Das Mobile
Ein paar Augen schieben sich in mein Blickfeld. Lippen bewegen sich. „Mary! Trink doch noch etwas Tee, bevor er kalt wird!“ Mein Blick huscht über die Tasse hinweg. Eine Melodie erklingt. Sie fließt dahin, so wie ein Bach dahinplätschert. Wieder die Stimme.
„Mary...? Willst du lieberwiederzurkindenZimr?“ Die Worte gehen ineinander über. Unerkennbar für meine Ohren. Ich lausche den Tönen der Melodie. Nehme nicht wahr, was um mich herum geschieht. „Mary, komm wir bringen dich hin!“ Eine Hand umfasst meinen Arm. Die Melodie verklingt. Ich schüttel den Kopf. Jemand schreit. Ein lauter durchdringender Schrei. Meine Hände tasten nach meinen Ohren. Ich will diesem Schrei entgehen. Dann eine Stimme. „Mary!“ Etwas ist an meinem Mund. Eine Hand legt sich über ihn. Es wird still. Nun wird mir bewusst, dass ich geschrieen habe.
Die Hand löst sich von meinem Mund und zieht an meinem Arm. Meine Beine strampeln. Der Stuhl wackelt. Es kracht. Ich seh den Boden auf mich zukommen. Werde hochgerissen. Sehe den Boden sich bewegen.
Plötzlich liege ich. Sehe ein Gesicht über mir schweben, Hände die mich zudecken. Es wird dunkel. Ich sehe wieder die Hände. Jetzt sind es Händchen, die Hände eines Babys. Klein und rosig grapschen sie nach mir. Die Melodie ertönt wieder. Ich höre ein Baby lachen. Dann gluckst es erfreut. Die Hände wedeln in der Luft. Ich wiege mich im Takt der Melodie. Und noch zwei Babyhände. Sie greifen nach den anderen Händchen. Sie kommen von mir. Es sind meine. Meine berühren die anderen Patschehändchen, umschließen sie. Und die anderen umschließen meine. Doch plötzlich sind sie weg. Ich greife ins Leere. Strecke meine Ärmchen suchend in die Luft. Aber die anderen Babyhändchen bleiben verschwunden.
Auf einmal werde ich unsanft an den Schultern gepackt und festgehalten. Die Melodie hört auf zu spielen. Ich reiße die Augen auf. Ein Frauengesicht schaut auf mich herab. Da lassen ihre Hände meine Schultern los. Ich schließe die Augen. Versuche die Melodie zurückzurufen. Hoffe, dass die Babyhände wiederkommen.
Ich bewege meinen Kopf hin und her. Versuche vergeblich die Melodie wieder erklingen zu lassen. Doch zwei Hände halten meinen Kopf fest. Die Stimme klingt barsch. „Versuch zu schlafen, Mary!“ Mein Mund öffnet sich zu einem lautlosen Schrei. „Mary, du musst jetzt schlafen!
Dann wird es wieder dunkel, danach gleißend hell. Die Melodie spielt. Ich sehe Gittersprossen, die mich umgeben. Über mir drehen sich Farben im Kreis. Die Formen kann ich nicht erkennen. Sie verschwimmen zu einem wirbelnden Farbendurcheinander.
Die Melodie. Sie spielt. Klar und deutlich hör ich sie. Von oben rieseln ihre Töne auf mich herab.
Eine Klinke wird runtergedrückt und eine Tür öffnet sich. Eine Frau, von der ich weiß, dass ich sie kenne und auch mag, erscheint über mir und verdeckt so das von mir geliebte Farbenspiel.
„Komm, Marylein, willst du ein bisschen zu deiner Schwester?“ Die Frau hebt mich hoch und legt mich in ein von Holzstäben umschlossenes Quadrat auf dem Fußboden. Ich versuche mich auf den Bauch zu rollen. Nach zwei Anläufen habe ich es endlich geschafft und sehe, dass ich nicht mehr allein bin in diesem Babygefängnis. Meine Schwester guckt mich mit großen Augen an und stößt einen unverständlichen Laut der Freude aus. Im nächsten Moment fallen ihr die Augen zu und sie ist eingeschlafen. Ich lausche den wunderbaren Tönen der Melodie und schlafe schließlich ebenfalls ein, bis ich von irrem Geschrei geweckt werde. Die Melodie hat aufgehört zu klingen. Das andere Baby schläft nicht mehr neben mir. Die Frau hat es auf dem Arm. Es bewegt sich nicht, hängt schlaff in ihren Händen. Der Frau laufen Tränen über die Wangen, sie schreit vor Verzweiflung und rennt aus dem Zimmer. Mich lässt man allein zurück.