Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze)
Drei Tage später saß Vigard in einem behelfsmäßigen Bretterverschlag hoch oben auf dem Ostwall und starrte über die Ebene hinweg auf den Wald, der sich finster am Horizont erhob, die Gefahr verbergend, die in ihm geschlummert hatte und nun erwacht zu sein schien. Der Ledrianer fragte sich, ob es auf dem Wall immer so zugegangen war, oder ob es an der Nachricht Ves‘ lag, dass nun unzählige Menschen auf den Wehrgängen herumwuselten. Da war die Elite der Armbrustschützen, schweigsame Männer in ihren leichten Rüstungen, die jeweils mit zwei schweren Arbalesten bewaffnet waren und von einem Knappen begleitet wurden, der eine Waffe nachlud, während der Schütze, die andere abfeuerte. Die nächste Gruppe stellten die Kanoniere dar, die sich auf dem Wall aufhielten, seit Toulessé beschlossen hatte, einen Teil der Geschütze von der Gabrielle dort zu postieren. Weiterhin gab es auch noch Bogenschützen, Magier, Unteroffiziere und gelangweilte Adlige, die sich irgendwie eine Zugangsberechtigung verschafft hatten und nun den lieben langen Tag darauf warteten, dass der Feind endlich angriff. Darin allerdings unterschieden sie sich von keinem anderen auf den Wehrgängen und letztlich von keinem anderen in ganz Galor.
So tat auch Vigard nichts anderes, als zu warten und in die Ferne zu starren, auf der Hut zu sein und im Fall des Falls so gut zu reagieren, wie er es eben konnte. Die Dokumente, die der Assassine unter Einsatz seines Lebens nach Galor geschafft hatte, besagten, dass ihnen eine gewaltige Übermacht gegenüberstand, die von schweren Belagerungsgeräten und allem, was Ventro an Schwarzmagie hatte zusammenkratzen können, unterstützt wurde. Eine Übermacht, die man nicht besiegen konnte, wie Toulessé seinen Unteroffizieren und somit auch Vigard in der letzten Sitzung dargelegt hatte. Aufhalten zwar, aber nicht besiegen, womit der Kampf um Galor mehr denn je zu einem Kampf gegen die Zeit wurde.
„Das war er immer schon“, wusste Vigard „Nur muss es jetzt jeder einsehen.“
Er starrte erneut hinaus in die Ferne, über die sich die Nacht legte, mit der die Kälte kam. Ein beißend kalter Wind zog von Osten auf, wobei er schwere Wolken vor den dunklen Himmel zog und alle Sterne verdeckte, dass bald nur noch tiefschwarze Finsternis herrschte. Schon marschierten einige Zauberer auf dem Wall auf, um magisches Feuer auf die Ebene zu schleudern, wo deren schwaches Licht schließlich einen aussichtslosen Kampf gegen die Dunkelheit focht.
Am Waldrand verblieben die Mienen der Männer unbeeindruckt, die dort zu tausenden in den Schlachtreihen unter den letzten Bäumen standen, die Gesichter vom Schatten überlagert. Vor ihnen erstreckte sich die schattenhafte Ebene, an deren Ende Galor thronte, das ihr Ziel war.
Navaras, der gehüllt in eine dunkle Rüstung aus leichtem Stahl in der ersten Schlachtreihe stand und mit einem Seidentuch sein kunstvolles Rapier polierte, beobachtete das Werk der Magier Galors unbeeindruckt, da er ihre Tätigkeit schon seit drei Tagen studierte. Neben ihm ragte die monströse Gestalt des orkischen Feldherrn Fasrag auf, dessen schwere Rüstung menschliche Knochen schmückten, welche im Wind leise klimperten, während er selbst mit ebenso verständnisloser wie blutrünstiger Miene in die Ferne starrte.
„Worauf wir warten?“, grunzte er Navaras an, wobei er seine gewaltige Streitaxt in die Höhe riss, die von etlichen Kerben geziert wurde.
„Wollt Ihr diesen letzten Moment nicht genießen? Die Ruhe vor dem Sturm“, schwärmte der Lord.
„Ich nicht verstehen. Wollen töten“, fauchte die Bestie, während er sie bedächtig anstarrte.
„Ihr werdet Euch wohl noch etwas gedulden müssen. Unser Angriff beginnt erst, wenn Ventro die Katapulte abfeuert. Dann rücken wir langsam im Schutz der Dunkelheit vor, bis…“, erklärte Navaras, bevor ein ohrenbetäubendes Zischen die Nacht zerriss und beinahe alle Vögel des Waldes aus ihren Nestern scheuchte. Fünf gewaltige Steinbrocken zischten unter dem finsteren Nachthimmel hinweg den Mauern von Galor entgegen, während Fasrag erneut seine Streitaxt hob.
„Ventro feuern Katapulte!“, grölte er, „Schlacht beginnen! Tod! Tod! Tod!“
Mit einem letzten bestialischen Kampfschrei stürmte er los, worauf unzählige Orks ebenfalls aus dem Wald brachen und als eine gewaltige formationslose Meute auf die Ebene stürmten, Galor entgegen.
„In Formation bleiben! In Formation bleiben!“, rief Navaras seinen Untergeben zu, die sich noch nicht in Bewegung gesetzt hatten, während er auf sein weißes Streitross stieg. Nachdem er aufgesattelt hatte, gab auch er den Befehl zum Angriff, worauf eine gewaltige Masse von Verrätern im Gleichschritt ihren orkischen Verbündeten nachfolgte, wobei ihre Rüstungen im Takt ihres Ganges unheilvoll und tief dröhnten.
Er selbst jedoch blieb zurück und beaufsichtigte, wie etliche Knechte fahrbare Ballisten aus der Deckung des Waldes schoben, um eine Position zu erreichen, von der aus der Wall in Schussweite lag.
Für Vigard kündigte sich der erste ernste Angriff auf Galor durch jenen gewaltigen Felsbrocken an, der an der Spitze der fünf Geschosse auf den Wall zuraste. Fast ein ganzes Jahr hatte man auf eben diesen Angriff gewartet, doch nun, da er Wirklichkeit wurde, entstellte die Angst die Mienen der Verteidiger. Während alle auf die monströsen Felsen starrten, die ihnen entgegenschossen, hatte der Ledrianer seinen Blick bereits dem Boden zugewandt und versuchte, in der Dunkelheit der Ebene eine anrückende Streitmacht zu erkennen. Dabei bemerkte er nicht einmal, dass die Brocken den Wall nicht erreichten, sondern einige Meter davor mit einem dumpfen Krachen in die Erde einschlugen.
Erst als das kollektive Aufatmen seiner Kameraden die Kälte für einen Moment vertrieb, bemerkte er, was geschehen war, wobei ihm zugleich gewiss wurde, dass der Feind seine Katapulte sicherlich schon neu ausrichtete.
„Schützen an die Zinnen, Magier bereit halten für die nächste Salve!“, befahl er, worauf sich die Verteidiger des Walls unter dem lauten Klappern ihre Rüstungen und Schlurfen ihrer Roben in Formation brachten.
„Unteroffizier! Meldet das sofort dem General!“, fuhr er seinen Leutnant an, bevor er seine Stimme erneut hob, „Männer, heute ist der Tag gekommen, an dem wir auf die Probe gestellt werden! Galor schaut auf uns! Lasst all unsere Bemühungen nicht umsonst gewesen sein! Lasst uns ihnen zeigen, dass man Galor nicht unterschätzt, dass der letzte Fels in der Brandung immer auch der härteste ist!“, er machte eine Pause, um für einen Moment durchzuatmen und einen verstohlenen Blick auf die immer noch schwarze Ebene zu werfen, „Macht die Kanonen und Katapulte bereit!“
Auf seinen Befehl hin lösten sich einige Boten vom Kommandostand, um den Wall entlang zu eilen, auf dem insgesamt fünf gewaltige Türme thronten. Von diesen aus ragte jeweils der unheilvolle Arm eines Trebuchets in den bewölkten Nachthimmel.
Während die Burschen durch den Wehrgang eilten, um die Befehle zu übermitteln, brach aus dem Wald die zweite Welle an Geschossen hervor. Erneut wandten sich ihnen alle Blicke zu und während die ersten drei wiederum in die Erde einschlugen, kamen die zwei letzten dem Wall diesmal gefährlich nach.
Unterdessen hatte die anstürmende Horde der Orks den Lichtkegel der magischen Feuer erreicht, in denen sie sich wie eine gewaltige Flut von grotesken Schatten ausnahm, die wie eine Ameisenkolonie über die Ebene hinwegbrach.
„Da kommen sie!“, ächzte einer der Armbrustschützen, wobei er seine Waffe hob, um auf einen der anstürmenden Feinde zu zielen.
„Feuer erst auf meinen Befehl!“, mahnte Vigard, worauf der Schütze seine Arablest wieder senkte.
„Sollen die Katapulte auf die anrückende Horde feuern?“, erkundigte sich ein Unteroffizier.
„Nein“, entgegnete Hauptmann Vigard, wobei er sich das Kinn rieb, „Lasst sie Feuertöpfe laden und auf den Waldrand zielen.“
„Zu Befehl, Herr Hauptmann“, gab der Leutnant zurück und beorderte weitere Meldeburschen, während die Horde immer weiter heranpreschte.
Vigard erhob sein Fernrohr, mit dem er in die Reihen seiner Feinde blickte, die als ungezügelte Bestien in wilden Rüstungen vor seinem Auge erschienen. Sabbernd und mit todessüchtigem Blick stürmten sie über die forstkalte Wiese, zerstampften das gefrorene Gras mit ihren plumpen Füßen, rissen ihre grotesken, rostigen Waffen gen Himmel.
„Wie viel Leid haben sie schon verursacht?“, zischte Vigard in Gedanken, während sein Geist vom Wall hinfort glitt, zu all jenen, denen die Invasion Leben, Freiheit, Ehre oder Würde geraubt hatte. Er sah zerfetzte Leichen, vergewaltigte Frauen, geknechtete Kinder, versklavte Herren, und mit einem Mal bemächtige sich ein blutrünstiges Funkeln seiner Augen.
„Heute werden sie bezahlen“, frohlockte seine Seele, wobei das Lächeln sich auf seinen Lippen abzeichnete, die nur eine Sekunde später den Befehl hinausbrüllten.
„Anlegen!“
Das Klappern der Armbrüste übertönte selbst den zischenden Frostwind, als hunderte Schützen ihre Waffen in Position brachten und zugleich die Kanoniere ihre Geschütze ausrichteten.
„Zielen!“
Hunderte Blicke, schweigsame Vorboten des Todes, erkoren in einem Sekundenbruchteil jenes Leben aus, das sie zu beenden gedachten. Dann wurde es still auf dem Wall, als Muskeln und Sehnen in Spannung verharrten, als trotz der zehrenden Kälte Schweiß auf der Stirn eines jeden Verteidigers perlte, als jeder noch ein letztes, stilles Wort an die Ewigkeit richtete, sei es des Glücks oder der Gnade wegen.
„Feuer!“, brüllte Vigard und aus hunderten Kehlen hallte sein Ruf wider, bevor das Zischen der Pfeile, das Sirren der Sehnen, das Donnern der Kanonen, die Schreie ihrer sterbenden Feinde jedes Wort hinwegfegten und die Symphonie des Todes ihren ersten Satz begann.
Neben Fasrag knickten die Orks reihenweise ein, stürzten blutend zu Boden, wanden sich in ihrem Schmerz und wer nicht durch einen Schuss gestorben war, den trampelten die eigenen Kameraden zu Tode. So trat auch er einen der Verwundeten in den kalten Dreck, als ein Bolzen haarscharf an seinem Ohr vorbei sirrte. Ein anderer schmetterte geradewegs in seine Schulter, doch die hünenhafte Bestie strauchelte nicht einmal, während sie mitleidlos voranpreschte.
Über ihm zischten weitere fünf Geschosse aus Ventros Katapulten durch den Nachthimmel, denen er mit einer lächelnden Fratze nachsah.
Schon früh war auf dem Wall zu bemerken, dass diese Salve präzisier geschossen war als die vorherigen, und mit jeder Sekunde wurde deutlicher, dass sie einschlagen würde. Für einen Augenblick hielten die Schützen in ihrem Feuer ein, um den tödlichen Felsbrocken entgegen zu starren, die auf sie zurasten.
„Weiter feuern, nicht nachlassen!“, schrie Vigard, „Die Magier kümmern sich um die Felsen!“
Die Brocken hatten die Zinnen fast erreicht, als die in Roben gehüllten Gestalten ihre Arme hoben, worauf die Luft vor Macht zu vibrieren schien. Die Magie stemmte sich gegen die Gewalt des Gesteins, ließ es im Flug erstarren und auf die Angreifer auf dem Felde zurückprallen. In Mitten der orkischen Reihen gingen sie nieder, schmetterten tiefe Löcher in die Erde und zerquetschten etliche der Fußsoldaten. Hundert Meter vor dem Graben, der die erste Befestigung Galors darstellte, erstarb jeder Vormarsch.
Wie eine ausgedünnte Herde sanken die letzten Orks dort zum Sterben nieder, die meisten schon mehrfach getroffen und sich nur noch taumelnd fortbewegend. Mit einem überlegenen Lächeln löschten die Schützen auch noch den letzten Lebenshauch, während immer mehr Feinde nachrückten.
Mittlerweile waren auch die Verräter in Reichweite der Verteidiger, die jedoch langsam vorrückten und sich hinter schwergerüsteten Schildträgern deckten.
Aber auch diese konnten dem Feuer der Kanonen nicht standhalten, das immer wieder große Schneisen in ihre Reihen riss. Dennoch passierten sie Fasrag, der ins Knie getroffen, weiter vorwärts kroch, bis ihn zwei der Verräter packten und zum Wald zurückschleiften. Trotz des dauerhaften Beschuss‘ gelang es ihnen, weiter vorzurücken und den Wall schließlich mit ihren Bögen unter Beschuss zu nehmen. Auch das Feuer der Katapulte riss nicht ab, obwohl sich die Magier immer wieder dagegen stemmten und die Geschoss auf ihre Feinde zurückwarfen.
„Die Schützen ausschalten!“, befahl Vigard, als die ersten Pfeile der Angreifer durch den Wehrgang sirrten. Schon ging neben ihm ein Schütze zu Boden, aus dessen Brust drohend das Gefieder eines Bolzens ragte. Er betrachtete den Gefallenen kurz, bevor er seinen Helm mit dem prächtigen, königsblauen Federbusch aufsetzte und sich wieder dem Schlachtfeld zuwandte. Aus dem Augenwinkel erkannte er gerade noch die dunkle Linie, die die feindlichen Ballisten in der Ferne zogen, bevor ihm auch schon das mörderische Funkeln etlicher gewaltiger Bolzen entgegenstach. Soeben war eine Salve abgefeuert worden, die mit gewaltiger Wucht in den Wall einschlug. Zinnen wurden zerfetzt, Gebälk barst, Ziegel prasselten herab und verwandelten die Formation der Verteidiger von einem Moment auf den anderen in ein totales Chaos.
Die Schreie seiner Kameraden echoten in seinem stählernen Helm, während er sich selbst unter einer zerbröckelnden Zinne hinwegduckte und verzweifelt Ausschau nach dem Leutnant hielt. Als er einsah, ihn nicht finden zu können, griff er sich einen verängstigten Laufburschen und zog ihn zu sich heran.
„Du! Renn sofort zu den Katapulten auf den Nordtürmen und sag den Männern dort, sie sollen auf die Ballisten feuern!“, befahl er.
„Aber ich kann doch nicht…“, keuchte der Junge.
„Na los doch!“, blaffte der Hauptmann, wobei er ihn von sich wegstieß und zugleich die Kanoniere damit beorderte, ebenfalls auf die Ballisten zu feuern.
Er selbst eilte weiter den Südtürmen entgegen, während neben ihm Schützen getroffen wurden, Magier kollabierten, Zinnen zerbrachen und Kanonen explodierten. Donnern, Schreie, Zischen waren überall und pferchten ihn ein wie Vieh, das zum Schlachter getrieben wurde.
Fast schon hatte er die nicht allzu steile Treppe erreicht, die zum Südturm hinaufführte, als die nächste Salve von Katapultgeschossen auf Galor zu sirrte, wobei die Frucht davor seinen Geist flutete, dass bereits zu viele Magier gefallen sein könnten, um auch diese abzuwehren. Einen Augenblick später wurde aus der Angst bittere Gewissheit, denn ein gewaltiger Ruck ließ den ganzen Wall erbeben. Etliche Verteidiger riss es von den Füßen und auch Vigard stürzte der Länge nach auf den Ziegelboden, wobei sein Helm im klirrend vom Kopf glitt.
Während unter ihm das Beben langsam verklang, kroch er ohne einzuhalten weiter, erreichte seinen Helm, setzte ihn wieder auf, sprang auf die Beine und rannte los. Unter ihm glitten die Ziegel hinweg, aus dem Augenwinkel nahm er die unzähligen Geschosse wahr, die auf den Wall zurasten, der standhielt, obwohl Zinnen und Verteidiger gleichermaßen brachen.
„Magier! Ich brauche mehr Magier!“, schrie er, wobei er zugleich einen Blick auf das skatrische Viertel warf, das sich direkt hinter dem Wall befand und aus dem etliche weitere Verteidiger auf den Wall fluteten.
Schon hatte er den Bogen erreicht, der sich über jenen Einlass in der Mauer spannte, durch den der Baskat in die Stadt floss. Ohne auf die Geschosse zu achten, die die Luft füllten, hastete er hinüber und fand sich sogleich am Eingang des dahinterliegenden Turms wieder.
Er eilte hinein und hechtete die breite, hölzerne Treppen nach oben zur Spitze, wo fünf Männer das Trebuchet ausrichteten.
„Auf den Waldrand feuern!“, keuchte er, wobei er sich gegen eine Zinne lehnte.
Die Besatzung des Katapults betrachtete ihn kurz, blieb dann an dem Federbusch auf seinem Helm sowie der glänzenden Rüstung hängen, erkannte, wer er war, und leistete sodann Folge. Als der Befehl des Hauptmanns ausgeführt wurde, schleuderte die gewältigte, hölzerne Maschine sechs feurige Brocken in die finstere Nacht hinaus, die über die feindlichen Linien hinweg segelten und mitten in die Reihen der Bäume am Waldesrand einschlug, die sofort entflammten.
Navaras, der bereits mit den Ballisten ein Stück vorgerückt war, spürte die plötzliche Hitze, und als er sich umsah, wuchs hinter ihm bereits eine Flammenmauer empor, die danach trachtete, den ganzen Wald zu verschlingen.
Das schaurige Schauspiel bannte ihn beinahe eine ganze Minute, bevor auch in seiner Nähe Geschosse einschlugen und seinen Blick von der brennenden Wand wegrissen. Vor seinen Augen wurden die Ballisten von Kanonenkugeln zerlegt oder von Brandgeschossen in lodernde Flammen getaucht. Männer schrien, liefen wild mit den Armen fuchtelnd umher, warfen sich auf den Boden und kugelten sich, um das Feuer zu löschen, welches ihre Körper verzehrte.
Währenddessen fraß sich der Waldbrand bis zu Ventros Katapulten durch, deren Besatzungen panisch flüchteten.
„Tötet diese Feiglinge! Tötet sie alle!“, knurrte der Alte, bevor er selbst vor den Flammen zurückweichen musste.
Zugleich gelang es einigen Schwarzmagiern, zwei der Katapulte, vor der Einäscherung zu retten, indem sie diese in gewaltige Eisblöcke tauchten, die jede Flamme erstickten.
Der Vormarsch der Angreifer erstarb jäh, als der Beschuss durch die Ballisten sowie Katapulte verstummte, während die Verteidiger auf dem Wall neuen Mut fassten, sich neu formierten und ihre Feinde in die Flucht schlugen.
Vigard stand an den Zinnen, die so lückenhaft waren wie die Zahnreihen eines alten, skatrischen Bauern, und starrte auf die Ebene hinab, die eine einzige Nacht zu einem zerschundenen Leichenfeld gemacht hatte. Das Blut der Gefallenen tränkte das gefrorene Gras, all die schweren Felsbrocken, die Galor verfehlt hatten, ragten als Mahnmäler des Todes aus der dunklen Erde auf, gewaltige Löcher klafften im Boden, zersplittere Pfeile, gebrochene Schwerter, zerfetzte Rüstungen verunzierten das gesamte Feld, wohin man auch sah. Der blutbeschmierte Stahl der Gefallenen funkelte in der violetten Morgendämmerung, die sich am Horizont ankündigte.
Als Vigard die Zahl der Gefallenen grob geschätzt, den Zustand der Bewaffnung überprüft und die Ordnung auf dem Wall wiederhergestellt hatte, verließ er die Wehrgänge, um sich zum Stadtpalast zu begeben.
Auf dem Weg dorthin passierte er etliche Menschen, die unter dem nunmehr strahlend blauen Himmel trinkend und tanzend den ersten Sieg Galors feierten.
„Wie vermessen“, zischten seine Gedanken, während sie bei jenen tapferen Kriegern verweilten, die in der vergangenen Schlacht ihr Leben gelassen hatten. Mit finsterem Blick steuerte er sein Pferd weiter durch die Straßen, bis er schließlich den Nordhügel erreichte, wo er absattelte und den Weg hinauf zum Stadtpalast zu Fuß hinter sich brachte.
Die schwergerüsteten Wachen am Eingang grüßten ihn voller Respekt, als er an ihnen vorbeizog, um sich Sekunden später in Mitten einer gewaltigen Menschenmasse wiederzufinden, die sich in der Eingangshalle tummelte. Von dort aus schickten sie Fragen und Rufe wie Speere zum Balkongang der zweiten Etage hinauf, wo, von seinen Stabsoffizieren flankiert, Toulessé stand und schweigend auf die Menge hinabblickte.
„Wie hoch sind die Verluste? Wie lange halten wir noch durch, haben wir noch eine Chance? Sind die Orks schon durchgebrochen?“
„Ruhe!“, blaffte der General schließlich, nachdem er die Ankunft Vigards entdeckt hatte, der ihm aus der Menge bestätigend zunickte, „Ich versichere Euch, dass der Wall gehalten und der Angriff zurückgeschlagen wurde.“
„Der Angriff wurde…“, keuchte jemand, bevor der Jubel seine Worte erstickte, denn nun glaubte man auch im Palast, was bereits auf jeder Straße, in jedem Haus und jeder Gasse Galors bekannt war:
Der Feind war fürs Erste bezwungen worden.
Von der Menge unentdeckt zwängte sich Vigard zum Treppenaufgang hindurch, wo die Wachen Toulessés ihn sofort passieren ließen, sodass er kaum eine Minute später selbst vor dem General stand.
„Ich nehme an“, murmelte dieser, während er auf die feiernde Meute im Erdgeschoss hinabblickte, „dass der Sieg nicht billig erkauft war.“
„Keinesfalls“, bestätigte der Hauptmann bitter, „Die Wehrgänge haben mehr Löcher als der Rumpf einer delionischen Galeone. Ich weiß nicht, wie viele Kämpfer gefallen sind, aber es waren viele.“
„Und die Verluste auf Seiten unserer Gegner?“, erkundigte sich Toulessé.
„Horrend“, antwortete Vigard, „aber in Anbetracht ihrer Truppenstärke beinahe bedeutungslos.“
„Es ist unerlässlich, dass wir…“, begann der General, bevor er einhielt, da gerade jemand aus einer angrenzenden Tür getreten war.
Dabei handelte es sich um Asbel, der die beiden Offiziere gar nicht bemerkte, sondern schnurstracks in Richtung der Feier marschierte.
„Chevalier!“, rief Toulessé, „Wo wollt Ihr hin?“
„Ich, oh…Herr General“, stammelte Asbel etwas betreten, „Da unten gibt’s Wein und Kuchen, und da dachte ich…“
„Keine Freuden für uns, solange dieser Krieg tobt“, herrschte Schwarzschild ihn an, „Die gefallenen Helden dieser Schlacht verlangen ein würdiges Begräbnis. Ich nehme an, es macht Euch nichts aus, Euch um dieses zu kümmern?“
„Nein, ähm, keinesfalls, Herr General“, gab der Chevalier zurück, worauf er sich verbeugte und rückwärtsgehend durch eben jene Tür verschwand, durch die er gekommen war.
„Dies ist nicht die Zeit zum Feiern“, zischte Toulessé, bevor er sich wieder Vigard zuwandte, „Was Euch angeht, Hauptmann, so habt Ihr meine Erwartungen voll und ganz erfüllt. Es sei Euch vergönnt, den Rest des Tages nach Eurem Belieben zu verbringen. Ich werde jemanden schicken, der Euren Posten derweil übernimmt.“
„Mit Verlaub gesagt, Herr General: Ich würde es bevorzugen, selbst dorthin zurückzukehren.“
„Nichts anderes hatte ich erwartet“, erwiderte sein Gegenüber bitter, „So seht es denn als Befehl. Ihr habt die Ruhe nötig.“
„Aber, Herr General, ich…“, protestierte Vigard, worauf Toulessé lächelnd den Kopf schüttelte.
„Ihr wollt meinen Befehl doch nicht verweigern, Hauptmann?“
„Nein, natürlich nicht“, gab er zurück, bevor er sich verbeugte, um sich anschließend zu entfernen.
Toulessé hingegen verweilte noch einen Moment auf dem Balkongang, von aus er seinen Blick über die zügellos Feiernden schweifen ließ.
Dann wandte er sich mit einem einzigen verächtlichen Schnauben ab und begab sich auf den Weg zu seinem Büro.
Raham stand in Mitten der Straße, als hätte man ihn dort festgebunden, als wäre er eben dort jeder einzelne seiner Muskeln im eisigen Wind erstarrt. Seine Augen richteten sich reglos geradeaus dem Wall entgegen, der sich am Ende des Pflasters erhob, dort wo Ziegel von den Wehrgängen rieselten und immer wieder Steinbrocken von Ventros verbliebenen Katapulten einschlugen, um die Verteidiger zu mahnen, dass die wenigen Stunden zwischen dem Sonnenaufgang und dem Läuten der Mittagsglocken nur eine kurze Ruhepause gewesen waren.
Denn Erholung gab es nicht, alles schien ein endloser Strom zu sein, alles bewegte sich, unfähig, zu rasten. Alles außer ihm, der dort angewurzelt stand in Mitten des Flusses der Menschen, der ebenso zum Wall hin wie davon weg flutete. Soldaten preschten mit scheppernden Rüstungen voran, erhoben stolz die Schilde mit ihren prächtigen Wappen und zogen etliche andere mit sich, die nur Lumpen trugen und mit Steinen oder Mistgabeln bewaffnet waren. Elipfer, Skatrier, Delioner, Xendor, Iskaten, Ledrianer und Serpendrianer marschierten hinter dem Wall auf, um zu warten, dass er brach, während all jene, die keinen ehrenhaften Tod suchten, vor dem Gemäuer flohen. Raham sah eine junge Frau, die ihren Mann anbettelte, an seiner Seite fechten zu dürfen, während ihr Kind mit fragender Miene daneben stand. Er sah einen Greis, der einem Jüngling dessen schartiges Schwert entriss und ihn anbellte, er solle fliehen. Er sah, was ihn erwartete und er konnte nicht weiter gehen.
Er hatte seine Rüstung poliert, den Wappenrock geflickt, sein Schwert geschliffen und war bis zu eben jenem Punkt gegangen, an dem er nun stand, um sich umzudrehen und sich mit den Frauen, Kindern, Alten, Schwachen und Kranken tiefer in die Stadt zurückzuziehen, das skatrische Viertel zu verlassen.
Während er im Strom der Menschen durch die Straßen wankte, streifte sein Blick die etlichen Häuser am Wegesrand, die ihre Bewohner in Festungen verwandelt hatten. Er entdeckte all die grimmigen Mienen, die sich hinter hölzernen Verschlägen, Lehmziegeln und umgestürzten Karren verschanzten. Auf den Dächern beteten die Mondkultisten, während neben ihnen Schützen mit alten Jagdbögen Wache hielten. Mönche des Erlöserglaubens streiften durch die Meute, um den Verteidigern Absolution zu versichern, wohingegen mancher Iurionist ein fadenscheiniges Lächeln auf seinen Lippen zeigte, während er sich seines Schicksals gewahr wurde.
Raham jedoch wurde klar, dass sie, wenn das Himmelfahrtskommando um de Nord versagt haben sollte, allesamt nur noch auf ihren Tod warteten, dass es dann keinen Unterschied mehr machen würde, wer ehrenhaft gelebt, ehrenhaft gestorben oder wie ein Feigling davon gerannt war.
„Das Himmelfahrtskommando“, drang es durch seinen Kopf, wobei Erinnerungen seine Gedanken fluteten und jene Zeit zurückbrachten, da er nur ein einfacher Leutnant der Wache gewesen war, der sich ab und an mit Dieben oder Schmugglern herumgeschlagen hatte. Eine Zeit, die ihm nun unendlich fern schien, ebenso wie die glücklichen Tage, die er mit Ferren und Ariona in dieser Stadt verbracht hatte.
„Eine Zeit vor dem Sonnenuntergang“, dachte er, während er sich noch fragte, wie es den beiden wohl ergangen war.
„Segeln sie hierher zurück? Oder liegen sie irgendwo im Staub und verrotten? Werden sie rechtzeitig hier sein oder nur noch Ruinen und Leichen vorfinden?“
„Werden wir nur noch Ruinen vorfinden?“, gellte es auch durch Lucians Geist, als dieser am Bug des orkischen Schiffes saß und dem blauen Horizont entgegenblickte, während der eisige Winterwind ihm ins Gesicht peitschte, der die Gewissheit brachte, das er all seine Hoffnung dem Rat anvertraut hatte.
Als seine Gedanken zu Montierre, Farruk und Filiana streiften, legte sich ein bitteres Lächeln auf seine Lippen und er begann zu hoffen, begann, an das Unmögliche zu denken.
„Vielleicht hat Navaras sein Wort doch gehalten. Vielleicht hat er den Angriff auf Galor verzögert. Möglicherweise wurden sie auch von irgendetwas anderem aufgehalten“, vermutete er, bevor ihn ein pfeilartiger Gedanke anherrschte:
„Daran zu glauben, wäre verfehlt. Die einzige Hoffnung, die mir bleibt, ist, dass meine Verbündeten mehr Stärke besitzen, als ich es ihnen zutraue.“
So wandten sich seine Augen wieder dem eisblauen Horizont zu, während er seine Überlegungen mit einer letzten Phrase schloss:
„Galor wird nicht fallen, ich habe noch niemals verloren!“
Die Kraft seiner Gedanken riss ihn auf die Beine, zwang ihn über das Deck zu wandern, Befehle zu brüllen und sich zu erkundigen, ob man nicht noch schneller segeln könne.
Nachdem ein Elipfer dies verneint hatte, hüllte er sich tiefer in seinen langen, blauen Samtumhang und kehrte trotzig zum Bug zurück, wobei er Ferren über den Weg lief, der soeben aus einer Bodenluke in der Mitte des Decks gestiegen war.
„Marquis“, grüßte er, „Habt Ihr einen Moment Zeit für mich?“
„Ich habe auf dieser verdammten Nussschale viel zu viel Zeit“, knurrte Lucian, der bereits weiterging, worauf Ferren ihm folgte.
„Ich…ich habe am Hafen gesehen, wie Ihr Tymaleaux besiegt habt. Ich hatte zuvor bereits gegen ihn gekämpft und keine Waffe, keine Magie konnte ihn verwunden. Ich…wüsste nur gerne, wie Ihr das geschafft habt.“
„Wie Ihr sicherlich festgestellt habt, führte ich kein normales Schwert. Meine Waffe ist mit Schwarzer Magie verflucht und anscheinend bedarf es zumindest einer magischen Waffe, um diese Bestien zu erlegen. Tymaleaux war nicht der erste Feind dieser Art, gegen den ich kämpfte.“
„Es gibt noch mehr davon?“, keuchte Ferren.
„Davon gehe ich aus“, entgegnete de Nord.
„Aber, wenn man sie gegen Galor schickt…magische Waffen sind selten. Haben die ihnen überhaupt etwas entgegenzusetzten.“
„Nun, ich fürchte, dass verzauberte Waffen in Galor tatsächlich rar gestreut sind. Aber bedenkt, dass ein Mann allein keinen Wall einreißen kann.“
„Natürlich nicht“, bestätigte der Leutnant, bevor er ein kunstvoll gearbeitetes Schwert zog, um es dann friedlich dem Marquis entgegenzustrecken, „Slemov gab mir das, damit ich es Euch überbringe. Ich glaube zwar nicht, dass Ihr es braucht, jetzt wo Ihr eine magische Waffe führt, aber, wir dachten, es sei bei Euch am besten aufgehoben.“
„Tymaleaux‘ Schwert“, murmelte Lucian, nachdem er die Klinge eindringlich betrachtet hatte. Es handelte sich um ein exzellent gearbeitetes Langschwert, dessen Griff mit einigen, kleinen Rubinen besetzt war. Unter den Leitspruch „Inkonsequenz ist Schwäche“, der feinsäuberlich in die Parierstange geätzt war, hatte ihr vorheriger Besitzer die krakeligen Worte „Blut und Bier“ geritzt.
„Eine schöne Klinge“, lachte de Nord, „Manchmal ist das Schwert besser, als der, der es führt. Habt Dank, Leutnant.“
„Edler Herr, erlaubt Ihr mir noch eine weitere Frage“, brach es aus Ferren heraus.
„Stellt sie nur!“
Ferren sah den bleichen Marquis durchdringend an. Fadenscheinige, schwarze Ringe hatten sich um seine Augen geschlossen, ein lichter Bart verunzierte sein Gesicht, die Haut wirkte ergraut, beinahe gegerbt und seine ganze Person war offensichtlich gezeichnet. Vom Krieg, wie Ferren vermutete, dem die Frage nach eben dem Moment, da der Marquis Ariona mit jener mörderischen Miene angesehen hatte, im Halse stecken blieb.
„Nein, es hat sich schon erledigt“, stammelte er, worauf de Nord ihn verwundert musterte.
„Wenn Ihr meint“, zischte er schließlich, bevor er dem Leutnant zunickte und an ihm vorbei zog, um sich zurück zum Bug zu begeben, wobei Ferrens Blick auf den rechten Arm des Marquis fiel, den dieser im Gegensatz zum linken gänzlich unter seinem Umhang verbarg.