Kapitel 2
Die ersten Sonnenstrahlen spielten mit dem aufwirbelnden Staub, der elfenhaft über den Dielenboden tanzte. Über dem Kirschbaum-Stuhl vor der Kommode hing ein Morgenmantel. Davor standen, akkurat platziert, braune Lederschlappen.
Das Bett rechts im Raum maß mindestens zwei Meter in der Länge und zwei Meter in der Breite. Schwere Decken, überzogen mit weissen Perkalbezügen, Kissen aus Samt- und Baumwollbezügen schmückten die riesige Liegefläche. Beinah schien es unbenutzt. Die Frau, die einen schmalen Teil der linken Betthälfte für sich
beanspruchte, war von so zierlicher Gestalt, dass man sie kaum wahrnahm unter dem wuchtigen Plumeau.
Der dumpfe Klang beim Aufprall einer Schwalbe gegen die Fensterscheibe weckte Anne augenblicklich. Noch etwas benommen schaute sie um sich und bemerkte sofort die leere Seite des Bettes, in der sonst ihr Gatte nächtigte. Verwundert, ein wenig besorgt setzte sie sich auf und überlegte, wieso Karl nicht heimgekommen sein mag. Sich streckend und reckend stand sie auf und schaute als erstes aus dem Fenster. Es war ein wundervoller Morgen. Die Vögel zwitscherten ihre Lieder, der Wind streichelte die üppigen Wiesen und
schickte Anne einen nach Madesüß duftenden Gruß. Wie herrlich, dachte sie und ging aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Die Küchentür stand offen. So konnte sie hören, wie etwas in der Pfanne brutzelte. Das wäre das erste Mal, dass ihr Karl Frühstück machte. Es roch seltsam, nicht wie Eier mit Speck. Was er auch in der Pfanne hatte, er schien es vergessen zu haben, den nun mischte sich der fast penetrante Geruch mit Verbranntem.
"Karl?"
Es kam keine Antwort, nur leichte Rauchschwaden schlichen mittlerweile durchs Haus und eben in Annes Nase.
"Karl?, rief sie noch lauter und betrat die
Küche.
Es folgte ein schriller Schrei und sogleich fiel sie in Ohnmacht.
Keine dreißig Sekunden später klopfte es an der Tür. Rudi Höffner, ihr Nachbar, hatte den Schrei gehört und kam sofort herüber.
"Anne! Anne, was ist los?"
Nun erreichte der Gestank, denn nichts anderes war es in diesen Sekunden, auch Rudis Nase.
Sein Magen reagierte prompt.
Nachdem er mehrmals geklopft hatte ohne eine Antwort zu erhalten, stieg er durch das Küchenfenster ein und drehte den Herdschalter nach links. Der Qualm machte es unmöglich, den Raum
komplett in Augenschein zu nehmen. Das erste, was Rudi erkannte, waren die Füße von Anne, dann ihre Beine und schließlich ihren gesamten Körper, der bewegungslos am Boden lag. Schnell beugte er sich zu ihr herunter und nahm ihren Kopf auf.
"Anne!"
Sein Inneres erahnte, dass hier etwas Schreckliches geschehen war. Zögernd blickte er sich um und erstarrte, als seine Augen auf Karl trafen, besser auf das, was von ihm übrig war.
Man hatte ihn auf einen der Küchenstühle gefesselt, die Hände hinter der Rückenlehne zusammengebunden und ihn geknebelt. Seine untere
Körperhälfte war in Blut getränkt. Soweit Rudi das erkennen konnte, hatte ihm jemand den Penis entfernt. Zögernd schweifte sein Blick zurück zur Pfanne. Rudi würgte. Dann rannte er in Panik aus dem Haus als wäre der Teufel hinter ihm her.
Das Gartentor hatte sich verkantet und ließ sich nicht öffnen. Rudi brüllte so laut er konnte, seine Frau solle die Polizei rufen.Ein Mord ist geschehen. Dann fiel ihm Anne ein und er machte kehrt, um erneut ins Haus zu gehen, wenn auch sehr ungern. Doch in dem Rauch konnte er sie doch nicht liegen lassen. Immerhin war es Rauch, verursacht vom verbrannten Penis ihres
Mannes.
Wenig später trug Rudi Anne vor die Eingangstür und legte sie ins Gras, wo sie allmählich zu sich kam. Im selben Augenblick hörte man Sirenen, die Sekunden später vor dem Tor stoppten und unerträglich laut in den Ohren aller Anwohner heulten, bis irgendein Polizist sie endlich abstellte.
Die jungen Beamten befragten erst kurz Rudi und seine Frau, dann gingen sie ins Haus, um sogleich hustend wieder nach draußen zuflüchten. Einer telefonierte, ein anderer forderte Verstärkung über Funk, eine dritte Polizistin übergab sich in den Himbeersträuchern, die die Terrassenabgrenzung zierten.
Es waren exakt 18 Minuten vergangen, Rudi schaute auf die Uhr, bis drei silberne VW Busse mit mindestens acht düster dreinblickenden Herren am Tor anhielten. Sie wirkten keineswegs angespannt, routiniert auch nicht. Eher so, als hätte sie jemand beauftragt, im Park Hundescheiße einzusammeln. Ein Mann mit schwarzem Sweatshirt und Basecap stieg als erstes aus und schaute sich gelangweilt um.
"Herr Hassel?", fragte ihn einer der breits zuvor anwesenden Polizisten.
"Ja", gab der in Schwarz gekleidete zurück.
"Kommen Sie! Dort hinein, bitte! Er sitzt in der Küche."
"Sitzt?"
"Kommen Sie einfach!"
Der junge Mann ging ins Haus, gefolgt von Hassel, seinem Partner Fels und einer weiteren Polizistin.
Routiniert schlichen nun alle Beamten im gesamten Haus umher, sperrten alles ab und ließen niemanden mehr im Umkreis von zwanzig Metern ans Haus heran, abgesehen von Nachbar Rudi, dessen Grundstück unmittelbar an Bohls Haus anschloss.
Als sie in die Küche traten, kämpfte die junge Polizistin sofort damit, sich nicht zu übergeben. Der Geruch im Haus war grausam, aber in der Küche nicht auszuhalten.
Hassel betrachtete nüchtern den Leutnant und nahm ihm dann den Knebel ab.
"Dürfen wir das?, fragte Fels.
"Hab ich je gemacht, was ich darf?", brummte Hassel.
"Was ist das?"
Fels und die junge Polizistin schauten angeekelt in den Mund des Toten.
"Sieht aus wie", stockte Fels.
"Genau, sein Schwanz", gab Hassel die fehlende Antwort.
Die Polizistin spuckte nun vor die Füße des Kommissars und entschuldigte sich im selben Moment.
"Mein Gott, da vorn ist ein Spülbecken. Das nächste Mal dort hinein."
"Und was ist dann in der Pfanne hier?", rätselte Fels.
Hassel nahm die daneben liegende Gabel und drehte das Ding in der Pfanne hin und her. Kurz grübelte er und schlussfolgerte das einzig Logische.
"Ich denke, das ist seine Zunge, was sonst. Riecht fast lecker."
Nun zierte auch Fels die Schuhe seines Partners mit dem Inhalt seines Magens.
"Tut mir Leid, war unvermeidlich", krümmte er sich.
"Herr je!", schnaubte Hassel und verließ das Haus. Im Vorbeigehen gab er Order an alle anzutreffenden Polizisten, ihn unverzüglich zu informieren, wenn es Neuigkeiten gibt. Er müsse erst einmal
frühstücken. Man entschuldige ihn.
(c) Shirley
2013