NUR EIN TRAUM
Als ich an der Schule ankomme, bemerke ich die Blicke, die mir hinterhersehen. das leise Getuschel, wenn ich vorbeigehe. Ich kann mir denken, was sie über mich erzählen - und das ist gewiss nichts Gutes, geschweige denn hat es etwas mit Mitgefühl zu tun oder damit, dass ich drei Tage bewusstlos gewesen bin.
Mein Wohlbefinden interessiert hier niemanden.
Ich versuche sie alle zu ignorieren und begebe mich hoch erhobenen Hauptes in richtung meiner ersten Unterrichtsstunde - Mathe. Warum die Lehrer uns gleich zu Beginn des Tages mit diesem Höllenfach quälen wollen, ist mir ein Rätsel. Hass ist die einzige Erklärung, die mir einfällt. Weshalb sonst, sollten sie uns mit Fragen über Algebra, Formeln und Geometrie bombadieren, noch bevor unser Hirn richtig wach werden kann. Im Ernst, es braucht nur drei Worte, um mir höllische Kopfschmerzen zu bereiten: "Satz des Pythagoras". Das reicht schon, und ich will am liebsten irgendwo anders sein. Am liebsten am anderen Ende der Welt, irgendwohin, wo man nichts von Diagrammen und Binomischen Formeln je gehört hat.
Wie immer gehe ich in die letzte Reihe zu´dem Platz in der Wandecke, ganz weit hinten, wo ich am wenigsten auffalle. Ich lasse meine Tasche neben dem Tisch fallen und setze mich auf meinen Stuhl, lehne mich zurück und starre vor mich hin, bis die Stunde anfängt. Langsam trudeln auch die übrigen Schüler ein und am Schluss unser Mathelehrer Mr. Begonny. Seine Brille sitzt schief auf der Nase und seine blassbraunen Haare sind wie immer wild zerzaust und stehen in alle Richtungen ab. Er ist schlank, fast dürr, aber großgewachsen und linkisch. Anscheinend hat er sich mit seinem Körper noch nie gut zurecht finden können, jede seiner Bewegungen wirkt ungeschickt. Das Einzige, was mir am Matheunterricht gefällt ist unser Lehrer. Mr Begonny ist wohl die netteste Lehrkraft an der ganzen Schule und so ziemlich der einzige Mensch, der mich nicht als Außenseiterin oder Problemfall sieht. Auch wenn meine Mathenoten nicht gerade schmeichelhaft sind.
Als es schließlich klingelt und wir endlich entlassen werden, will ich schon eilig aus dem Klassenzimmer flüchten - ich kann es gar nicht abwarten, aus diesem Raum zu verschwinden, noch immer qualmt mir der Kopf vom Stoff, den wir heute durchgemacht haben und ich brauche frische Luft´, um die Schmerzen, die hinter meinen Schläfen pochen, mit kühlem Sauerstoff zu lindern.
Aber noch bevor ich es aus der Tür schaffe, ruft Mr. Begonny nach mir. "Ms Dawn, würden Sie bitte kurz herkommen."
Ich fluche innerlich und gehe zurück zum Lehrerpult, wo Mr Begonny gerade seine Bücher und Arbeitsblätter zusammenpakt.
"Ja?", frage ich.
Er steckt noch ein Geometrieheft in seine Tasche, dann hebt er den Kopf und sieht mich über den Rand seiner Hornbrille hinweg an. Sein Blick ist so eindringlich, dass ich fast anfange zu zappeln. "Ich weiß, dass Sie drei Tage im Koma lagen", beginnt er. Ich unterbreche ihn sofort.
"Ich war bewusstlos", berichtige ich ihn betont. Ich will nicht, dass irgendjemand hört, ich hätte im Koma gelegen. Das hätte nur negative Folgen für mich. "Ich war nicht im Koma, ich habe nur ... äh ... geschlafen. Sehr lange. Ich war noch nicht einmal im Krankenhaus." Dank meiner Tante, füge ich im Stillen noch hinzu. Ich weiß nicht, wie sie es hinkriegt, aber sie kann sich immer durchsetzen, selbst wenn das was sie will, auch gegen die Norm verstößt. Ich bezweifle, dass ein Arzt, der was aus sich - und seinem Patienten - macht, einen Komatösen einfach Daheim lässt und nicht unverzüglich ins nächste Krankenhaus einliefert. Ich weiß, dass es gefährlich enden kann und wahrscheinlich hat Tante Ebony nicht an die körperlichen Folgen gedacht. Sie denkt meisetns immer nur mit dem Herzen, habe ich das Gefühl, und in diesem Fall wollte sie einfach nur, dass ich es so wohl, wie nur möglich habe. Sicher hat sie geglaubt, nachdem ich meine Eltern auf so tragische Weise verloren habe und in einem abrupten Umzug so plötzlich meine Heimatstadt hatte verlassen müssen, dass ich es mir zusetzen könnte, in einer weiteren fremden Umgebung aufzuwachen. Insgeheim bin ich mir sicher, dass sie in Wahrheit einfach nur Angst hatte, meine Panikattacken würden wieder zurückkehren.
Seit dem Tod meiner Eltern litt ich unter posttraumatischen Störungen - ich sah im Wachen Dinge, die gar nicht da waren, erlebte den schrecklichen Moment, als die Polizei mir die Nachricht brachte, meine Eltern seien ... gestorben, immer und immer wieder. Das Wort, das sie benutzten, war allerdings ein anderes, aber ich kann mich noch nicht einmal dazu durchdringen, es zu denken. Jedenfalls überfielen mich seitdem immer wieder Albträume, selbst im Wachzustand und ich verwechselte Einbildung mit Wirklichkeit. Die Wahrheit ist, meine Eltern wurden umgebracht, sie sind tot, für immer von uns gegangen. Was ich aber sah, waren Monster, Blut und Grauen. Alles schien so real und ich lebte in zwei verschiedene Welten. War in der einen, wurde übermannt von der anderen und schließlich zurück in das Hier und Jetzt gerissen.
Ich glaubte, ich würde den Verstand verlieren.
Um ehrlich zu sein, ich glaub es immer noch. Wenn ich ihn nicht schon längst verloren habe.
Ich habe Tante Ebony nichts davon erzählt, aber noch immer werde ich von Albträumen geplagt, habe manchmal einen Filmriss und die Erinnerung kommt erst später wieder zurück. Sie schien überglücklich, als ich nach zwei Monaten ungefähr endlich wieder normal zu werden schien, und dass diese Angstattacken endlich verschwunden waren. Das sind sie aber nicht. Ich habe nur gelernt, nicht mehr zu schreien. Habe herausgefunden, wie ich meine Angst schweigend ertragen kann. Dem Psychologen, zu dem sie mich geschleppt hatte, sagte ich, mir würde es gut gehen und dass die Albträume und Wahnvrstellungen weg wären.
Alles Lüge.
Sie sind immer noch da und verfolgen mich.