2.
Benedict
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Es glich einem Wunder, dass ich es schaffte, mein Auto in die Gerade abzustellen ohne vorher einen Unfall zu bauen, aber manchmal war sogar so etwas wie ein Schutzengel oder sogar Gott an meiner Seite. Ich lächelte, als ich meine Wohnung aufschloss – vor Erleichterung, denn ich war zu Hause. Zur Erklärung: Ja, ich hatte zwei Wohnsitze.
Natürlich wohnte ich in der Villa meiner Eltern, aber immer wenn eine Klausurenphase anstand oder ich besonders viel Stress mit dem Intensivstudium hatte, zog ich mich in meine Eigentumswohnung zurück – wie jetzt.
Sofort ließ ich meine Aktentasche neben der Haustür fallen und schmiss meine Anzugjacke lustlos auf den Boden. Ich knöpfte mir die ersten Knöpfe meines hellblauen Hemdes auf und lockerte mir die Krawatte.
Endlich. Luft. Atmen. Kein Stress. Entspann dich.
Als nächstes ließ ich mich auf mein Sofa fallen und schloss die Augen. Keine Migräne mehr. Weg. Erleichterung.
Ich kreuzte die Beine, schob mir ein Kissen unter den Kopf und nahm mir mein iPad bei Hand um meine Mails zu checken.
Nichts Neues. Danke.
Die große Wanduhr schlug ein Uhr und ich war erleichtert, dass ich noch so viel Zeit bis zum Galdadinner im „Velvet“ hatte. Wenn man vom Teufel sprach, hieß es nicht so? Jedenfalls sah ich wieder Vaters Handynummer auf dem Display meines iPhones.
„Vater, was gibt’s?“, fragte ich.
„Bitte entschuldige, dass ich dich noch mal stören muss. Du bist derzeit sicher im Lernstress?“
Als ob ich mich ertappt gefühlt hätte, schreckte ich auf und saß kerzengerade auf dem Sofa.
„Äh, ja… Es geht. Es ist viel, aber es geht.“
„Das will ich hoffen“, war Vaters schlichte Antwort.
„Das war aber sicher nicht der Grund, warum du noch mal anrufst, oder? Gibt’s noch irgendetwas?“
„Gut, dass du darauf zu sprechen kommst, Junge“, hüstelte er. „Ich lasse dich heute Abend abholen, dann musst du dir nicht noch zusätzlichen Stress machen. Ich hoffe, das kommt dir entgegen?“
„Super, vielen Dank. Ja, tut es sehr“, antwortete ich. Erleichtert war ich wirklich, ohne Zweifel.
„Sehr gut. James kommt gegen siebzehn Uhr und klingelt bei dir, in Ordnung?“
„Ja, klar. Vielen Dank und bis später dann. Ich muss mir meine Garderobe noch zurechtlegen.“
„Bis später, Benedict. Ich zähle auf dich.“
Der nicht zu beugende Optimismus von Vater war einfach bewundernswert. Geerbt hatte ich den von ihm bestimmt nicht. Kurze Zeit später knöpfte ich mir mein Hemd auf und schmiss es in den Wäschekorb. Mein Oberkörper war nass, schweißnass, und ich wusste nicht warum. Panik, Nervosität, Angst – alles kam beisammen. Stress. Studiumsstress. Immer noch keine Ahnung, wo und vor allem wie ich mein nächstes, bald schon anstehendes Auslandspraktikum meistern und überstehen sollte.
Ich schwang mich kurz darauf wieder vom Sofa und sprang unter die Dusche, nachdem ich mir meine Garderobe fürs „Velvet“ zurechtgelegt hatte. Meinen dunkelblauen Frack hatte ich bis jetzt nur einmal getragen, kurz nach dem Abitur zu dem Einführungsseminar an der Kingscross. Mit einem weißen Hemd und ebenso dunkler Krawatte ließ der sich Gott sei Dank gut kombinieren. Ich zog mir meine Boxerhorts über, gelte mir meine Haare und ließ mich dann wieder auf mein Sofa fallen.
Noch lange Zeit bis zum Horror. Gott sei Dank.
Wie sollte ich mich da schon wieder verhalten, im „Velvet“? Nicht, dass ich nicht oft genug zu irgendwelchen Galadinners geladen wäre, im Gegenteil. Aber einzig der Gedanke daran, dass die eigene Familie eins ausrichtete, ließ meinen Stresspegel in gefährliche Höhe steigen. Und dann auch noch wegen mir. Meinem Studium. Ich betete, dass Vater dieses Mal wenigstens die Hohensteins außen vor ließ, wenn er schon den Huchting mit seinem irren Sohn einladen musste. Terror von Anja konnte ich heute Abend nicht auch noch gebrauchen. Weil ich nichts anderes wusste mit meiner Zeit anzufangen, zog ich mir mein weißes Hemd und die Anzughose an.
Annehmlich, dachte ich, als ich in den großen Wandspiegel im Flur sah. Sehr annehmlich. So kann ich mich heute Abend ja sehen lassen. Wenn gleich noch die Augenringe weggehen würden und ich ein bisschen mehr Farbe im Gesicht hätte, sähe ich sogar fast wieder gesund aus.
Vater schien das nicht zu kümmern, Mutter dafür umso mehr. Sie war besorgt; immer, wenn ich wieder in die Villa kam.
Wie siehst du nur aus, Junge? Bekommt dir die Umgebung nicht gut? Hast du irgendwelche Sorgen? Hast du Liebeskummer?
Ich wusste nicht, ob ich eine überfürsorgliche oder liebevolle Mutter hatte, entschied mich öfters jedoch für letzteres. Und ich wollte ihr ein ebenso guter Sohn sein. Die erste Etappe, ein gutes Abitur, hatte ich hinter mir. Für die Null vorm Komma hatte ich hart gearbeitet und in den letzten paar Jahren vergessen, dass ich auch noch ein Privatleben hatte, dass nicht nur aus Schule, Bewerbungen und Pauken bestand. Dass es eine Eins vorm Komma wurde, war klar, aber umso stolzer war ich auf meine 0,7. Nicht mal der Hohenstein-Junior hatte das schaffen können. Und das war es, was meinen Vater so verdammt stolz gemacht hatte, weiß der Geier, warum.
Jedenfalls war er es und ich war es ebenfalls, weil ich meinem fünf Jahre älteren Bruder das Wasser reichen und in das BWL-Studium an der Kingscross einsteigen konnte ohne größere Probleme.
Nachdem ich mir Abdeckstift unter die müden Augen geschmiert hatte, der meine Augenringe einigermaßen verdeckte, fand ich mich mittlerweile sogar sehr ansehnlich. Und ja, Abdeckstift gab es auch für Männer. Ich hatte – zu meiner Verteidigung – gerade ein Werbegeschenk von L’Oreal in der Hand.
Ich legte meine Rolex um und band meine Krawatte – nicht zu eng und nicht zu locker. Denn nicht nur ich fragte mich, wie mein Vater auf Geschäftstreffen noch Luft bekam, sicher auch seine Kunden.
Selten war ich so froh wie jetzt mich nicht um ein Taxi kümmern zu müssen oder selbst zu fahren, sondern einfach nur vom Chauffeur meines Vaters abgeholt zu werden, mich eine halbe Stunde in die Limousine zu setzen und zu entspannen, bis sie am „Velvet“ ankam und ich jede Menge sinnlosen Small Talk halten musste, der mir aber für später ganz nützlich sein könnte, meinte Vater jedes Mal, wenn ich mich über die ganzen oberflächlichen Gespräche aufregte.
Die Oberflächlichkeiten erinnerten mich sofort an Anja; ergo an etwas, das ich in meinem Leben nicht mehr haben und am liebsten verbannen wollte. Ganz weit weg, für immer. Auf eine einsame Insel.
Ich hütete mich davor, es öffentlich zu sagen, aber: Große Galadinner – ich verabscheute sie. Sie waren nicht meine Welt. Dieses piekfeine, gespielte und unnatürliche – ich hasste es so sehr, wie oberflächliche Gespräche.
Um kein falsches Bild von mir aufkommen zu lassen, muss ich mich an dieser Stelle natürlich verteidigen: Nein, ich, Benedict von Truchersheim war nicht der arme Adelige, der alles im Leben vorgeschrieben und vor allem in den Arsch geschoben bekam, wie es immer so schön hieß. Auch ich musste hart arbeiten. Hart, für meine Ziele, Träume und vor allem hart, um auf dieser Hochschule studieren zu können.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich es schaffen sollte, zwischen dem Galadinner und der morgigen Klausur noch zu lernen, geschweige denn hatte ich einen Nerv dafür. Ich war froh, wenn ich heute Abend; nein, morgen früh heil in mein Bett kam und schlafen konnte. Und ich war noch froher, wenn Anja dieses Mal nicht mit meinen Dozenten schlafen würde und so ständig über meine Noten bescheid wüsste.
Noch eine halbe Stunde, bis James an meiner Haustür klingelt.
Da war er wieder, der Moment, den ich eigentlich nicht mochte. Den Moment zwischen Stress und absoluter Ruhe, denn in dieser halben Stunde wusste ich nicht, was ich tun sollte, außer nachzudenken. Und wenn ich zuviel nachdachte, wirkte das… tödlich. Nicht direkt tödlich auf mich, sondern tödlich auf meine Nerven, die ich heute Abend aber dringend noch brauchte. Wenn ich etwas hasste, dann war es der Charakterzug an mir, dass ich mir über alles und jeden Sorgen und Gedanken machte. Das war nicht schlecht, meinten meine Eltern auch, aber ich empfand es so – genauso wie jetzt. Ich machte mich verrückt darüber, wer heute Abend außer meiner Familie im „Velvet“ anzutreffen war und mit wem ich mich unterhalten sollte, musste, konnte oder durfte.
Deshalb ging ich in meinem Wohnzimmer auf und ab – mal schneller, mal langsamer. Eine nervtötende Angewohnheit von mir, die ich nicht ablegen konnte – und schon mal gar nicht, wenn ich mal wieder so nervös wie heute war. Es war eigenartig; ich fühlte mich fast wie ertappt; fast, wie als wenn Vater gewusst hätte, was bei meinem letzten Auslandspraktikum in Spanien passiert war.
Ich selbst konnte mich nur noch bruchstückhaft daran erinnern. Das, was ich ganz sicher wusste, war, dass ich mich schon morgens nicht sonderlich gut fühlte. Das schob ich aber zunächst auf den spanischen Hochsommer und die tropischen Temperaturen. Ich war jemand, der eher Herbst und Winter für sich beanspruchte, denn ich liebte es, wenn es schon um siebzehn Uhr stockdunkel wurde, sodass man oft die eigene Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte. Es hatte etwas Entspannendes an sich. Ganz anders war das natürlich in Spanien. Bereits morgens fühlte ich mich mies, schob das auf die hochsommerlichen Temperaturen und auf meine Migräne, sollte jedoch zwei Stunden später erkennen, dass das angeblich ein Zustand der Totalerschöpfung war, wie man mir im Krankenhaus dann mitteilte. Wieder mal ging ich mit einer absoluten Überdosis von meinen Migränetropfen ins Büro, wollte mich auf einen Vortrag vorbereiten, war schließlich vorbereitet und ich ging in den Konferenzraum. Noch während ich dabei war, alle Teilnehmer meines Vortrages zu begrüßen, passierte es und mir wurde pechschwarz vor Augen, sodass ich nichts mehr sah und nach hinten kippte.
Später wachte ich im Krankenhaus mit einem dicken Kopfverband auf. Natürlich dachte ich zuerst daran, dass Krankenhausessen, egal, welcher Art, nicht nur in der Vorstellung mit Würgereizen behaftet war. In Spanien war das allerdings nicht so, konnte ich zu meinem Glück feststellen.
Als ich mein erstes Gespräch mit dem behandelnden Arzt hatte –fiel dann das Wort Burn Out. Und ja, ich war dankbar, dass mein Spanisch Gott sei Dank so gut war, dass ich ihn ohne großen Heckmeck verstand. Die Spanier waren in der Beziehung nämlich besonders stur und taten einen Teufel und sprachen mit Ausländern Deutsch, geschweige denn wenigstens Englisch, sondern blieben einfach bei ihrer Sprache. Burn Out. Bis dahin hatte ich nur im Fernsehen davon gehört? Was war das eigentlich genau? Und ich, ich, mit meinen gerade zwanzig Jahren sollte kurz vor einem Burn Out stehen? Verarschen konnte ich mich selbst, jawohl. Ich war Student, jung, hatte vor einem Jahr die Schule beendet, war voller Elan und Freude in mein Studium gestartet, was sicher nicht einfach war, ja, aber ein Burn Out? In meinem Alter? Das konnte es einfach nicht geben, davon war ich überzeugt.
Schließlich weckte mich die Türklingel aus meinen Gedanken und ich atmete fast erleichtert auf als ich den Chauffeur meines Vaters vor der Tür stehen sah.
„Benedict? Sind Sie so weit?“, fragte James galant und nahm mir meine Aktentasche ab.
„Ja, herzlichen Dank fürs Abholen“, lächelte ich und schloss die Tür zwei Mal ab.
„Das ist mein Job, Herr von Truchersheim.“
Es störte mich, dass er mich mal beim Vornamen siezte, mal beim Nachnamen und mich manchmal einfach nur „Freiherr“ nannte. Denn das war etwas, was ich garantiert nicht wollte: Auf meinen Adelstitel reduziert zu werden.
„Bleiben Sie bitte bei meinem Vornahmen, wenn das okay für Sie ist.“
„Natürlich. Wie Sie wünschen, Benedict“, gab James zu Protokoll und legte mir ein flottes Tempo vor. „Fühlen Sie sich nicht gut, Benedict? Verzeihen Sie die Bemerkung, aber Sie sind heute etwas blass um die Nase.“
Na super. Wenn das schon ein Angestellter von Vater bemerkt, in welchem Desaster soll das heute Abend bitte enden, Benedict?!
„Keine Sorge. Alles paletti“, lächelte ich und nickte bekräftigend.
„Das beruhigt ungemein zu hören, Benedict. Bitte nehmen Sie Platz.“ James öffnete mir die Tür der Limousine, nachdem er meinen Aktenkoffer im Kofferraum verstaut hatte.
„Danke sehr.“
„In einer halben Stunde ist Ihre Ankunft am Zielort. Ihre Eltern sind bereits informiert.“
„Danke“, lächelte ich noch einmal und war erleichtert, als James die Tür endlich geschlossen hatte.
Ich war froh, dass wir die ziemlich einzigen auf der Straße waren, denn ich hasste es, wenn ich von einem Chauffeur abgeholt wurde und die Menschenmassen begafften mich. Zugegeben war es hier in der Gegend nicht so, aber das hatte ich schon oft genug erlebt. Wichtigtuerisch, das wollte ich nicht sein, im Gegenteil. Oft erwischte ich mich bei dem Gedanken, dass ich einfach so sein wollte, wie anderen. Ja, manchmal hatte ich sogar einfach den Wunsch, nicht an der Kingscross zu studieren, sondern an irgendeiner Universität, wo lauter Menschen wie du und ich waren, die sich darüber einen Dreck scherten, was die Presse von der Familie dachte, bei denen nicht ständig ein ganzer Ruf der Familie auf dem Spiel stand oder die Firma ebendieser.
Ja, wir fuhren. Das merkte ich spätestens seit dem ekelhaften Ruckeln.
Nein, Migräne, bleib bloß da, wo du bist!
Das Auto hielt an und ich konnte das blitzende Eingangsschild vom „Velvet“ schon von weitem sehen.
Ja. Wir waren da.
Ich hörte, dass James die Fahrertür öffnete und zu mir ging.
„Benedict? Sind Sie so weit?“, fragte er mich noch bevor er die Tür endgültig öffnete.
„Ja, ja, bitte“, entgegnete ich.
Vorsichtig stieg ich aus der Limousine und versuchte ein Lächeln. Ob es mir gelang, konnte ich nicht sagen.