Kurzgeschichte
Verrückt?

In einem komplett weißen Raum hockte eine komplett in Weiß gekleidete Frau auf dem Boden und flocht ein paar Strähnen.

Plötzlich vernahm sie das Quietschen des Türscharniers und blickte auf. Seit Tagen hatte keiner mehr diesen Raum betreten und genauso lange hatte sie ihn nicht verlassen. Ein Mann in weißer Kleidung trat ein und sah sie verwirrt an, als er bemerkte, dass sie nicht auf einem Stuhl oder ihrem Bett saß.

„Frau…“

„Nur Dahlia“, widersprach sie.

Er seufzte. „Dahlia, ich bitte Sie, mir zu folgen.“

„Wohin?“ Sie richtete sich langsam und

gemächlich auf.

„Ich denke, Sie werden sich umso mehr freuen, wenn ich es Ihnen vorenthalte und es Ihnen sozusagen als Überraschung präsentiere.“

„Wohin?“ Als er nicht antwortete, sondern noch einmal, diesmal lauter, seufzte, grummelte sie. „Raus mit der Sprache. Wohin?“

„Zu den anderen.“ In den Gemeinschaftsraum also. Zu den anderen. Zu den Verrückten.

Bei dem Gedanken, an die letzte Begegnung mit ihnen lief es Dahlia eiskalt den Rücken hinunter,

Sie erinnerte sich, leider, noch genauestens, wie dieser eine sie mit

einem Zahnstocher erstechen wollte. Das war gerade erst vorigen Monat, als sie das letzte Mal außerhalb ihres Raumes war, gewesen und der Schreck hatte ihr noch Tage später in den Knochen gesessen.

Sie war nicht besonders erpicht darauf, dass er es noch ein weiteres Mal versuchte.

Man hatte ihr zwar vor drei Tagen erzählt, er sei entlassen worden, doch sie war sich sicher, dass sie ihn relativ schnell wiedertreffen würde.

„Ich will nicht.“

„Immer noch Angst?“

„Nein, aber ich kann durchaus auf weitere Erlebnisse dieser Art

verzichten.“ Eine kurze Pause folgte, bis sie ein weiteres „Darauf kann ich verzichten“, hinzufügte.

Der Mann öffnete die Tür, die Dahlia automatisch mit dem gemeinschaftraum assoziierte.

Das erste, was ihr ins Auge stach, war ein Mädchen, welches sie schon beim ersten Betreten des Gebäudes entdeckt habe. „Wenn ich mich richtig entsinne hieß sie… Kyra…“

Und sofern sie sich erinnerte, war sie hier, weil sie ziemlich offensichtlich einen Knacks hatte. Sie beteuerte stets, dass sie nachts Stimmen höre und in ihrem Zimmer ein Mann nachts im Kreis lief, der durchgehend seinen Namen

murmelte. Angeblich trug dieser Mann den Namen Harry, mehr hatte sie auch nicht zu Dahlia sagen wollen. Doch als sie ein paar Stunden später, am Abend, jemanden dazu befragt hatte, war die Antwort, dass Dahlia ihr gar nicht zu hören solle. Dieser Mann, den sie angeblich jede Nacht sehe, sei bereits seit über fünfzig Jahren tot. Sie nannten es völlig unmöglich, jemand Totes zu sehen.

„Und mir reden sie ein, ich sei verrückt.“

„Hmm?“, machte der Mann verwundert.

„Was?“

„Sie haben doch etwas gesagt!“

„Wovon reden sie?“

„Ich hab´s doch gehört!“

„Das bilden sie sich nur ein.“

Die Beiden betraten der Raum und er setzte Dahlia bei einem Tisch ab, auf dem mehrere Blöcke Papier und eine Handvoll Stifte lagen.

Als sie sich setzte und die Kappe von einem der Stifte nahm, überlegte sie erst einmal, was sie zeichnen oder schreiben wollte.

„Guten Morgen!“

Dahlia blickte verwundert auf. „Guten Morgen.“

„Guten Morgen“, wiederholte der junge Mann, der sie scheinbar gerade begrüßt hatte.

„Das… sagtest du schon…“

„Was habe ich schon gesagt?“

„Na, guten Morgen!“ Ein Moment der Stille folgte.

Dann lächelte er sie an. „Guten Morgen.“

„Absolut brotlos, mit ihm reden zu wollen.“

„Hmm?“, mischte sich der Mann in Weiß wieder ein.

„Was?“

„Dahlia, ich habe es doch gehört!“

„Was gehört?“ Nun war sie vollends verwirrt.

„Sie haben laut gedacht!“

„Humbug, das bilden Sie sich nur ein.“

Entnervt schob sie den Block und den Stift von sich und stand auf.

„Ich bin gleich wieder da“, sagte Dahlia.

Der Mann nickte. „Okay. Fünf Minuten.“

Sie nickte. Dann ging sie durch die Tür, die dem Tisch direkt gegenüber lag. Wie bereits beim letzten Mal, war der Raum komplett abgedunkelt.

Sie knipste das Licht an und sah eine ihr recht bekannte Person in der linken Ecke, auf einem scheinbar sehr flauschigen Teppich sitzen.

„Guten Morgen, Jo.“

Ihm entfuhr ein leise Quieken und er drängte sich noch mehr in die Ecke.

„Brotlos.“

Sie verließ den Raum wieder.

„Seit Wochen hockt er da drin. Er wird ich wohl niemals ändern.“

„Hmm?“ Der Mann in Weiß mischte sich

schon wieder ein.

„Wie?“

„Sie haben was gesagt!“

„Quatsch. Wer von uns beiden ist den derjenige, der als Irre abgestempelt wurde? Sie oder ich? Man könnte glatt meinen, sie wären es. Ich rede doch nicht mit mir selbst!“

Er funkelte sie böse an. „Ich bringe Sie zurück in Ihr Zimmer, Dahlia.“

„Aber…“ Sie wollte ihn lediglich testen. Eigentlich war sie ganz froh, wieder in ihr Zimmer zu dürfen.“

„Kommen Sie.“

Sang- und klanglos folgte sie ihm durch den schier endlos wirkenden Gang.

„Irgendwann komme ich hier raus.

Irgendwann…“

„Hmm?“

„Was?“

„Sie haben doch schon wieder etwas gesagt!“

„Reden Sie keinen Stuss.“

Er runzelte die Stirn, zuckte jedoch mit den Achseln und sie gingen weiter.

„Und keiner wird damit rechnen…“