktionieren würde. Aber… naja, hier sind wir, nicht wahr?“
„Aber… aber… Der ganze Aufwand nur dafür? Sie hätten mich auch fragen können, ob Sie sich dazusetzen dürfen. Die Bank ist groß genug für zwei Leute.“
„Ja, nur… ich bin lieber allein. Sinnlose Konversationen über das Wetter oder Sport oder wasweißich muss ich wirklich nicht haben.“
„Na gut, aber warum sind Sie nicht einfach etwas früher in den Park gekommen? Wenn Sie vor mir auf der Bank gesessen wären…“
„Dann hätten eben Sie sich zu mir gesetzt, und wie schon gesagt, darauf kann ich verzichten.“
„Trotzdem… So viel Blödsinn, nur dafür… Kann es sein, dass Sie wirklich ein bisschen wirr im Kopf sind?“
„Ach was, ich doch nicht. Jedenfalls war es einen Versuch wert. Außerdem war es sehr unterhaltsam. Zuzusehen, wie Sie durch die Gegend watscheln, nur um sich mit einer Statue zu unterhalten… das war zu komisch.“
Tom seufzte. „Ja, für Sie vielleicht. Ich finde es eher… entwürdigend.“
„Machen Sie sich keinen Kopf. Es war ein kleiner Spaß.“
Darauf erwiderte Tom nichts. Er blickte auf die Uhr. Seine Mittagspause war fast zu Ende. Zum ersten Mal würde er heute mit einem gewissen Gefühl der Unzufriedenheit zurück an seinen Arbeitsplatz gehen.
Wortlos schnappte er sich seine Zeitung aus den Händen des alten Mannes. Dann ging er einfach. Er überlegte zwar, noch irgendetwas zu sagen, aber er wusste beim besten Willen nicht, was. Der Alte jedoch schon. „Dann bis morgen,“ kicherte er. Tom drehte erst gar nicht um. Es war ihm unangenehm, so hereingelegt worden zu sein, und dann noch dazu von einem alten Mann. Gerade so jemanden hätte er nie für einen Gauner gehalten. Er erwägte, dem Alten diesen Schabernack irgendwie zurückzuzahlen. Vielleicht sollte er sich einen ähnlichen Streich ausdenken und für ein wenig Genugtuung sorgen.
Doch so ein Mensch war Tom nicht. Er war zu gutmütig, als dass er sich einfach einen solchen Spaß mit einem alten Mann erlauben könnte. Besser, die Geschichte zu vergessen und in Zukunft etwas misstrauischer zu sein.
Am nächsten Tag kam Tom wieder in den Park. Zu seiner Überraschung saß der alte Mann schon auf der Parkbank. Als er ihn sah, lächelte er Tom hämisch an. Tom dachte daran, sich dazuzusetzen und zu sehen, was passierte. Aber darauf hatte er eigentlich keine Lust. Schließlich gab es im Park noch andere Bänke. Und im Gegensatz zu gewissen Leuten war er nicht von einer bestimmen Parkbank besessen. Das hielt er eigentlich für ziemlich verrückt. Ja, man konnte sagen, solche Gedanken waren in der Tat ‚Madness‘.
ENDE