Begleiten Sie Fjodor Mandzukicz bei sienem Dienstantritt als Wächter in der frühen Tagschicht und erfahren Sie, warum es Grenzzäune gibt. Titelbild: www.pixelio.de/©Gerd Altmann/PIXELIO
Der Grenzzaun von Berlin erhob sich bedrohlich in den Himmel. Der Maschendraht starrte die Gaffer, die sich jeden Morgen hier einfanden, wütend an. Er war von der gleichen Beschaffenheit wie jeder andere Zaun auch, den man aus diesem handelsüblichen Material herstellte. Ander war freilich seine Höhe und seine Ausdehnung. In feststehenden Intervallen setzte man ihn unter Strom, der dann laut knisterde und jedem signalisierte, dass Lebensgefahr drohte, wenn man sich ihm näherte. Und so vertrieb man auch die Gaffer, die, erschrocken über das wilde Summen, wieder ihren Weg fortsetzten. Auf beiden Seiten patroulierten Wächter in schwerer, schwarzer Montur, mit Helmen und Körperpanzerung, die schwere Sturmgewehre trugen, die bis auf 2 km Entfernung ihre Ziele mit einer Abweichung von 2 mm trafen, wenn besonders starker Seitenwind brauste. Sonst waren sie bis auf diese Entfernung vollkommen präzise und in dem meisten Fällen auch tödlich, denn die Schützen waren jahrelang an diesen Werkzeugen ausgebildet worden.
Der Draht des Zaunes war keineswegs fest, er war äußerst lose. Das war eine List, welche man aus den alten Weltkriegen kannte. Personen, die glaubten über festen Draht klettern zu können verfingen sich in dem Draht und entkamen ihm nicht, bevor der nächste Stromstoß folgte und sie bei lebendigem Leibe gegrillt wurden.
Die Bedeutung des Grenzzaunes, die den Leser wohl vornehmlich interessieren dürfte, soll erst später genauer erläutert werden, vorerst ist dessen bloße, tödliche Präsenz entscheidend.
Fjodor Mandzukicz trottete auf das kleine Wachhaus zu, in welchem er seinen Dienst zu verrichten hatte. Mit müden Augen betrachtete er die Menschen, die sich nach ihm umdrehten, weil er sich dem Zaun näherte, an stelle sich von ihm abzuwenden. Erst als man sah, dass er auf das flache Gebäude mit Wellblechdach zusteuerte und nicht auf den Zaun selbst, wandte man sich von ihm ab.
Er zeigte seine Marke vor und durfte passieren. Er betrat einen großen Raum, der voller Spinte war und Bänke zum Setzen enthielt, aber sonst vollkommen unpersönlich und steril war. Das Neonlicht sorgte auch nicht gerade für fröhliche Stimmung.
Er hängte seine Zivilkleidung in seinen Spint und zog seine Wächteruniform an. Während er dies tat dachte er daran, dass er vor einigen Jahren niemals gedacht hätte, dass er dies einmal tun würde.
Fjodor Mandzukicz hatte ursprünglich den Wunsch Lehrer zu werden. Er wollte seinen Schülern von den Naturzuständen erzählen, welche großen Neuerungen und Fortschritte nach dem Totalen 3. Weltkrieg gemacht worden waren. Er wollte ordentlich Bürger aus den Kindern machen und dabei ihre strahlenden Gesichter sehen, wenn sie, voller Ãœberzeugung, die Grundmaxime der Gesellschaft aufsagten: „Beständigkeit für alle!“
Diesen Traum hatte er sich aber nicht selbst verbaut, wie man meinen könnte. Im Sport war er stets der Beste gewesen, also konnte er sich auch ausrechnen, dass die Chance rekrutiert zu werden dadurch nicht geringer wurde. Jeder Jahrgang stellte eine bestimmte Zahl von Rekruten, die aus den sportlichsten und, zumindest, nicht dümmsten, Abgängern der Gymnasien bestand. Die Weltwachzentrale regelte den Strom der Neuen und der Abgänge, denn es musste immer die gleiche Zahl von Wächtern an den Grenzzäunen der Welt patroulieren. Damit ist in der Tat gemeint, dass es nicht nur einen Grenzzaun gibt, sondern es gibt einen Grenzzaun in jeder Stadt, der sie einmal in einen Nord- und einen Südteil trennt. Die Erklärung dessen soll nun folgen, denn es kann nicht erwartet werden, dass der Leser noch weiter auf die Folter gespannt wird.
Man fragte sich, wie es möglich sein soll unterschiedliche Berufe und damit unterschiedliche Schichten so nebeneinander leben zu lassen, dass kein Krieg ausbrach, oder dass die Gesellschaft instabil war. Man erkannte, dass die Geschichte, gemäß Marx, die Geschichte der Klassenkämpfe war. So war klar, dass sich einerseits die höheren Berufe und die Proletarier nicht einfach so untereinander verständigen konnten, denn die Gesellschaft ist nicht vollkommen auf ein gleiches Niveau zu stellen. Egal wie man es anstellt, immer entsteht ein kleines Gefälle zwischen den Industriearbeitern und den restlichen Bürgern. Das Problem dabei ist, dass der Proletarier immer nach oben strebt, wie es dem Menschen eigen ist. Er wird eine geringfügig niedrigere Bezahlung als falsch ansehen, er wird ebenfalls haben wollen, was der Privilegiertere hat. Er will die gesellschaftlichen Schichten durchbrechen und schafft damit eine Unordnung. Gesellschaften kommen dann ins Wanken, wenn einerseits die Schichten in beide Richtungen durchgängig sind und andererseits Unzufriedenheit in ihr vorherrscht.
Lange hatte man damit gerungen eine funktionale Lösung zu finden. Schließlich einigte man sich darauf, die beiden Klassen zu trennen, jedoch nicht allein symbolisch. Man erinnerte sich an die Berliner Mauer, an die Chinesische Mauer, den Limes. Und so wollte man es auch halten, diesmal aber keine Völker, sondern Gruppen trennen.
Und so errichtete man in jeder Stadt einen solchen Grenzzaun. Im Norden siedelte man die Zentren der Intellektuellen an, der Süden war für die Industrie da.
Es stellt sich aber überdies immer noch die Frage danach, wie man verhindert, dass die Gesellschaft, trotz sicherer Teilung, nicht doch noch zerfallen könnte.
Darin besteht der zweite große Coup. Jeder erhält so viel Gehalt, dass es für alle zum guten Leben reicht. Die Gehälter unterscheiden sich nicht groß innerhalb der einzelnen Klassen, weshalb kein Neid in den Klassen entsteht und alle in ihrer Zufriedenheit gar nicht in andere Richtungen streben. Dadurch schafft man es, dass die Gesellschaft an sich vollkommen stabil bleibt. Wie das mit den Märkten zu vereinbaren ist, wird später erläutert.
Man kann aber sagen, dass der Beruf des Wächters, anders als Sie aus Ihrer Sicht vielleicht annehmen könnten, vollkommen ehrbar war und eine Adelung desjenigen bedeutete, der diesen Beruf ausüben durfte. Das erklärt sich daraus, dass die Wächter die offensichtliche Aufgabe hatten, die Ordnung der Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Sie wurden aus der Bevölkerung der jeweiligen Seite rekrutiert, der der Grenzzaun zugewandt war, deshalb patroulierten auf beiden Seiten Wachen, die aber kein Wort miteinander wechseln durften, wenn sie aneinander vorbei liefen.
Fjodor trat hinaus, nickte einem der Wachhabenden zu und nahm seinen Posten ein, den man ihm zugeteilt hatte. Heute war er erlaufbar. An den meisten tagen musste man zu diesem Punkt gefahren werden und bekam dann erklärt, bis wohin man laufen musste. Dann lief man, bis Pause war, man wieder in die nächste Baracke gefahren wurde und dort mit einem ansprechenden Essen versorgt wurde und dann ging es wieder zurück auf den Posten bis man zum Schichtende blies und abgeholt wurde um sich zu duschen und wieder ein ziviles Wesen zu werden.
Fjodor erreichte seinen Startpunkt und begann zu laufen. Wenigstens erhielt er gutes Gehalt. Das musste man sagen, die Gesellschaft wusste, was ihr ihre Wächter wert waren. Diese wichtigen Personen wurden auch besonders geachtet. Man konnte sie, was dies betraf, auf eine Stufe mit den bekanntesten Professoren der wichtigsten Universitäten stellen und anderen bekannten Staatsbeamten.
In diesen Stunden dachte er gerne an die Zeit seiner Ausbildung zurück, kurz nachdem er erfahren hatte, dass sein Traum Lehrer zu werden sich nicht erfüllen würde, weil man ihm, von Staates Seite her, eine andere Rolle in der Gesellschaft zugewiesen bekommen hatte.
Im ersten Jahr hatte man die Rekruten an den Waffen geschult. Es waren nicht nur Schießübungen gewesen auf unbewegliche Ziele, sondern auch Übungsmanöver standen auf dem Stundenplan. Dabei ging es darum Leute aufzuhalten, die die Grenzen überwinden wollten, indem sie die Grenzstationen zur Seite der Nichtproletarier überliefen, denn die Grenzstationen waren die einzigen durchlässigen Stellen der Grenzzäune.
Erst laut rufen, der Flüchtling soll stehen bleiben, dann ein Warnschuss und erst dann auf den Flüchtenden schießen, so hatten sie es gelernt. Man konnte jeden von ihnen wecken, Männer wie Frauen, sie taten es im Schlaf. Wer dieses Jahr überstand, der durfte sich in den folgenden zwei Jahren der Spezialausbildung widmen. Diese Ausbildung war jedoch keine spezielle in Kampftechniken, oder anderen Dingen, die man sich da vorstellen könnte. Diese beiden Jahre verwendete man darauf die baldigen Wächter vornehmlich auf ihren Berufsalltag einzustellen und dafür zu sorgen, dass sie, trotz der Eintönigkeit, immer daran dachten, was sie für einen wichtigen Dienst für die Gesellschaft erfüllten und wie wichtig sie selbst waren. Und dazu lernten sie auch die Gesellschaft zu lieben, die wichtigen Grundsätze vollkommen zu verstehen. Dadurch sollten sie verlernen daran zu zweifeln was sie taten, vor allem daran, dass sie vielleicht jemanden erschießen mussten. Kein Gedanke durfte daran verschwendet werden, dass es falsch sein könnte, dass es gegen das Recht des Fliehenden verstieß. Das war Quatsch und das musste in jedem Moment klar sein, das durfte einfach nicht in Frage gestellt werden! Daran zu zweifeln hieß an der Richtigkeit der gesellschaftlichen Ordnung zu zweifeln!
All dies lernten sie intensiv kennen und verinnerlichten es. Und so zweifelte er keine Sekunde an der Wichtigkeit seiner Tätigkeit und an ihrer Richtigkeit. Doch einen Wunsch konnte ihm dies niemals nehmen. Er hatte den Wunsch die andere Seite, die er jeden Tag durch den Maschendraht sah, näher kennen zu lernen. Er wollte das Proletariat kennen lernen, wenigstens ein wenig. Er wollte wissen, wie sie lebten, was sie so taten etc.
Natürlich hörte man davon, man bekam es sogar offiziell gesagt, aber man musste sagen die Informationen waren sehr rar gesät. Wichtig war nur, dass sie in ihrer Welt lebten und man in seiner. Niemals sollte man in die andere kommen. Aber jeder war auch glücklich auf seiner Seite, es gab also keinen Grund zum Wechsel. Und damit hatte man auch Recht. Fjodor und niemanden, den er kannte ermangelte es an irgendwelchen Dingen. Es war nur eben der fehlende Kontakt zur anderen Seite, den er so gerne hätte, aber er hatte sich soweit damit abgefunden, dass es nicht ging.
Und damit niemand auf dumme Gedanken kam, wurde jeder Abschnitt durch Kameras überwacht. Sollte ein Wächter auf dumme Gedanken kommen konnte man ihn auch sofort ergreifen, oder wenigstens kurz nach seiner Flucht. Ertappte man ihn bei der Flucht auf frischer Tat war so vorzugehen wie bei jedem anderen Flüchtenden, allerdings schoss man den Wächtern ins Bein, denn die waren nicht geschützt. Dann nehm man sie fest und sie wurden durch die Gerichte verurteilt. 25 Jahre Besserungsanstalt waren das Strafmaß. Der geflüchtete Wächter wurde von den Truppen der anderen Seite verfolgt und gefangen genommen, wobei man auch auf ihn schießen konnte, wenn er flüchten sollte. Das Strafmaß blieb gleich.
Und so lief er weiter und blickte stur geradeaus. Keine Regung zeigen, die Gaffer nicht beachten und nur daran denken, wie wichtig man war und wie schön der Dienstschluss war.