In Berlin treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Seine Opfer scheinen wahllos ausgesucht und er mordet unbeeindruckt weiter . Kann die Polizei ihm das Handwerk legen und welche Rolle spielt Svenja Christensen, deren Nachforschungen sie auf die Spur des Mörders bringen.
Für Konstanze.
„Freya! Lass uns noch ne Runde schaukeln“, lächelnd breitete Svenja Christensen ihre Arme aus und streckte sie ihrer kleinen Nichte entgegen. „Ich möchte aber lieber in der Sandkiste mein Prinzessinenschloss bauen“, erwiderte die Vierjährige und wand sich in dem Griff ihrer Tante wie ein kleiner Regenwurm. Sie schnappte sich eine blaue Plastikschaufel und setzte sich in die Sandkiste. Dabei verschwanden ihre kleinen Füße in den Tiefen des Schlossgrabens. „Aber nur noch zehn Minuten. Deine Mutter hat das Essen schon auf dem Herd stehen“, Svenja richtete sich auf und strich sich ihre cremefarbene Rüschenbluse glatt. Übers Wochenende war sie zu ihrer Schwester Ylva nach Berlin-Wedding gefahren, um sich vom stressigen Unialltag zu erholen. Svenja war im vierten Semester und studierte Germanistik. Außerdem wollte sie noch einen Studiengang in ihrer Muttersprache Norwegisch belegen. Zusammen mit ihrer Familie war sie vor 15 Jahren nach Berlin gekommen und hatte in der deutschen Hauptstadt ihr neues Zuhause gefunden. Eine laue Brise wehte über die kleine Rasenfläche und blies ihr die blonden Strähnen aus dem Gesicht. Sie strich sich die Haare hinter das linke Ohr, an dem ein geflochtener Bauernzopf vorbeilief. Für Mitte März war es angenehm warm und die Sonnenstrahlen schienen schon den ganzen Vormittag ununterbrochen vom Himmel. Sie erweckten kleine Frühlingsblumen zum Leben. Kleine, bunte Blüten streckten ihre Köpfe unter dem vertrockneten Laub des Vorjahres empor. Svenja ging in die Hocke und schaute sich die Farbenpracht genauer an. Schneeglöckchen und Winterlinge hatten sich ihren Weg durch die Erdschicht gebahnt und ein erster Krokus streckte seinen gelben Kopf in alle Richtungen. „Essen ist fertig! Svenja und Freya ihr könnt kommen“, aus dem Küchenfenster hatte sich eine ebenfalls blonde Frau gelehnt. Ihre bleiche Haut ließ noch erkennen, dass sie aus dem hohen Norden kam und ihre blauen Augen spiegelten sich wie Kristalle im Sonnenlicht. Ylva war zehn Jahre älter als Svenja und wohnte mittlerweile fünf Jahre in dem Neubaugebiet Weddings. Zusammen mit ihrem Mann Marcel hatte sie sich hier ein rotes Holzhaus im Schwedenstil erbauen lassen. „Wenn man schon nicht in Norwegen lebt, kann man jedenfalls so tun“, hatte sie auf dem Richtfest gesagt. Die beiden leiteten eine Werbeagentur und waren erfolgreiche Geschäftsleute. Marcel war viel im Ausland unterwegs und auch Ylva hatte nur sehr wenig Zeit für ihre kleine Tochter. Immer öfter rief sie bei Svenja an, um sie darum zu bitten, Freya für einige Zeit zu sich zu nehmen. Nächstes Wochenende war es wieder so weit. Ylva hatte ein geschäftliches Event in München zu organisieren und würde ihre Tochter am Freitagabend im Studentenheim ihrer Schwester vorbeibringen. Svenja nahm ihre Nicht bei der Hand und führte sie durch die weiß lackierte Terrassentür in das Haus. „Bevor wir reingehen, müssen wir uns die Schuhe ausziehen, Freya“, Svenja war gerade aus ihren schwarzen Sneakers geschlüpft und half der Kleinen aus den pinkfarbenen Gummistiefeln, die ganz mit Matsch bedeckt waren. Sie ließen die dreckigen Schuhe stehen und betraten das Wohnzimmer. Beim Einrichten hatte Ylva Geschmack bewiesen. Das Haus war in einen ländlichen Charme getaucht und Möbel aus Naturholz sorgten für Gemütlichkeit. Der Esstisch war bereits gedeckt und die weiß- beigen Nuancen des Keramikgeschirrs hoben sich von der Holzplatte des rechteckigen Tisches ab. Vor der blau gestrichenen Wand stand eine hellblaue Holzbank, auf der viele gestreifte Kissen Platz genommen hatten. Links und rechts vom Tisch standen zwei Stühle aus Korbgeflecht. Svenja hob die kleine Freya hoch und huschte mit ihr in das Badezimmer nebenan. „Vor dem Essen immer die Händewaschen“, erklärte sie, indem sie der kleinen einen großen Klecks Flüssigseife auf die Hand gab und zum Schäumen brachte. Freya quickte vergnügt und entblößte eine unvollständige Reihe aus Milchzähnen. „Das Essen steht auf dem Tisch“, kam es aus dem Wohnzimmer. Ylva war gerade dabei, die Teller mit runden Pfannkuchen zu belegen. Der leckere Duft von Zucker, Honig und Kardamom stieg von ihnen auf. Ylva nahm sich Freya auf den Schoß und garnierte den Pfannkuchen mit Blaubeermarmelade, ehe sie ihn in kleine, mundgerechte Stücke schnitt. Auch Svenja nahm sich einen der leckeren Pfannkuchen und lud sich zusätzlich noch einen Teelöffel Bienenhonig darauf. Genüsslich wurden alle Pfannkuchen verschlungen, bis nur noch ein paar Zuckerkristalle und Blaubeerkleckse auf den Tellern übrig blieben. Während Ylva das schmutzige Geschirr in die Küche brachte, ging ihre Schwester mit ihrer Tochter nach oben. Freyas Zimmer war eine verträumte Spielwiese aus Rosa, Rot, Lila und Weiß. Sie schlief in einem Hochbett, was oben noch mit weißen Gitterstäben umzäunt war. Schnell war die Kleine umgezogen und Svenja legte sie behutsam in ein Meer aus tausenden Teddys und Puppen. „Ja, vi elsker dette landet, som det stiger frem, furet, vaerbitt over vannet, med de tusen hjem. Elsker, elsker det og tenker. På vår far og mor. Og den saganatt som senker drømmer på vår jord“, Svenja summte ein norwegisches Schlaflied, das ihre Eltern ihr immer vorgesungen hatten und schon nach ein paar Minuten wurden Träume zur Erde gesendet und ein leises Schnarchen war von Freya zu hören. Auf Zehenspitzen schlich sie wieder nach unten zu ihrer Schwester. Diese hatte sich bereits auf ein graues Sofa gesetzt, welches auf einem gelb-blauen Mosaikteppich stand. Die Farben des Teppichs spiegelten sich in vielen Dingen des Raumes wieder. „Na, schläft die Kleine?“, fragte Ylva und angelte sich eine Zigarette aus der Packung, die auf dem Tisch lag. „Ja, das tut sie und wie oft soll ich dir noch sagen, dass dein Zigarettenkonsum deiner Tochter nicht gut tut. Die wievielte ist das heute schon?“ „Das geht dich nichts an. Das hier ist mein Haus und mein Leben, das weißt du hoffentlich und außerdem ist Freya meine Tochter. Immer musst du alles besser wissen, Svenja und deine ach so tollen Lebensweisheiten kannst du für dich behalten.“ „Nicht so laut!“, konterte Svenja und schüttelte innerlich den Kopf. Immer wenn sie ihre Schwester besuchte kam es zu diesem Streit und beide wussten, dass sich nichts ändern würde, wenn Svenja später das Haus verließ. „Es ist nicht dein Leben und Freya nicht deine Tochter“, dachte Svenja und fragte sich, wie oft sie sich schon gewünscht hatte, dass es anders wäre. Ein Kind brauchte Zeit und Aufmerksamkeit, alles was Freyas Eltern nicht hatten. „Nimmst du sie nun nächsten Freitag bis Sonntag zu dir oder muss ich mir wieder einen dieser dämlichen Babysitter holen, die überhaupt nicht wissen, wie man mit einer Vierjährigen umgeht“. „In Ordnung, ich werde es machen“, Svenja erwiderte den Blick ihrer Schwester, sah das als Entschuldigung und der Streit war vergessen. Ylva stand auf und fragte ihre Schwester nach einem Tee. Kurze Zeit später tranken die beiden schweigend ihren Roibuschtee und schauten aus dem Fenster nach draußen. Zwei Amseln stritten sich um einen kleinen Regenwurm. „So wie wir uns um Freya streiten“, ein Lächeln huschte Svenja über das blasse Gesicht. Die Sonne war schon fast hinter den Dächern verschwunden und die Temperaturen gingen zurück auf ihre Normalwerte. „Ungewöhnlich warm für einen Märztag oder?“, riss Ylva ihre Schwester aus den Gedanken. Diese schaute auf ihre silberne Armbanduhr. „Es ist ja schon halb vier. Ich hab noch wahnsinnig viel zu tun. Morgen ist mein erster Tag für das Praktikum an der Ernst-Schering-Schule hier in Wedding.“ „Achja, das hatte ich total vergessen, dann kannst du morgen Mittag gleich auf Freya aufpassen. Ich habe noch ein Seminar zu halten und Marcel kommt heute aus Birmingham zurück und muss sich noch von seinem Flug erholen“. Svenja nickte nur und verabschiedete sich von ihrer Schwester, ehe sie noch einmal nach Freya schaute und sich auf den Weg zum U-Bahnhof in der Reinickendorfer Straße machte. Das Studentenwohnheim befand sich nämlich außerhalb von Wedding mitten in der Berliner Innenstadt. Die Luft schien sich mit Feuchtigkeit vollgesaugt zu haben, als Svenja wenig später die Stufen zu ihrer Zweizimmerwohnung erklomm. Die Wohnung war mit hellem Laminat ausgelegt und die Wände strahlten in unterschiedlichen Gelbtönen. „Wenigsten hat sich hier die Sonne gehalten“, murmelte Svenja und betrat den Wohnbereich, in dem sich zugleich auch ihr Bett und eine kleine Schreibtischecke befanden. Sie knipste die kleine Lampe an, die an einem dünnen Regalbrett über dem Schreibtisch angebracht war und machte sich an die Vorbereitungen für den morgigen Tag.
Nicolas Abendstern, Kommissar bei der Berliner Mordkommission, war unterwegs zum Autohändler in Berlin-Mitte. Als Transportmittel hatte er sich einen überfüllten Linienbus ausgesucht und saß nun zusammen gequetscht neben einer gut situierten, alten Dame am dritten Fensterplatz auf der linken Seite. Die wärmenden Strahlen der Sonne schienen durch die verdreckten Busscheiben und erhellten die Stimmung in dem stickigen Bus. Der Bus hielt und die Dame stieg aus. „Endlich wieder etwas Luft zum Atmen“, Nicolas grinste und zog sich seine schwarz-grau gestreifte Krawatte zurecht. Er genoss die ersten Besuche der Märzsonne, die seinen schwierigen Fall aus dem letzten Winter vergessen ließen. Dabei war auch seine über alles geliebte Christine, ein roter Oldtimer, zu Grunde gegangen. Hiroki Yahiro, sein japanischer Kollege hatte ihm den Händler Heimann empfohlen, ein Spezialist auf dem Gebiet für alte, gepflegte Sammlerstücke. Der Bus hielt an der nächsten Haltestelle und nun war Nicolas an der Reihe auszusteigen. Seine schwarzen Lackschuhe klackten auf dem gepflasterten Bürgersteig, als er den Weg zu seinem Ziel einschlug. Dort wartete ein weinroter Ford Mustang GT Fastback, die rote Farbe war Bedingung gewesen, auf seinen neuen Besitzer. Es handelte sich um ein Coupé aus dem Jahre 1968. „Tach och“, die Stimme kam von dem runtergekommenen Gebäude und ein beleibter Mann trat in Nicolas Blickfeld. „Guten Tag“, antwortete dieser und begutachtete kritisch die ölbefleckte Latzhose, in der sein Gegenüber steckte. „Mal wieder eener ausm Bonzen-Viertel“, sagte der Mann und kratzte sich an seinem kahlen Hinterkopf. „Ich möchte mein bestelltes Auto abholen, welches direkt neben uns steht“, Nicolas deutete mit seinem linken Arm auf den Sportwagen. „Ich wollte nicht unhöflich sein und wechsle mal wieder auf ihr Sprachniveau“, zusammen gingen die beiden auf das Auto zu. Die Tür wurde geöffnet und Nicolas nahm auf einem bequemen Ledersitz Platz. Beim Anblick des alten Armaturenbrettes und des hölzernen Lenkrandes, schlug sein Motorenherz höher. „Wie viel PS hat denn das gute Stück?“ fragte Nicolas, indem er das Gaspedal nach unten drückte und sich vorstellte, wie er mit diesem Gefährt über die Highways Amerikas jagte, wenn er das nächste Mal seinen Onkel besuchen würde. „504 PS. Dit is der Clou von’t Janze“, sagte der Mann im Blaumann wieder auf seine Berliner Art. Im Büro besprachen die beiden noch einige Details und füllten Formalien aus. „Dit is nu amtlich“, Nicolas bekam die Papiere in die Hand gedrückt und war stolzer Besitzer eines 60.000 Euro Wagens. Er steckte die Schlüssel in das Zündschloss und spürte wie die PS unter der Motohaube warteten, um endlich ausgetestet zu werden. Sein erstes Ziel, war ein alter Firmenkomplex, wo ein Polizeiseminar auf ihn wartete. Stolz lenkte er den neuen Wagen auf einen Sandplatz und kam neben einer Schrottkarre zum stehen. „Der Papagei hat einfach keinen Sinn für gute Autos“, kritisch beäugte Nicolas den blauen Kleinwagen, der seine besten Jahre schon lange überfahren hatte. Hinter ihm war ein Knirschen zu hören. „Na sieh mal einer an. Pünktlichkeit ist wie immer nicht Ihre Stärke und nächstes Mal lassen Sie bitte einen größeren Abstand zu meinem Auto, Sie wollen sich doch keinen Kratzer einfangen oder?“, der Papagei kam mit kurzen, schnellen Schritten auf Nicolas zu. Sein Haaransatz klebte an seiner Stirn und seine riesige, braune Kunstlederjacke ließ ihn lächerlich wirken. „Guten Morgen Herr Laumann, welch große Ehre Sie hier gleich als erstes anzutreffen“, sagte Nicolas spöttisch und folgte seinem Vorgesetzten in eines der riesigen Flachbauten, die sich auf dem Gelände breit gemacht hatten. Ellie und Hiroki waren bereits da und hatten für eine erste Versorgung mit Kaffee gesorgt. „Nicolas, da bist du ja endlich“, Ellie grinste und ihr war anzumerken, dass sie den Satz nicht ernst gemeint hatte. Sie war anscheinend froh, nicht mehr allein in der Gesellschaft der beiden anderen zu sein. Hiroki, den Nicolas immer den Japaner nannte, begrüßte ihn auf seine ruhige Art mit einem Kopfnicken. Langsam füllten auch die letzten Zuspätkommenden den kleinen Raum und das Team von der Mordkommission Berlin-Mitte nahm in der vorletzten Reihe Platz. Von dort aus hatte man einen guten Blick auf das kleine Podest im hinteren Drittel des Raumes. „Das kann ja noch ein toller und spannender Tag werden. Erst diese einschläfernden Reden und dann müssen wir noch eine Tatortsimulation über uns ergehen lassen“, raunte Ellie Nicolas zu und konnte eine breites Grinsen nicht unterdrücken. „Meine Damen und Herren. Mein Name ist Gerhard Kolmorgen von der Polizeigewerkschaft Berlin-Brandenburg und meine Kollegen und ich freuen uns, dass sie so zahlreich erschienen sind“. Der Begrüßungsrede folgten viele weitere Berichte und Verbesserungsvorschläge für die Ermittlungsarbeiten. Zahlreiche Kollegen schlossen sich mit ihren Reden an und Nicolas musste sich zwingen nicht einzuschlafen. An Ellie gewandt flüsterte er: „Wozu soll das alles gut sein? Mit theoretischem Gelaber kann man in der Praxis wenig anfangen und mehr Verbrecher werden wir dadurch auch nicht fassen können“. Er erntete ein zustimmendes Nicken, was mit einem lauten Gähnen vervollständigt wurde. Als Nächster war Herr Laumann an der Reihe, er hatte schon seit drei Wochen an diesem Vortrag gearbeitet und wollte damit alle Anwesenden von sich selbst überzeugen. Doch in seinem senfgelben Hemd, das mit irgendwelchen blauen, grünen und violetten Figuren versehen war, machte er nur eine klägliche Figur. Mit übertriebenem Händeklatschen schenkten Nicolas und Ellie ihm seinen Applaus, ehe er sich mit hochrotem Kopf zu ihnen setzte und den nächsten spannenden Vorträgen lauschte. Gegen halb zwei gab es eine kleine Mittagspause, in der belegte Brötchen und kleine Salate angeboten worden. Nicolas hatte keinen besonders großen Hunger und schnappte sich einen Apfel, den er draußen verzehrte. Am liebsten wäre er sofort in sein neues Auto gestiegen und von hier weggefahren. „Na, hat dein neues Prachtstück schon einen Namen?“, Ellie hatte sich von hinten angeschlichen und begutachtete das weinrote Gefährt. Nicolas schüttelte den Kopf und warf den Rest Apfel in den blauen Plastikmülleimer neben der Eingangstür. „Nenn sie doch Jessica, wie die Schauspielerin, die immer roten Lippenstift trägt.“ „Jessica. Das klingt gar nicht schlecht“, dachte Nicolas und nickte seiner Kollegin zu. „Sie sollten jetzt auch wieder reinkommen. Wir beginnen mit der Tatortsimulation und ihr Team ist schon nach oben gegangen“, Herr Kolmorgen hatte den Kopf aus der Tür gesteckt und die beiden Kommissare machten sich widerwillig auf den Weg. „Jetzt sind wir ja alle vollständig“, begrüßte sie ein Mann mit breitem Schnurrbart und Halbglatze. „Ich habe ihr Team bereits aufgeteilt. Frau Krone, Sie begeben sich zu Herrn Jahiro und Herr Abendstern geht bitte zu Herrn Laumann. Sie werden gleich in ein altes, abgedunkeltes Gebäude geführt, wo sie den Tatort untersuchen, während der Täter, den einer unser Kollegen spielt, sich noch im Haus befindet. Damit wollen wir sehen, wie Sie sich in dieser speziellen Situation verhalten und was daran zu verbessern ist.“ Ein kleiner Mann in schwarzem Anzug führte Nicolas und Herrn Laumann zu einem stickigen Gebäude auf dem hinteren Geländeteil. „So ab hier beginnt Ihre Aufgabe“, sagte er und öffnete die linke Tür in dem dunklen Eingangsflur. Mit Taschenlampen ausgerüstet, machten sich die beiden Kommissare getrennt auf den Weg. Herr Laumann suchte oben, während Nicolas unten blieb. Dunkle Gebäude hatten ihm noch nie behagt und er fuhr erschrocken zusammen, als er von irgendwo Schritte hörte. Langsam tastete er sich um die Ecke in den nächsten Raum, doch da war nichts. Wo war dieser verdammte Schauspiel-Täter nur? In dem dunklen Raum standen wenige Gegenstände und auch sonst war es jetzt ziemlich ruhig geworden. Eine Hand legte sich auf Nicolas Schulter und er drehte sich entsetzt um, nur um in das grinsende Gesicht des Papageis zu blicken. „Ich habe unseren Täter oben zur Strecke gebracht.“ „Passen Sie doch auf, ich hätte fast einen Herzinfarkt gekriegt“, fuhr er Herrn Laumann an. „Ganz ruhig“. „Ach vergessen Sie es!“, Nicolas wurde immer wütender. „Was ist los? Haben Sie Angst?“. „Ich habe kein Schiss, ja!“ „Natürlich haben Sie das“. „Was wollen Sie damit sagen? Wollen Sie sagen, dass ich ein Feigling bin?“, Nicolas stieß den Papagei von sich. „Spinnen Sie? Kommen Sie mal wieder runter!“. „Das muss ich mir von Ihnen nicht anhören! Sie reden doch nur Scheiße!“, mit schnellen Schritten stapfte Nicolas aus dem Haus und war froh wieder klare Luft zu atmen. Der Tag schien ja immer besser zu werden.
Das schrille Klingeln ihres hellblauen Weckers holte Svenja unsanft aus ihren Träumen. Sie hatte den alten Nostalgiewecker von ihrer Urgroßmutter vererbt bekommen und ließ sich nie ohne ihn wecken. Es war gerade einmal fünf Uhr morgens. Die meisten Berliner schliefen noch und nur wenige Vögel erfüllten den Morgen mit ihrem Gesang. Auf dem Bürgersteig schlurfte eine Gruppe von vier Jugendlichen vorbei, deren Tag anscheinend gerade zu Ende gegangen war. Seufzend begab sich Svenja zu ihrem Kleiderschrank. Mehr als zwanzig Minuten vergingen, bei der verzweifelten Suche nach dem richtigen Outfit. Schließlich hielt sie eine braune Chino-Hose und eine schwarz-weiße Bluse mit bedruckten Punkten in den Händen. Nach einer kurzen Dusche im Badezimmer, trug sie sich wie immer dezentes Make-up auf und flocht sich, wie fast jeden Morgen einen Bauernzopf. Danach ging sie in ihre enge, weiß gestrichene Küche und füllte sich eine Schale Müsli ein, die sie anschließend mit Milch aufschwemmte. Sie setzte sich an einen Tisch aus Milchglas, dessen Beine aus chromfarbenen Metall waren. Um den Tisch reihten sich bunte Stühle, deren Sitzschalen in grün, orange, rot und rauchgrau leuchteten. Sie fühlte sich in ihrer kleinen Wohnung unglaublich wohl und war froh, dass ihre Eltern ihr bei der Finanzierung der Einrichtung unter die Arme gegriffen hatten. Wenn man andere Studentenbuden sah, so wirkte ihre eher wie die einer ganz normalen berufstätigen, jungen Frau. Um richtig wach zu werden, machte sie sich noch einen Milchkaffee oder „Café au Lait“, wie ihre Mutter immer zu sagen pflegte und setzte dem Getränk eine riesige Schaumkrone auf. Anschließend schnappte sie sich aus dem Wohnzimmer, ihre extra neu gekaufte, royalblaue Beuteltasche aus Rind-Veloursleder. Beim Verlassen ihrer Wohnung zog sie sich noch einen schwarzen Blazer über und schlüpfte in ein Paar Mokassins in taupe. Sie bahnte sich einen Weg durch die inzwischen überfüllten Straßen und steuerte auf den U-Bahnhof in ihrer Nähe zu. In der Friedrichstraße musste sie in die U6 steigen, um nach Wedding zu kommen. Die Menschen waren mal wieder in so große Hektik geraten, dass sie aufpassen musste nicht wie eine Fliege zerquetscht zu werden. Zusammen mit einer Schar von Schülern machte sich Svenja auf den Weg zur Ernst-Schering-Schule. Die Schüler wurden in einem cremefarbenen Altbau untergebracht. Das Leuten der Schulglocke ließ Svenja daran erinnern, dass sie sich noch im Sekretariat bei einer Frau Samonte anmelden musste. Eine Gruppe Jugendlicher, die am Schulausgang gelungert hatten, drückten ihre Zigaretten aus und gingen ohne einen Blick auf das Schild „Rauchen verboten“ zu werfen, auf den Schulhof. Lediglich eine kleine Gruppe aus Punkern, blieb auf der Steinmauer sitzen, die das große Gelände umgab. Svenja beschloss einen zu fragen, wo sie sich hinzubegeben hatte. Sie trat näher an die drei Jungs heran und erntete misstrauische Blicke. „Was willste? Vielleicht auch ne Kippe? Aber ne, dafür bist de dir bestimmt zu Schade oder?“, fragte sie einer, dessen Kopf ein orangener Irokesenschnitt zierte und an dessen Augenbrauen und Lippen jede Menge Piercings aufgereiht waren. In seiner linken Hand, qualmte eine Kippe und ließ Asche zu Boden fallen. Svenja konnte gedämpfte Punkmusik hören, die aus den Kopfhörern drang, die er sich um den Hals gelegt hatte. „Nein danke. Eigentlich wollte ich nur fragen, ob ihr mir sagen könntet, wo ich das Sekretariat finden kann“. Der Punk wollte gerade etwas erwidern, als er von einem seiner Kumpels unterbrochen wurde. „Sie müssen einfach den Schulhof überqueren, dann die Tür ganz links nehmen, von der aus einmal um die Ecke und dann die Treppe nach oben in den ersten Stock. „Danke, geht doch“, sagte Svenja und schenkte den Punkern ein bezauberndes Lächeln, wobei ihr Blick extra lange auf dem Unfreundlichen von ihnen hängen blieb. Dieser schmiss ärgerlich seine Kippe zu Boden und drückte sie mit seinen schwarzen Springerstiefeln aus. Svenja begab sich auf den großen Schulhof, der mit normalen Steinplatten belegt war und an dessen Ecken jeweils Holzbänke um einen Baum standen. Sie steuerte auf die linke Tür zu. Doch bevor sie diese erreichte, weckten weiße Kreidepfeile ihr Interesse. Hatten sich die Schüler einen Spaß mit ihr erlaubt, denn die Pfeile sahen so aus, als wären sie ebengerade erst gezeichnet worden. Neugierig folgte sie den Pfeilen, die sie in eine abgelegene Ecke des Schulhofes führten. Auf der rechten Seite stand eine kleine Überdachung, die durch eine Fülle an Fahrrädern schon fast überquoll. Die Pfeile liefen jedoch daran vorbei und direkt auf eine kleine Backsteinmauer zu. Svenja wurde mulmig zu Mute. „Was mache ich hier eigentlich? Folge irgendwelchen Pfeilen auf einem völlig fremden Gelände. Ich sollte schon längst in einem Klassenraum stehen und meinen Unterricht vorstellen“, schalt sie sich selbst. Sie wollte umdrehen, doch irgendetwas in ihr kämpfte dagegen und so machte sie noch ein paar Schritte auf die Mauer zu und guckte um die Ecke. Dort standen, drei eiserne Müllcontainer und zwischen ihnen lag eine Gestalt. Svenja trat näher und erkannte erschrocken einen hellblonden Schüler in einer schwarzen Biker-Jacke. „Hallo, kannst du mich hören?“, Svenja bückte sich zu dem anscheinend bewusstlosen Jungen und schlug ihm gegen beide Wangen. Diese waren eiskalt und mit anhaltendem Atem stellte sie Abschnürungen an seinem Hals fest, als sie seinen Puls prüfen wollte. Doch diesen konnte sie nicht mehr feststellen, der Junge war tot. Ein spitzer Schrei entsprang ihrer Kehle und sie rannte, ohne wirklich zu wissen wohin, auf die nächstgelegene Tür zu. Fast wäre sie mit einem jungen Mann zusammengestoßen. „Passen Sie doch auf“, wollte er sie anfahren, doch als er Svenjas bleiches Gesicht sah fragte er nur: „Was ist mit Ihnen passiert? Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?“. Svenja fand kaum Worte und zeigte mit ihrem zitternden Zeigefinger in die Richtung, aus der sie gekommen war. „Bei dden Müllttonen liegtt ein TTotter“, stotterte sie. Der Mann nahm sie bei Seite und rannte selbst nach draußen, um nachzusehen. Er kann ebenso bleich zurück und zusammen machten sie sich auf den Weg zum Sekretariat. Frau Samonte würdigte sie mit einem missbilligenden Blick, als sie ohne anzuklopfen in das Zimmer stürmten. „Ich muss die Polizei rufen, Sabine“, sagte der junge Mann und strich sich die schwarzen Strähnen aus dem Gesicht, die ihm nass auf der Stirn klebten. Frau Samonte half Svenja auf einen Stuhl und benachrichtigte den Hausmeister, damit nicht noch mehr Leute diesen grausamen Anblick sehen mussten. „Weißt du wer er ist, Daniel?“, fragte sie, nachdem dieser sein Telefonat beendet hatte. Er schüttelte nur den Kopf und ließ sich neben Svenja auf einen der bequemen Korbsessel sinken. Nach einer halben Ewigkeit und bedrückendem Schweigen im Büro, war Sirenengeräusch zu hören. Die Ecke um den Mülleimer wurde, abgesperrt und die Schüler fürs erste im Unterricht gelassen, damit keine Massenpanik ausbrach. Der Hausmeister klopfte an die Tür und bat Svenja mit ihm zu kommen. Widerwillig erhob sie sich und folgte ihm durch das bunt bemalte Treppenhaus, das ihr auf dem Hinweg überhaupt nicht aufgefallen war. „Wie auch? Du hattest gerade in das Gesicht einer Leiche geguckt“, bevor sie wieder hysterisch werden konnte, wurde sie von zwei Polizisten in Empfang genommen. „Kommissarin Ellie Krone und das ist mein Kollege Nicolas Abendstern“, begrüßten sie die beiden, die einen sympathischen Eindruck machten. „Frau…?“, begann der Mann und steckte seine Hände verlegen in die Manteltaschen. „Svenja Christensen“, gab sie ihm als Antwort, worauf die beiden ihr schließlich die Hand gaben. „Wollen wir uns irgendwo setzten?“, fragte jetzt wieder die Frau, nickt ihrem Kollegen zu und die drei begaben sich in einen leeren Klassenraum. Svenja war froh sich hinsetzten zu können, denn ihre Beine waren immer noch wie aus Gummi. „Sie haben den Toten gefunden?“, fragte der Kommissar und schenkte ihr einen mitfühlenden Blick. „Ja ich sollte heute mein Praktikum hier beginnen und dann bin ich diesen Pfeilen gefolgt…dann lag er da...tot“. Das Wort „tot“, schien wie ein Echo den Raum zu füllen und verursachte bei allen Anwesenden ein Frösteln. „Also kannten sie den Jungen nicht?“, fragte die Frau und strich ihr mit der Hand beruhigend auf den Rücken. Svenja gab ein Kopfschütteln von sich und wünschte sich, sie wäre den Pfeilen nicht gefolgt. Aber was hätte das geändert, der Junge wäre so oder so tot gewesen.
Die Nachricht vom Fund des Jungen erreichte die Kommissare, als sie gemütlich bei einer Tasse frisch gebrühten Kaffees saßen und einen gemächlichen Einstieg in den Arbeitstag erwarteten. Kommissar Laumann machte sich sofort auf den Weg und forderte seine Kollegen Nicolas und Ellie auf, mitzukommen. Entnervt, wegen des erdrückenden Stadtverkehrs machten sie sich auf den Weg. Am Tatort angekommen, hatten bereits die KTU und Doktor Baumert, verantwortlich für forensische Medizin, auf sie gewartet. Nicolas und Ellie machten sich auf den Weg, die junge Frau zu befragen, die den Toten entdeckt hatte. Sie sah sehr mitgenommen aus, stand immer noch unter einem großen Schock, fühlte sich aber in der Lage, das Verhör mit ihnen zu führen. Sie stellte sich als Svenja Christensen vor, die heute eigentlich ihren ersten Praktikumstag antreten sollte. Sie kannte den jungen Schüler nicht und sollte sich bei ihnen melden, wenn ihr noch irgendetwas einfiel. So machten sich die zwei, etwas enttäuscht auf den Weg zur Fundstelle, wo Herr Laumann gerade einen KTU-Kollegen zurechtwies, seine Arbeit gründlicher zu erledigen. „Hier rummeckern und selbst nichts auf die Reihe kriegen. Der Papagei plappert doch auch nur alles nach, was ihm gesagt wird“, dachte Nicolas und knöpfte sich den obersten Knopf seines Mantels zu, weil ihm plötzlich ein Kälteschauer über den Rücken lief. Ellie fasste seinen Ärmel und gab ein Keuchen von sich, als sie sich über das Opfer beugten. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, seine Haut so weiß wie der Schnee, der Nicolas an den langen Winter erinnern ließ. Doktor Baumert drehte sich um, streifte sich die Gummihandschuhe ab und rückte seine Brille gerade, aus der er sie allwissend anstarrte. „Todeszeitpunkt?“, kam es vom Papagei, der einen missbilligenden Blick des Doktors erntete und sich daraufhin wieder auf den Schulhof begab. „Ich kann noch keine 100 prozentigen Aussagen machen, aber es sieht so aus als wäre der arme Kerl noch nicht lange tot gewesen, bevor er entdeckt wurde. Ich schätze höchsten zwanzig Minuten, also etwa gegen halb acht.“ Ellie nickte und wollte den Mund gerade öffnen, als Doktor Baumert ihr mit einem vernichtenden Blick klarmachte, wer hier das Sagen hatte. „Der junge Mann wurde erdrosselt. Das sieht man an den punktförmigen Unterblutungen der Augenschleimhaut und im Halsbereich. Weiteres kann ich erst nach der Obduktion sagen.“ „Gab es Abwehrspuren?“, wollte Nicolas wissen. „Soweit ich das beurteilen kann, wurde er von hinten überrascht und hat zwar noch versucht sich zu wehren, was man an ein paar wenigen Kratzspuren an seinen Fingerkuppen sehen kann“. Doktor Baumert hob seinen Arm und winkte einem Kollegen von der Bestattung zu. Dieser hob zusammen mit seinem Kollegen einen Sarg auf und gemeinsam schleppten sie ihn zwischen die Müllcontainer. „Ihr könnt ihn von hier wegschaffen, bei mir hat er es eh gemütlicher“, gab Baumert von sich und grinste Ellie an, die nur genervt mit den Augen rollte und sich von ihm abwand. Auch Nicolas machte sich bereit zum Gehen und warf noch einen letzten Blick auf den Jungen. Da ragte etwas Weißes aus der Tasche. Er zog sich Gummihandschuhe über und zog den cremefarbenen Zettel, der sorgsam zusammengefaltet war, aus der linken Tasche der Biker-Jacke. Drei Worte stachen ihm ins Auge. In feinsäuberlicher Schrift stand in Druckbuchstaben geschrieben „Du bist Dreck“. Doktor Baumert gab einen Pfiff von sich: „Da lag er ja gerade richtig zwischen den Mülltonnen. „Jetzt reicht es mit ihrem schwarzen Humor“, fuhr Ellie, die auch wieder umgekehrt war, den Rechtsmediziner an. „Wie Sie über die Opfer reden, das ist einfach unmenschlich. Mit so wenig Respekt. Haben Sie denn überhaupt kein Gewissen?“. Geschockt über diese Wahrheit riss der Angeklagte Nicolas den Zettel aus der Hand, stopfte ihn in einen kleinen Plastikbeutel und stolzierte ohne eines weiteren Blickes davon. Die beiden Männer vom Bestattungsdienst deckten die Leiche mit einem weißen Tuch ab, verfrachteten sie in den lieblosen Kasten und machten sich auch auf den Weg. Ellie und Nicolas blieben alleine zurück. Ein kalter Windzug strich durch ihre Haare. In den letzten Tagen war es übernatürlich warm gewesen, doch jetzt schien es eher, als wollte der Winter wieder Einzug in Berlin halten. Mit einem letzten Blick wandten sie sich ab und gingen davon. Sie steuerten gerade auf den Parkplatz zu, als sie eilige Schritte hinter sich hörten. Es war Frau Christensen, die mit geröteten Wangen und hastigem Atem hinter ihnen zum Stehen kam. Ihr geflochtener Bauernzopf war aufgegangen und ihre blonden Strähnen verteilten sich auf der schmalen Schulter. „Mir ist doch noch etwas eingefallen“. Die Kommissare schauten sie neugierig an. „Als ich das Schulgelände betreten habe, habe ich nach dem Weg gefragt und zwar eine Gruppe von drei Punkern, die an der Mauer am Schuleingang herumgelungert haben. Die könnten vielleicht etwas gesehen haben“. „Wissen Sie noch wie die drei aussahen?“, fragte Ellie und ärgerte sich gleich über diese dumme Frage. „Wie Punker eben. Der eine hatte einen orangenen Irokesen, der zweite hatte kurz-rasierte Haare und der andere eine schwarze Wollmütze. Alle waren gepierct, trugen schwarze Kleidung und Springerstiefel.“ „Gut, dann werden wir mal im Sekretariat nachfragen, ob man uns die Namen der drei geben kann“, antwortete Ellie. Der laute Gong der Pausenglocke bereitete sich über dem Schulhof aus. Die Türen wurden geöffnet, um die Menschenmassen aus dem Gebäude fliehen zu lassen. Bis jetzt hatte sich der Fund des Toten anscheinend noch nicht herum gesprochen, denn die Schüler verhielten sich ganz normal. Hier eine Gruppe von Mädchen, die über ihre Geheimnisse flüsterten, und da ein paar Jungs, die ihren Freunden mit irgendwelchen Sprüngen auf die Bänke und Mauern beweisen mussten, dass sie was draufhatten. „Da vorne kommen sie!“, rief Frau Christensen und gestikulierte wild mit den Armen. Leider zu auffällig, sodass die Punker aufmerksam wurden und versuchten schnellen Schrittes davonzukommen. „Scheiße, die Bullen“, rief der mit dem Kahlkopf und sputete sich, seinen Freunden zu folgen. Doch auch Nicolas machte sich in Bewegung und hatte sich schon bald an die Fersen der Punker geheftet. Erschrocken drehte sich der mit der Wollmütze um, sodass diese ihm fast in die dunklen Augen rutschte. „Stehen geblieben“, schrie Nicolas und erntete die gesamte Aufmerksamkeit der anwesenden Schüler. „Ich habe nur ein paar Fragen“. Der Junge mit der Mütze blieb stehen, während die anderen noch einmal an Tempo zulegten und hinter der Schulmauer verschwanden. Mit einem eingeschüchterten Blick kam der etwa 17-Jährige auf Nicolas zu. Er hatte eigentlich ein ganz hübsches Gesicht, was aber von den vielen Piercings zunichte gemacht wurde. „Olaf Gade. Was gibt’s?“, fragte er mit einer tiefen Stimme. „Der raucht wohl schon seit er zwölf ist“, dachte Nicolas und musterte den Jungen. „Am besten wir besprechen alles weitere auf unserem Präsidium“. „Auf dem Präsidium.?Aber was sollen wir denn gemacht haben?“, verzweifelt zog sich der Punk seine Mütze vom Kopf, die ein Gewusel, an braunen Haaren offenbarte. „Wir wollten uns ganz normal unterhalten und ihr macht euch einfach aus dem Staub. Heute Morgen ist hier etwas Schreckliches passiert und wir wollten euch einfach nur fragen, ob ihr etwas gesehen habt“, Nicolas Stimme bekam einen anklagenden Ton, den er gar nicht so beabsichtigt hatte. Ellie hatte sich inzwischen von Frau Christenesen verabschiedet und kam jetzt auf ihren Kollegen zu. „Wo sind denn deine zwei netten Freunde hin? Haben sie dich etwa im Stich gelassen?“, Ellie funkelte den jungen Punk an, sodass dieser umso mehr verlegen zu Boden guckte. „Ok. Ich komme ja mit, aber ich schwöre, ich habe damit nichts zu tun“. Nicolas packte Olaf am Oberarm und folgte Ellie auf dem Weg zum Parkplatz. Sie verfrachteten den Jungen auf dem Rücksitz und stiegen vorne ein. „Was ist denn eigentlich passiert?“. „Ein Schüler wurde tot aufgefunden“, sagte Ellie und an Nicolas gewandt flüsterte sie: „Unser guter Herr Laumann, der sich zusammen mit Baumert natürlich schon verzogen hat, hat mir gerade gesimst. Bei dem Jungen handelt es sich um einen norwegischen Austauschschüler. Sein Name war Len Andersson und er hat gerade an einem Austauschprojekt zwischen Berlin und Oslo teilgenommen.“ „Ich bin aber kein Mörder. Ich kannte den Typen überhaupt nicht.“ „Jetzt wirst du ihn auch nicht mehr kennenlernen“, gab Nicolas grob zurück und merkte, dass seine Geduld am Ende war.
Es war Dienstagmorgen und einer dieser Tage, an denen man lieber liegen geblieben wäre und sich die Decke über den Kopf gezogen hätte. Draußen herrschte kühles Frühlingswetter und der Regen peitschte große, dicke Regentropfen gegen die Fensterscheiben. Svenja Christensen hatte die ganz Nacht über kaum ein Auge zubekommen. Die ganze Zeit schwirrten ihr Bilder des toten Jungen im Kopf herum. Das bleiche Gesicht starrte sie mit hohlen Augen und einem Blick, der von Wahnsinn gezeichnet war, an. Sie war froh, als ihr alter Wecker endlich klingelte und sie irgendetwas tun konnte, anstatt ständig über das Geschehene nachzugrübeln. Mit schweren Gliedern erhob sie sich und warf einen Blick in den weiß eingerahmten Standspiegel, der neben ihrem Kleiderschrank stand. Ihre zerzausten Haare standen ihr wirr in alle Richtungen und sie selbst war ebenso bleich wie die Leiche von gestern. Svenja schauderte und wendete den Blick ab. Gestern Abend hatte Frau Samonte, die Sekretärin der Ernst-Schering-Schule, bei ihr angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie sich nach dem schrecklichen Ereignis ruhig ein paar Tage ausruhen sollte. Außerdem hatte sie gesagt, dass Svenja sich auch eine andere Schule suchen könnte, wenn sie nicht damit klarkommen würde, jeden Tag an den schrecklichen Mord erinnert zu werden. Doch den Gefallen würde sie dem Mörder nicht tun. Sie hatte beschlossen heute frei zu machen und morgen mit dem Praktikum zu beginnen. Svenja machte sich fertig und trottete in die Küche. Sie spürte, dass ihr Magen knurrte, was auch kein Wunder war, da sie seit gestern Morgen nichts mehr runter bekommen hatte. Sie sehnte sich nach frisch gebackenen, noch warmen Brötchen und einem Milchkaffee. Also beschloss sie noch schnell ein paar Besorgungen beim Kiosk zu machen. Sie spannte sich ihren rot-gepunkteten Regenschirm auf und eilte über die nassen Fußwege die Straßen entlang. Der kleine Laden lag nur wenige Minuten vom Unigelände entfernt und war wie immer gut besucht. Viele holten sich auf dem Weg zur Arbeit noch etwas zur Verstärkung und die Studenten holten sich einen Coffee To Go, um den stressigen Unialltag durchzustehen. Auf den Pappbechern waren lustige Skizzen wie schimpfende Lehrer mit erhobenem Zeigefinger und dicker Hornbrille zu sehen. Svenja öffnete die kleine Glastür und quetschte sich an einer beleibten Dame vorbei, die an einem der Standtische gerade ein Mettbrötchen verzehrte und einen Blick in die Zeitung warf. Es war die Berliner Morgenpost und die Titelseite zierte die Ernst-Schering-Schule, eingetaucht in ein Lichtermeer aus Polizeisirenen und weißen Personen, die den Tatort zwischen den Mülltonnen untersuchten. Svenja fühlte sich in den gestrigen Tag zurückversetzt und ein leichtes Zittern übernahm die Kontrolle ihres Körpers. „Darf ich mal?“, fragte Svenja die Frau und deutete auf die Zeitung. Diese biss noch ein großes Stück des Mettbrötchens ab und übergab ihr wortlos die Berliner Morgenpost. „Norwegischer Austauschschüler tot zwischen zwei Mülltonnen gefunden worden“, titelte der lange Artikel. Svenja überflog ihn kurz und begann zu frösteln. Der Junge kam aus Norwegen, genau wie sie. „Das ist bestimmt nur ein blöder Zufall“, kopfschüttelnd wandte sie sich ab und musste unwillkürlich an ihre kleine Nichte Freya denken. Sie würde ihr nachher auf jeden Fall noch einen Besuch abstatten, was sie gestern nicht mehr geschafft hatte. Bevor Svenja sich zu den vielen Leuten, gesellte, die darauf warteten ihre Bestellungen abzugeben, drehte sie sich doch noch einmal zu der dicken Frau um, die jetzt fluchend zwischen ihren Zähnen rumstocherte, weil sich etwas vom Mett verfangen hatte. Unter der fetten Überschrift des Berichtes, verbarg sich noch eine kleingeschriebene, die ihr eben gar nicht aufgefallen war. „Warum musste Len A. sterben?“, die Frage breitete sich in Svenjas Kopf aus und sie fühlte sich gezwungen sie zu beantworten, was sie natürlich nicht konnte. Die Schlange vor ihr begann zu schrumpfen und bald war sie an der Reihe, sich eine Tüte Brötchen, ein Pfund Butter und einen Milchkaffee zu kaufen. Draußen regnete es noch immer und die Tropfen fielen unaufhörlich auf den Berliner Asphalt, wo sie sich zu großen Pfützen zusammenschlossen. Zu Hause angekommen, holte Svenja Teller, Messer und Gabel, legte sie auf den Glastisch und setzte sich. Mit gefülltem Magen machte sie sich an die Arbeit, die sich schon auf ihrem Schreibtisch stapelte. Sie hatte sich gerade gesetzt, als ihr Faxgerät ein Brummen von sich gab und einen weißen Zettel ausspuckte. Das Fax war von Daniel Pietsch. Der junge Mann, der gerade erst sein Referendariat beendet und an der Schule angefangen hatte, kümmerte sich um die Praktikantinnen. Er fragte noch einmal wie es ihr ging, wobei man aus den Zeilen lesen konnte, dass auch er selbst noch ziemlich unter Schock stand. Ab morgen würde sie die 11a in Deutsch unterrichten. Sie brauchte ziemlich lange, um die richtigen Worte für eine passende Antwort zu finden, ehe sie zurückfaxte. Svenja suchte nach Unterrichtsmaterialien für die Oberstufe, die sie von ihrem leitenden Professor zur Verfügung gestellt bekommen hatte. In der 11. Klasse beschäftigte man sich mit der Literaturgeschichte und auch Herr Pietsch hatte geschrieben, dass sich die 11a gerade mit Texten aus der griechischem Mythologie auseinandersetze. Ein Thema, was Svenja zu ihrer Schulzeit ebenso gehasst hatte, wie es die 11a morgen tun würde. „Was tut man nicht alles, um sein Abi zu machen?“, fragte sie sich und entschied sich für einen Text aus der Medea. Schnell tippte sie ihren Unterrichtsplan ab und teilte ihn in unterschiedliche Zeitperioden ein. Die ersten neunzig Minuten würden entscheidend sein, um einen guten Eindruck bei den Schülern zu hinterlassen. Vor den Fenstern ihrer Wohnung bereitete sich bereits die Dämmerung aus, als sie sich auf den Weg zu ihrer Schwester nach Wedding machte. Die meisten Fenster des roten Holzhauses waren hell erleuchtet, als sie sich durch das kleine Gartentor schlängelte und an der Haustür klingelte. Ein Kindergeschrei war zu hören, anscheinend war Freya noch nicht im Bett. Die Tür wurde geöffnet und Marcel, Ylvas Mann, schaute sie aus seinen dunklen, müden Augen an. „Svenja, was für eine Überraschung. Mit dir hätte ich heute gar nicht gerechnet. Wie geht es dir? Ylva hat mir erzählt, was dir passiert ist“. Dieser Wasserfall an Worten war typisch für Marcel, gerade dann, wenn die Leute noch nicht einmal im Haus waren. „Ich bin zwar immer noch etwas geschockt und kann gar nicht richtig glauben, was da passiert ist. Aber es geht schon“, mit einem Nicken führte Marcel sie ins Wohnzimmer. „Tante Svenja“, Freya tapste in ihren pinken Plüschsocken auf Svenja zu und umklammerte mit ihren kurzen Armen ihre Beine. Das ganze Wohnzimmer war mit bunten Holzbauklötzen und Puppensachen übersät. „Wo ist denn Ylva?“, wollte Svenja wissen. „Die sitzt immer noch in München, es gab da irgendwelche Probleme“, sagte Marcel kurz angebunden, was darauf schließen ließ, dass sich die beiden mal wieder gestritten hatten. „Ich kann Freya ins Bett bringen, wenn du willst?“ „Marcel nickte dankbar und verschwand wortlos in der Küche. „Na, meine Kleine, es ist Zeit ins Bettchen zu gehen.“, Svenja nahm ihre Nichte hoch und erklomm die Treppen nach oben. „Ich will aber noch nicht schlafen. Bei Papi darf ich immer so lange aufbleiben“, protestierte Freya und strampelte mit ihren Beinen. „Aber sonst verpassen wir den Sandmann und du kannst gar nicht mehr schlafen“. „Wirklich nicht?“ „Nein, also ab mit dir ins Bett!“. Svenja half Ylva in ihren rosafarbenen Pyjama, auf dem Einhörner um die Wette ritten und legte sie in ihr Bett ab Zum Einschlafen sang sie ihr wieder das norwegische Schlaflied vor und wartete, bis ein leises Schnarchen von Freya zu hören war. Unten breitete sich der Geruch von Eintopf aus. „Hast du selber gekocht?“, neugierig streckte Svenja einen Kopf in die Küche. „Nein, ist aus der Dose, aber wenn du willst, kannst du eine Kelle abhaben.“ Svenja stimmte zu und bald drauf saßen sie in den weichen Korbsesseln und schlürften den Gemüseeintopf. „Weißt du wann Ylva wiederkommt?“, fragte Svenja. „Sie wollte sich morgen früh auf den Weg machen, wenn alles in München geklärt ist“, gab Marcel als Antwort. „Und du willst wirklich das Praktikum an der Schule durchführen, nach allem was gestern passiert ist?“, fügte er hinzu. „Mhm“, gab Svenja von sich und beobachtete einen schwarzen Schatten, der am Fenster vorbeiflog. Bei genauerem Hinsehen konnte sie erkennen, dass es ein Rabe war, der sich auf den Zaun der Veranda gesetzt hatte und sie wusste, was er brachte. Unglück.
“All my friends know the low rider. The low rider is a little higher. The low rider drives a little slower. Low rider, is a real goer”, singend tippte Nicolas mit dem Zeigefinger auf sein Lenkrad und steuerte eine heruntergekommene Tankstelle an. „Jedenfalls ist der Benzinpreis hier etwas billiger“, grummelte Nicolas als er neben der Zapfsäule zum Stehen kam. Jessica war eine richtige Spritfresserin und würde auf Dauer ganz schön teuer werden. „Na, meine Gute, für dich gibt es natürlich nur das gute Super Plus“, Nicolas ließ den Tank voll laufen und wappnete sich für die anstehende Bezahlung. Auf dem Weg zur Kasse fielen seine Blicke auf die Zeitschriften. Auf den meisten Berliner Zeitungen wurde vom gestrigen Mord berichtet. „Die Presse ist leider auch immer sofort zur Stelle“, Nicolas schnappte sich eine Packung Pfefferminzkaugummis und legte das Geld für die neue Spritladung hin, die der Tankstellenwart, dessen Zähne jeglichen weißen Glanz verloren hatten, dankend entgegen nahm. Draußen wurde Nicolas von einem heftigen Regenschauer begrüßt, der den Benzingeruch an der Tankstelle noch intensiver werden ließ. Schnellen Schrittes eilte er zu seinem Wagen und fuhr wenige Augenblicke später schon wieder inmitten des Berliner Morgenverkehrs. Allmählich hatte er sich an die langen Staus, die vielen Baustellen und die unverschämten Drängler gewöhnt. Er stellte seinen Oldtimer in der Tiefgarage des Polizeipräsidiums ab. Der Geländewagen von Ellie und die Schrottkiste seines Vorgesetzten waren bereits da. Dementsprechend verbreitete sich im Großraumbüro schon ein leckerer Duft nach frisch gekochtem Kaffee. Auch ein Duft von Kamille mischte sich dazu. Ellie saß mit einer geröteten Nase und einem dicken Wollschal vor einem Berg aus weißen Papiertaschentüchern. „Hallo Nicolas“, krächzte sie und schnäuzte sich die Nase. „Ellie, du siehst ja gar nicht gut aus. Was hast du dir jetzt schon wieder eingefangen?“ „Ach geht schon. Ist alles halb so wild.“ Ellie versuchte ein besonders fit aussehendes Gesicht zu machen, woraufhin sie von einem heftigen Niesanfall geplagt wurde. „So viel zum Thema fit. Du gehst jetzt mal schön nach Hause und siehst zu, dass du bald wieder fit wirst. Wir brauchen dich hier schließlich und zwar gesund“, sagte Nicolas und deutet mit einem Arm auf die Tür. Widerwillig sammelte Ellie ihren Berg aus Taschentüchern ein und entsorgte ihn im Mülleimer. „Aber nur weil du das sagst. Und morgen bin ich wieder zurück“ konterte sie und zog eine Schnute, die sie wie ein kleines Kind aussehen ließ. Nicolas musste lächeln. Er hatte großes Glück gehabt eine Kollegin wie sie zu bekommen, mit einem zweiten Laumann an der Seite, wäre er wohl schon längst in eine andere Stadt gezogen. „Gute Besserung“, rief er Ellie nach, als diese das Büro verließ. Nicolas holte sich einen Becher Kaffee und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er summte immer noch das Lied „Low Rider“ vor sich hin, als Herr Laumann das Büro betrat. „Was soll das hier werden? Eine Show für Gesangstalente oder was?“, begrüßte dieser seinen Kollegen und prüfte kritisch dessen makellos weißes Hemd, dessen Knöpfe von einer dunkelblau karierten Krawatte bedeckt wurden. „Nein, das wird sicher kein Talentwettbewerb im Singen“, gab Nicolas zurück und stellte sich schmunzelnd vor, wie der Papagei schräge Töne in ein Mikrophon zwitscherte und dabei ausgebuht wurde. „Da bin ich ja beruhigt. Eigentlich sollten Sie ja mit der Frau Krone zum Austauschpartner des Toten fahren, aber wie ich sehe haben Sie diese ja schon nach Hause geschickt. Würde ich wegen jedes kleinen Schnupfens zu Hause bleiben, würde hier gar nichts mehr laufen.“ „Ich kann mit Nicolas dorthin fahren“, Hiroki hatte das Büro betreten. „In Ordnung, ich kümmere mich indessen um die Benachrichtigung der Eltern in Norwegen. Auch toll, wenn der Sohn ins Ausland geht und nie wieder zurückkommt. Jedenfalls nicht lebend, sondern als Leiche und mausetot.“ Nicolas funkelte den Papagei böse an, riss seinen Mantel von der Stuhllehne und verließ das Büro. Der Weg zu Timo Moritz begann mit Schweigen, das Hiroki schließlich unterbrach: „Konntet ihr gestern noch etwas aus diesem Punker herausbekommen?“ „Nein, leider nicht viel. Der Junge meinte nur, dass er und seine Freunde nichts weiter gesehen haben, als die junge Frau, die sie nach dem Weg fragte“. „Aber, du glaubst ihm nicht oder?“, fragte der Japaner und zog seine Augenbrauen zusammen. „Nein, die wissen irgendwas, aber bevor wir die anderen Namen nicht wissen, kommen wir nicht weiter. Olaf Gade mussten wir deswegen freilassen“. Familie Moritz wohnte in einer farblosen Blockhausgegend in Wedding. Die beiden Kommissare klingelten und wurden vom Schüler persönlich hereingelassen. „Nicolas Abendstern. Das ist mein Kollege Hiroki Yahiro“, die beiden traten in die dunkle Wohnung. „Sie sind bestimmt wegen Len hier“, die Augen des Jungen bekamen einen traurigen Ausdruck. In der Schule hatte man ihnen gesagt, dass man ihm extra eine Woche freigegeben hatte, um sich von dem Schock zu erholen. Anscheinend hatten sich die zwei gut verstanden. „Timo, wer ist denn da?“, kam es anklagend aus einem benachbarten Raum. „Es ist die Polizei Mama, sie sind wegen Len hier“. „Kommen Sie, Sie wollen bestimmt sein Zimmer sehen“ fügte er hinzu und sah mit seinen dunklen, kurzen Haaren aus wie ein kleiner, verlorener Junge. Die Kommissare nickten und folgten ihm. „Len hat bei mir geschlafen, weil wir sonst nicht genug Platz haben. Wir haben ihm ein kleines Bett hergerichtet und eine Ecke freigeräumt, damit er seine Sachen dort abstellen kann“. So nüchtern wie der Junge sprach, klang er fast wie ein Politiker. Das Zimmer war mit klapprigen Möbeln ausgestattet. An der einen Wand stand ein großer Wandschrank, daneben das Bett des Jungen und auf der anderen lag die Matratze, auf der Len geschlafen hatte. Das Bettzeug war noch gemacht, so als wartete es darauf, einem Menschen einen warmen Platz für die Nacht zu gewähren. „Guten Tag, die Herren. Ich bin Martina Moritz und ich kann das alles immer noch nicht fassen“, freundlich streckte sie den beiden die Hand aus und erntet einen genervten Blick ihres Sohnes. „Hast du den beiden Kommissaren wenigsten etwas zu Trinken angeboten?“, fuhr sie fort. „Danke, aber wir möchten nichts“, kam Nicolas Timo zu Hilfe, der schon rot angelaufen war. „Seid ihr zwei gestern gar nicht zusammen zur Schule gekommen?“, wollte Hiroki wissen. „Doch, wir sind jeden Tag gemeinsam gekommen. Len wollte gestern nur noch eine mit seinen Kumpels aus Norwegen rauchen und ich bin dann schon mal vorgegangen“. Nicolas warf einen Blick auf die wenigen Sachen, die Len von zu Hause mitgenommen hatte. Eine schwarze Reisetasche und eine silberne Metallbox waren anscheinend seine einzigen Reisebegleiter gewesen. „Wie lange wollte Len denn noch hier bleiben?“. „Am Freitag sollte der Austausch beendet sein. Timo war ja bereits im Herbst in Oslo und hat dort Lens Familie besucht. Großer Gott, die Armen. Wissen die denn schon Bescheid?“, fragend schaute Timos Mutter die Polizisten an. Nicolas nickte und bückte sich, um die silberne Kiste aufzuheben, die aber verschlossen war. „Weißt du, was er darin aufbewahrt hatte?“ fragte er den Schüler, der aber nur mit den Schultern zuckte. „Tut mir leid, über den Inhalt der Kiste hat Len nie etwas gesagt.“ „Wir werden sie mitnehmen, vielleicht hilft sie uns ja weiter, Klarheit in den Fall zubringen. Wir werden uns jetzt auf den Weg machen, ich lasse meine Visitenkarte hier, falls dir noch irgendetwas einfällt“, beruhigend klopfte Nicolas ihm auf die Schulter und schon wenig später betraten die Kommissare das Schulgelände der Ernst-Schering-Schule. Inzwischen waren alle Schüler über den tragischen Vorfall informiert und ein Gedenktisch mit Kerzen, letzten Widmungen und Blumen erinnerte an den einst so lebensfreudigen Schüler. Eine Gruppe von Trauernden tauschte gerade das Blumenwasser aus, als die Ermittler an ihnen vorbeigingen, um das Sekretariat aufzusuchen. Dort trafen sie Frau Samonte, die zuständige Leiterin des Abiturjahrgangs, die sie zur Klasse des Austauschprojektes führte. Die 11b hatte sich in eine trauernde Gemeinschaft aus schwarzgekleideten Schülern verwandelt, die den Verlust ihres Mitschülers noch immer nicht vollständig verkraftet hatten. Nicolas und Hiroki gingen behutsam an die Befragungen einzelner Schüler heran, doch keiner hatte etwas Auffälliges bemerkt oder gesehen. Stattdessen bekamen die Kommissare verzweifelnde Fragen gestellt. „Wer war das? Warum ausgerechnet einer von uns? War das erst der Anfang?“ Besonders die letzte Frage nagte an Nicolas Gewissen, was wenn es wirklich erst der Anfang war? „Würde die Polizei den Täter rechtzeitig finden?“, denn eine richtige Spur hatten sie bis zu diesem Moment noch nicht. Eigentlich hatten sie nicht mal einen einzigen Anhaltspunkt. Resigniert machten sie sich auf den Rückweg und wurden von den schluchzenden Worten: „Len wird nie wieder mit uns nach Hause fahren!“ Er ist für immer fortgegangen!“ begleitet, die eine norwegische Schülerin von sich gab, als sie stützend in den Armen ihrer Freunde lag.
Die zwei Gläser Rotwein, die Marcel ihr gestern Abend noch aufgedrückt hatte, machten sich am nächsten Morgen bemerkbar. Mit einem leichten Stechen im Kopf erwachte Svenja Christensen an einem trüben Frühlingstag, an dem selbst die strahlenden Frühlingsblumen ihre Köpfe hingen ließen. Der Dauerregen von gestern hatte sich nicht verzogen. In der Küche nahm sie dieses Mal keinen Milchkaffee zu sich, sondern goss sich ein Glas Wasser ein und nahm eine Kopfschmerztablette. „Wieso kannst du eigentlich nie „Nein“ sagen, Svenja?“, mürrisch begab sie sich wieder zu ihrem Kleiderschrank und hoffte die Suche nach einem passenden Outfit würde heute schneller von statten gehen. Sie zog sich einen blauen Baumwollpullover über, unter dem sie eine blaukarierte Bluse trug. Dazu zwängte sie sich einen grauen Rock im Karodesign und schlüpfte in ihre warmen Stiefelletten, als sie die Wohnung verließ. Der U-Bahnhof war schon reichlich gefüllt und ein lautes Stimmengewirr hallte von den Tunneln nieder. Svenja musste nur wenige Minuten auf ihre Bahn warten und stieg zusammen mit einem älteren Ehepaar in den hinteren Teil, der nur halb so voll war, wie die vorderen. Rechtzeitig erreichte sie die Ernst-Schering-Schule, wo sie Daniel Pietsch bereits erwartete. Er trug eine dicke Daunenjacke, in der einen Hand eine Laptoptasche und hatte seine braunen Haare mit Haargel zurück frisiert. Für Svenjas Geschmack hatte er ein bisschen zu viel von dem Zeug aufgetragen, denn im Licht des Korridors glänzte es wie Fritteusen-Fett. „Guten Morgen, Frau Christensen. Ich freue mich, dass sie sich doch dazu entschieden haben bei uns anzufangen“, begrüßte er sie und schenkte ihr ein breites Lächeln. Svenja lächelte zurück und sagte: „Ich freue mich auch und bin schon ganz schön gespannt, was mich in der 11a heute erwartet“. Zusammen gingen sie den engen Korridor entlang und quetschten sich an ein paar Schülern vorbei, die im Gang lungerten. Sie starrten sie aus ihren dunklen Augenhöhlen wie jagende Tiger an. Svenja wurde mulmig zu Mute und sie beschleunigte ihr Tempo. Der Klassenraum der 11a hatte die Nummer 25 und lag am Ende eines dunklen Korridors eingerahmt zwischen zwei anderen Räumen. Schon von Weitem war ein völliges durcheinander unterschiedlicher Stimmen zu hören. Die meisten Schüler hatten sich vorne um eine Gruppe von drei Mädchen versammelt. Eine von ihnen hielt ein Handy in der Hand und spielte gerade ein Video ab. Herr Pietsch gab ein Räuspern von sich, woraufhin sich nur ein Bruchteil auf den jeweiligen Plätzen verteilte. "Guten Morgen!". "Guten Morgen, Herr Pietsch", murmelte die gesamte Klasse sichtlich genervt bei dem Ausblick auf einen langen Schultag. "Ich möchte euch Frau Christensen vorstellen." Alle Blicke richteten sich nach vorne und Svenja wechselte unsicher vom linken auf das rechte Bein und wieder zurück. "Seid jetzt endlich alle leise und setzt euch auf eure Plätze. Euer Verhalten ist sehr unfair gegenüber Frau Christensen!" , die Worte schienen eine Wirkung zu haben. Zwei Schülerinnen aus der ersten Reihe machten den Anfang und in wenigen Sekunden saß die ganze Klasse auf ihren Plätzen und schwieg. Endlich hatte Svenja einen Überblick über ihre zukünftigen Schüler. Sie ließ ihre Augen durch die Klasse schweifen und blieb mit ihnen an einem Sitzplatz in der letzten Reihe hängen. Hinter den Köpfen der anderen Schüler hatte sich eine ihr schon bekannte Wollmütze versteckt. Das musste Olaf sein. Mitglied der Punkergang, denen sie am Tag des Mordes als erstes begegnet war und diese bei der polizeilichen Befragung die Flucht ergriffen hatten. Olaf schien ihren erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkt zu haben und senkte seinen Blick auf den zerkratzen Tisch, dessen Unterseite ein reinstes Kaugummischlachtfeld war. "Ich werde euch jetzt alleine lassen und ich denke, dass ihr bei meiner Kollegin gut aufgehoben seit", mit diesen Worten verließ her Pietsch das Klassenzimmer und Svenja stand auf sich alleine gestellt vor den ca. 30 Schülern, die sie erwartungsvoll anstarrten. "So...Bevor wir anfangen, möchte ich noch eine schnelle Vorstellungsrunde machen. Mein Name ist, wie ihr hoffentlich behalten habt, Svenja Christensen. Ich studiere Germanistik hier in Berlin und mache in diesem Semester ein Praktikum hier an eurer Schule.", sie gab das Wort an einen dicken Jungen weiter, der ganz außen in der ersten Reihe saß und sich als Julian Wellendorf vorstellte. Nach und nach flossen immer mehr Namen in Svenjas Gedächtnis, was für sie jedoch kein Problem war, da sie sich Namen schon immer gut merken konnte. Mit einem nervösen Blick in den Augen stellte sich auch Olaf Gade vor und ihm war anzumerken, wie schwer es war diese beiden Worte auszusprechen. Seine beiden Punker-Freunde schienen nie wieder in der Schule aufgetaucht zu sein. Svenja begann mit ihrem Unterrichtsplan, der die Klasse in die griechische Mythologie führte. Julian Wellendorf kristallisierte sich als Geschichtsfreak heraus und sein Arm schien Dauergast unter der Klassenzimmerdecke zu sein. Die anderen Schüler beteiligten sich nur hin und wieder und waren sichtlich froh, als es zur Pause klingelte. Da es ihr erster Tag war, gab Svenja nur auf, den von ihr ausgeteilten Zettel zu Ende zu lesen. Beim Anblick der herausströmenden Schüler, kam ihr plötzlich eine Idee. "Olaf, wärst du so nett und könntest noch mal eben die Tafel abwischen?". Genervt schleuderte der Junge seinen Rucksack in die Ecke und schleppte sich mühsam zur Tafel. Svenja hatte mit ihrer Vermutung richtig gelegen, dass Olaf außer seinen beiden Freunden nicht sonderlich beliebt war und so auch niemand auf ihn wartete. "Is es so in Ordnung? Kann ich gehen?", Olaf schaute sie aus seinen braunen Rehaugen an. "Einen Moment noch". "Was wollen sie von mir? Lassen sie mich gehen! Sie können mich hier nicht festhalten!" Svenja blickte den Jugendlichen eindringlich an und bewegte sich ein bisschen nach rechts, sodass sie nun den Weg zur Klassenzimmertür versperrte. "Kanntest du eigentlich Len Andersson? Er war schließlich Austauschschüler der Parallelklasse. Da ist man sich bestimmt das eine oder andere Mal über den Weg gelaufen oder?" "Bin ich die Auskunft oder was?", zickig fuhr der junge Punker Svenja an. Doch diese ließ sich von ihrem Vorgehen nicht abbringen und hakte weiter nach: "Olaf ganz ruhig, ich will dir nicht zu nahe treten, beantworte einfach nur meine Frage, dann werde ich dich zukünftig auch in Ruhe lassen."Diese Worte schienen ihre Wirkung erzielt zu haben. Olafs Gesichtszüge entspannten sich. "Eine Bitte habe ich aber, egal was ich Ihnen jetzt erzähle, gehen Sie nicht zur Polizei. Die Bullen verstehen doch sowieso immer alles genau andersherum und ich habe wirklich schon genug Ärger." Svenja nickte zustimmend. "Also ich kannte Len nicht wirklich gut, er schien überall beliebt gewesen zu sein und hatte auch sonst mit niemandem Streit oder so. Daher kann ich mir auch nicht erklären, warum jemand ihm so etwas Grausames angetan hat." "Ist euch an dem Morgen, wo ich euch nach dem Weg gefragt habe, irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?". "Nein, und das habe ich den Bullen auch schon gesagt", die Antwort kam so prompt, dass Svenja wusste, dass das nur die halbe Wahrheit war. "Du weißt noch etwas, was du der Polizei nicht erzählt hast. Mir kannst du es ruhig sagen. Olaf! Ihr müsst jemanden gesehen haben, der die Pfeile auf den Boden gemalt hat." Olaf schaute schuldbewusst zu Boden: "Ja da war son Typ, den ich hier vorher nie gesehn hab. Mit nem schwarzen Kapuzenpullover und ner Sonnenbrille vorm Gesicht. Sehn Sie, dass hätte den Bullen auch nicht weitergeholfen, außerdem haben diese Idioten meine Freunde in die Flucht geschlagen!" Svenja dachte nach, der Hinweis war zwar nicht viel, aber irgendwie schien sie der Fall zu fesseln und nicht mehr loszulassen. Das Ganze schien keinen Sinn zu haben. Sie bedankte sich bei Olaf und fuhr anschließend nach Mitte zurück. Bevor sie ihre Wohnung erreichte, kaufte sie sich noch etwas Stoff aus einem kleinen Nähladen. Sie wollte ihrer Nichte ein Sommerkleid schneidern und machte sich anschließend sofort an die Arbeit. Da Musik ihr immer bei der Arbeit half, wurde das Radio angeschaltet. Es war mittags und die Stimme des Nachrichtensprechers meldete sich zu Wort: "In der Nähe der Siegessäule im Stadtteil Berlin-Mitte wurde vor wenigen Minuten die Leiche eines Touristen gefunden. Nach ersten Aussagen handelt es sich um einen Mann mittleren Alters, der einen norwegischen Pass bei sich trug." Den Rest des Beitrages bekam Svenja nicht mehr mit, da ihr Blut in den Ohren rauschte. Ein flaues Gefühl in ihrem Magen sagte ihr, dass dieser zweite Mord an einem weiteren Norweger kein Zufall und vielleicht auch nicht der letzte war.
Die Nachricht des zweiten Toten in ihrem Fall, erreichte die Kommissare am frühen Nachmittag. Der Regen hatte eingesetzt und rund um die Siegessäule tanzten viele bunte Schirme, die gar nicht in das Bild passten, welches sich zu Füßen der Siegessäule abgespielt hatte. Oskar Gjertsen, der eigentlich nur Urlaub in der Bundeshauptstadt machen wollte, würde nun nie wieder in sein Heimatland Norwegen zurückkehren. Er war wie Len Andersson auf qualvolle Weise erdrosselt worden. Herr Laumann hatte Ellie und Nicolas vorgeschickt, um die unbequeme Arbeit der Tatortsicherung und die Befragung von möglichen Zeugen durchzuführen. Letztere hatte zu keinen Hinweisen geführt. Niemand hatte mitbekommen, wie Oskar Gjertsen zur Siegessäule gelangte und was sich dort abgespielt hatte. Ellie hatte eine zweite Nachricht des Mörders zu Füßen seines Opfers gefunden. "Ich habe gesiegt" stand in der gleichen Schrift geschrieben, wie auf dem Zettel, den sie bei der ersten Leiche gefunden hatten. Mittlerweile war der nächste Tag angebrochen und der Regen fiel unaufhörlich weiter, so als wollte er die Spuren des Verbrechens für immer aus der Stadt fortspülen. "Wie konnten die Pressefuzzis schon wieder so viele Informationen über unsere Ermittlungen bekommen?", wütend knallte Nicolas die Tageszeitung auf seinen Schreibtisch. In großen, schwarzen Lettern sprang jedem Leser der Titel "König Drosselbart hat seinen Weg nach Berlin gefunden" ins Auge. Unter dem Artikel, der mit eigentlich noch unbekannten Informationen gefüllt war, hatte man ein Foto des Toten abgedruckt. "Vielleicht sollten wir jemanden von der Zeitung bei uns einstellen, der könnte uns sicher immer die besten Infos liefern", warf Ellie sarkastisch ein und vollführte eine Drehung mit ihrem Schreibtischstuhl. "Na, na, na. Was ist das hier heute Morgen wieder für eine schlechte Laune?!" der quietschbunte Papagei kam durch die Tür geflogen und setzte seinen Landeanflug vor Nicolas Schreibtisch an. Er plapperte sofort weiter: "Ich werde mich heute mit der norwegischen Botschaft in Kontakt setzten, Hiroki du suchst nach weiteren Zeugen und Sie beide", er zeigte mit seinen dicken Fingern in Nicolas und Ellies Richtung "Sie werden unserem guten Doktor Baumert einen Besuch in der Leichenfabrik abstatten!" Ohne ein weiteres Wort machten sich die beiden Kommissare auf den Weg. "Zur Leichenfabrik. Mal wieder total unprofessionell", schimpfte Nicolas über die Ausdrucksweise seines Vorgesetzten. Doktor Baumert erwartete ihren Besuch bereits und schaute die zwei auf Grund ihrer Verspätung mit einem abfälligen Blick über seine Brillengläser an. "Unser junger Kollege Herr Abend", er machte eine kurze Pause, die er mit einem breiten Grinsen ausdehnte und fügte schließlich "Stern" hinzu. "Dann kommen wir gleichmal zur Sache" der Pathologe wandte sich dem großen Metalltisch zu, der in der Mitte des kargen Raumes, dem jede Freundlichkeit und Wärme fehlte, stand. Er zog sich zwei Einweghandschuhe über und zog das grüne Tuch, das bis dato die Leiche bedeckte, weg. Ellie gab ein leises Räuspern von sich und auch Nicolas wurde etwas klamm. Der Doktor fuhr mit seiner Rede fort:"Das war wohl die letzte Reise unseres Herrn Gjertsen." Er schaltet das Diktiergerät ein und begann mit seinem professionellen Arbeitsbericht: "Ein Kabel, es könnte zum Beispiel ein Elektrokabel gewesen sein, vermute ich als Tatwaffe. Man erkennt es an dem waagerechten Verlauf des Abdrucks um den Hals. Wie Sie hier sehen können, hat das Kabel einen fein linienförmigen Verlauf hinterlassen. Ich schätze ihn 7,5 cm lang und 0,6 cm breit. Weitere Befunde habe ich im Nackenbereich festgestellt. Es waren keine Abwehrverletzungen zu erkennen, also muss unser Täter das Opfer von hinten überrascht haben. Zudem hat er noch sehr fest zugedrückt, was auf einen hohen Emotionspegel zurückzuführen ist. Auf dem beiliegenden Zettel war, wie letztes Mal auch, keine DNA zu finden", mit einem Klicken des Diktiergerätes beendete er seinen Vortrag und verabschiedete seine Kollegen von der Mordkommission. Dabei konnte er sich eine scherzhafte Bemerkung gegenüber Ellie nicht verkneifen: "Vielleicht sollten Sie bei ihrem bleichen Gesicht, dem Solarium einen Besuch abstatten. Man könnte Sie ja versehentlich als Leiche verwechseln". Unter tiefen Lachgeräuschen, ließ Nicolas die Tür etwas lauter in das Schloss fallen als üblich. Die nächste Station war das Hotel "Mützow" im Diplomatenviertel Berlins. Zusammen mit Jessica, dem alten Ford, machten sie sich auf in die Keithstraße. An der Rezeption erwartete sie ein junger Mann, der in einen schlichten, schwarzen Anzug gekleidet war. Er lehnte mit seinem rechten Unterarm auf einem dunklen Holzthresen, zu dem viele Orchideen einen farbenfrohen Kontrast bildeten. Nach Vorzeigen der Dienstausweise, schickte man sie in die erste Etage auf Zimmer 104. Ellie klopfte sanft an die Tür. Nach wenigen Augenblicken wurde diese einen Spalt breit geöffnet und ein "Was wollen Sie", mit stark norwegischem Akzent war zu hören. "Wir sind von der Kriminalpolizei und möchten gerne mit Ihnen sprechen. Sie sind doch Frau Gjertsen?" Die Tür öffnete sich ganz und gab den Blick auf eine dunkelblonde Frau frei. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe zu sehen, die davon zeugten, dass sie gestern viele Tränen vergossen hatte. Nicolas fiel auf, dass die Mittvierzigerin stark gebräunt war. Wahrscheinlich hatten sie vorher schon im Süden Urlaub gemacht. "Ihre Kollegen waren doch schon bei mir. Ich habe alles zu Protokoll gegeben. Was wollen Sie noch von mir?" vorwurfsvoll traten die dunklen Augen aus ihren Höhlen hervor und ein Tränenschimmer blitzte im gedämpften Zimmerlicht auf. Geräusche von Autohupen und quietschenden Reifen waren aus der Ecke hinter dem Bett zu vernehmen. Man hörte sie den Namen "Magnus" sagen, auf den etwas Norwegisches folgte. Ein blonder Haarschopf flog an ihnen vorbei und die Zimmertür fiel ins Schloss. "Sie müssen verstehen, für meinen Sohn ist das alles noch ziemlich unbegreiflich", kopfschüttelnd ließ sich die Frau auf die helle Bettdecke sinken und gab ein Schluchzen von sich. Ellie kramte ein Taschentuch aus ihrer braunen Lederhandtasche und reichte es Frau Gjertsen. "Wir wollten Sie fragen, was Ihr Mann ganz alleine an der Siegessäule wollte?", gab Nicolas von sich und schaute direkt in das Gesicht der Frau, welches einen angestrengten Ausdruck angenommen hatte, um die Fülle von deutschen Worten zu verstehen. "Er, also Oskar wollte nur noch einmal Fotos machen. Gestern hatten wir die Kamera vergessen und heute taten mir und meinem Sohn die Füße so weh, dass wir keine Lust hatten, da nochmal hinzugehen". Aus den Nebenzimmern waren dumpfe Stimmen zu hören, die sich in das eingetretene Schweigen mischten. Frau Gjertsen fügte schließlich hinzu: "Wäre ich doch bloß mitgegangen! Können Sie mir sagen, wer so etwas tun sollte? Wir waren doch nur im Urlaub und nächste Woche sollte es weiter nach London gehen. Oskar wollte doch so gerne Madam Tussauds' Wachsfiguren bestaunen." "Es tut uns furchtbar leid. Aber ist Ihnen noch irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?" Ein Kopfschütteln bedeutete Ellie und Nicolas, dass sie hier nicht mehr erfahren würden, als sie ohnehin schon wussten. Sie verabschiedeten sich und verpflichteten der untröstlichen Norwegerin, dass sie alles Mögliche versuchen würden, um den Fall schnell aufzuklären. "Derselbe Mörder hat innerhalb von wenigen Tagen zugeschlagen. Seine Opfer waren beide Norweger und er hinterlässt uns seine Nachrichten. Was hat das alles zu bedeuten?", fragte Nicolas seine Kollegin, als sie den Parkstreifen vor dem Hotel erreichten. "Ich weiß nur, dass er weitermachen wird, bis wir ihm das Handwerk legen. Wir haben es schon wieder mit einem Serientäter zu tun". Unbehagliche Gedanken an den letzten Fall, machten sich in ihren Köpfen breit, als sie das Auto wieder zurück zum Kommissariat brachte. Herr Laumann und Hiroki gönnten sich gerade eine Mittagspause, als die zwei zu ihnen traten. "Was gibt's Neues bei euch?", begrüßte sie der Japaner, als er in eine nur so vom Fett triefende Currywurst biss. "Nicht wirklich viel. Doktor Baumert hat unsere vermutete Todesursache bestätigt, aber weitere Spuren waren nicht zu finden", erzählte Ellie und blies sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. "Die KTU konnte uns auch nicht weiterhelfen, genauso wenig wie die Botschaft. Das ist doch zum Verfluchen! Der Täter mordet munter weiter und wir stehen da, wie die Deppen vom Dienst und können nichts tun, als abwarten, bis er den nächsten zur Strecke bringt", brachte Herr Laumann die ernüchternden Fakten auf den Tisch. Sie hatten noch viel Arbeit vor sich.
Heute war der dritte Tag an der Ernst-Schering-Schule und Svenja Christensen saß bereits frisch geduscht an ihrem Frühstückstisch. Vor ihrer Nase befand sich eine blaue Keramikschale, die mit Milch und darin schwimmenden Haferflocken gefüllt war. Lustlos ließ Svenja ihren Löffel in die Schale fallen, streckte die Beine aus und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Die Nachricht eines zweiten, norwegischen Toten innerhalb so kurzer Zeit, machte heute bei den Nachrichtensendern ihre Runde. Nachdem sie gestern von dem zweiten Mord erfahren hatte, rief sie noch einmal bei ihrer Schwester an, um zu schauen ob alles in Ordnung war. Das Gefühl beobachtet zu werden, auch hier in ihrer Studentenwohnung, konnte sie nicht abschütteln. Als reine Vorsichtsmaßnahme, waren die Jalousien in allen Räumen noch zugedreht. Svenja stellte das Geschirr in die Spüle, den Luxus eines Geschirrspülers hatte sie sich bisher nicht leisten können. Der Regen begrüßte sie, als sie die Wohnung verließ und bei jedem kleinsten Rascheln, drehte sich Svenja um. Meistens entpuppte sich ein Spatz als Geräuscheverursacher. "Hör auf, dich verrückt zu machen!" sprach sie sich selbst zu und musste eingestehen, dass sie sich danach nicht wirklich besser fühlte. Zusammen mit den gestrigen Schülerscharen und munterem Geplapper bestieg sie die S-Bahn und fuhr zurück nach Wedding. In der ersten Stunde ihres Planes, wartete wieder die 11a auf sie. Schon von weitem waren die Mädchenstimmen zu hören, von der eine am vorigen Tag ein Video gezeigt hatte. Dazu mischte sich das Gelächter der Jungs. Als Svenja die Klasse betrat, kehrte sofort eine unbehagliche Stille ein. "Guten Morgen", rief Svenja in die Runde und bemerkte, dass in der letzten Reihe nun auch ein dritter Platz frei war. "Olaf hielt es wohl für besser, erst einmal nicht zu kommen", dachte sie, als die Klasse ihre Begrüßung erwiderte. "Ihr hattet ja gestern auf, den Text zu lesen, den ich ausgeteilt habe. Kann mir jemand vielleicht eine kurze Inhaltsangabe geben?". In der ersten Reihe schnellte der Finger eines braunhaarigen Mädchens in die Höhe, die gestern eher den Eindruck vermittelt hatte, als würde sie der ganze Schulunterricht nicht wirklich interessieren. Und das sollte auch heute nicht der Fall sein. Mit einer piepsigen Mickymaus-Stimme fragte sie in die Stille: "Frau Christensen...Ihr Name ist doch auch irgendwie nordisch oder? Zudem haben Sie diesen starken Akzent. Und da ja gestern ein zweiter Norweger ermordet wurde, wollten wir einfach nur fragen, ob sie jetzt eigentlich Angst haben?" Zufrieden, den Mut aufgebracht und die Frage gestellt zu haben, nahm die Schülerin ihren Arm wieder runter. Bevor Svenja etwas auf diese unvorbereitete Frage erwidern konnte, klopfte es an der Tür. Olaf Garde trat ein. Die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen und den Blick nach unten gerichtet, schlurfte er in die hinterste Reihe und nahm Platz. Sämtliche Schüler folgten seinen Schritten mit scharfen Blicken und leises Gemurmel war zu vernehmen. Svenja tat so, als wäre Olaf schon die ganze Zeit da gewesen und versuchte eine Antwort auf die Frage, die von Franziska gestellt wurde, den Namen hatte sie eben auf dem Sitzplan gefunden, zu finden. "Den ersten Teil deiner Frage muss ich erst einmal bejahen. Mein Name ist norwegisch und ich bin auch dort geboren". Ein Raunen ging durch die Klasse und Besorgnis war in den meisten Gesichtern der Schüler abzulesen. "Ob ich Angst habe, kann ich nicht wirklich sagen. Natürlich mache ich mir Gedanken und werfe des Öfteren einen zweiten Blick nach hinten. Zunächst müssen wir alle aber abwarten, was die Polizei herausfindet und solange dies nicht geschieht, können wir leider nichts tun". Bei diesen Worten schaute Olaf zum ersten Mal auf und sah sie mit verengten Augen an. "Irgendetwas weiß dieser Junge", ging es Svenja durch den Kopf. Der restliche Unterrichtsverlauf bestand aus vielen weiteren Fragen und Diskussionen zu den beiden Mordfällen und der eigentliche Unterrichtsplan rückte in weite Ferne. Für die Mittagspause suchte sie das Lehrerzimmer auf, das bei ihrem Eintreffen schon gut gefüllt war. Sie nahm neben einem älteren Herrn Platz, der sich als Professor für Physik und Astrologie vorstellte und ihr anbot sogleich das heutige Horoskop vorzutragen. Svenja lehnte dankend ab. "Was wüssten die Sterne schon, was der Mörder als nächstes tun würde?"Insgesamt fühlte sie sich in dem kleinen Raum, der einen rundherum hellfarbenen Anstrich hatte, wohl. Mit etwas Verspätung erschien auch Daniel Pietsch. Die Haare waren heute etwas weniger gegelt, stellte sie fest, als er gegenüber Platz nahm und eine Dose Erdnüsse, sowie die Berliner Morgenpost auf dem Tisch ausbreitete. "Wie geht es Ihnen Svenja und da wir ja schon beim Vornamen sind, können wir uns doch gleich duzen oder nicht?" Etwas überrascht über die plötzliche Offenheit, nickte Svenja mit dem Kopf. "Danke der Nachfrage, Daniel. Alles ist in bester Ordnung", gab sie als Antwort zurück und wusste, dass dies nicht stimmte. Daniel widmete sich seinen Nüssen und der Zeitung, Svenja holte sich einen frisch gebrühten Kaffee und überflog Unterrichtsmaterialien. Die Pause rückte dem Ende entgegen und spülte sämtliche Lehrer auf die Gänge. "Olaf ist heute zu spät gekommen", nahm Svenja das Gespräch wieder auf. "Ist ja nichts Neues. Was die für eine Einstellung zur Schule haben, habe ich bis heute nicht begriffen." "Die, du meinst seine beiden Punker-Freunde?", Svenja lenkte ihr Gespräch in die beabsichtigte Richtung. "Ja, Dimitri Punschke, der Glatzkopf und Anführer der Truppe und sein ewig verbündeter Kompagnon Patrick Mayr." "Der mit dem orangenen Irokesen?" Daniel nickte und fuhr fort: " Die beiden sind in der achten Klasse sitzen geblieben und dann in Olafs Klasse gekommen. Dieser hatte zu der Zeit Probleme zu Hause und war ein leichtes Opfer für die beiden. Und das ist er bis heute geblieben." "Wohnen die drei denn auf der Straße?", wollte Svenja wissen und ihr Gegenüber nickte abermals und schaute auf seine silberne Armbanduhr: "Die Zeit läuft und ich muss zurück in den Unterricht. Die sechsten Klassen kann man leider nicht so lange alleine lassen". Mit einem Augenzwinkern packte er seine Sachen und verließ das Lehrerzimmer. Svenja blieb noch eine Weile so sitzen und überlegte, wie sie weitere Informationen durch Olaf herausfinden konnte. Der restliche Schulvormittag ging ohne weitere Zwischenfälle und Ereignisse vorüber. Bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte, schnappte sie sich die Zeitung, die Daniel am Morgen im Lehrerzimmer vergessen hatte. Diese faltete sie nun in der S-Bahn aus. Die Story von gestern behauptet sich auch heute noch auf der Titelseite. Unter dem Titel "König Drosselbart hat seinen Weg nach Berlin gefunden", ging es folgendermaßen weiter: "Mord an einem zweiten Norweger zeigt wachsende mögliche Ausländerfeindlichkeit in Berlin. Gestern wurde die Leiche eines Touristen an der Siegessäule gefunden. Auch dieses Mal stand als Todesursache, eine Erdrosselung fest". Den Rest des Artikels überflog Svenja, da er ihr keine wirklich neuen Informationen brachte. Zu Hause angekommen, schaltete sie ihren PC ein und suchte nach allen möglichen Informationen. Während der Arbeit fühlte sie sich selbst schon fast wie eine zweite Miss Marple und verspürte den Drang mal wieder einen ihrer Lieblingskrimis von Björn Larsson, Johan Theorin oder dem Autorenduo Sjöwall/Wahlhöö zu lesen, die alle skandinavische Bestseller verfasst hatten. Sie räumte ihre Pinnwand leer und hängte jeweils ein Foto von den beiden Opfern daran, ganz so, wie es im Fernsehen immer gezeigt wurde. Am nächsten Tag würde sie Olaf noch einmal auf den Zahn fühlen und eine elektrisierende Spannung machte sich in Svenja breit. Zur Ablenkung und Zeitvertreibung, nähte sie mit ihrer Singer-Nähmaschine an Freyas Kleid weiter und beschloss daraufhin bei ihrer Nichte anzurufen. Nach dem ersten Klingeln wurde abgenommen und die honigsüße Stimme der Kleinen meldete sich: "Freya. Wer ist da und was wollen Sie?" "Ich bin es, Svenja. Bist du etwa ganz alleine zu Hause?",fragte Svenja empört. "Ja, Mamma hatte noch einen Termin und ist noch ma schnell weggefahren. Sie wollte ne Freundin besuchen. Und Pappa ist noch auf der Arbeit". Da sie ohnehin nichts mehr zu tun hatte, beschloss Svenja so lange auf Freya aufzupassen, bis Ylva oder Marcel wieder da waren und sie schwor sich, mit den beiden ein ernstes Wörtchen zu reden.
Ein ganzer Tag, an dem sich die Kommissare der Berliner Kripo mit weiteren, später sich als falsch erwiesenen Zeugenaussagen rumgeschlagen hatten, war vergangen. Der nächste Arbeitstag begann etwas ernüchternd, aber dennoch zuversichtlich. Diese Zuversicht versprühte Ellie Krone, die ein knallgelbes Strickkleid mit buntem Jacquard-Muster trug und so das ganze Büro aufhellte. Sie stand gerade vor dem neuen Kaffeevollautomaten, den Herr Laumann großzügig gespendet hatte und immer ein kritisches Auge auf denjenigen warf, der gerade Kaffee kochte. "Mist! Das ist ja gar nicht meine Tasse", fluchte Ellie und leerte den braunen Inhalt einer grünen Kaffeetasse in den Ausguss. Sie hatte versehentlich die Tasse von Nicolas gegriffen, der es gar nicht gerne sah, wenn man seine Sachen ungefragt benutzte. Da war die Kaffeetasse keine Ausnahme. Letzterer hatte von dem Ganzen jedoch gar nichts mitbekommen. Nicolas Abendstern saß mit überkreuzten Beinen auf seinem Bürostuhl und drehte konzentriert an seinem Zauberwürfel. Seine intensive Beschäftigung mit dem Spielzeug wurde von dem Klingeln seines Telefons unterbrochen. "Svenja Christensen", meldete sich eine aufgelöste Stimme, nachdem Nicolas abgenommen und sich ebenfalls vorgestellt hatte. Ein Bild einer blonden jungen Frau vom ersten Tatort schob sich in Nicolas Gedächtnis. "Was können wir für Sie tun?", fragte er neugierig. "Meine Schwester Ylva Helmer ist seit gestern Abend verschwunden". Nicolas nahm alle wichtigen Informationen auf und versprach so bald wie möglich, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Hoffentlich würde sich die Sache als Irrtum herausstellen und sich schnell aufklären. Doch ein ungutes Gefühl, dass dies nicht zutreffen würde, überfiel ihn und seine Kollegen. Wenige Minuten nach dem Anruf kam der Japaner in Begleitung mehrerer Personen durch die Tür. Die Personen stellten sich als angebliche Zeugen für den Mordfall des Touristen heraus. Zusammen mit Hiroki und einer älteren Dame betrat er den Verhörraum. Vorgestern war anscheinend eine Frau an der Siegessäule auf ihren Mann losgegangen, hatte ihn wütend beschimpft und war schließlich gewalttätig geworden. Der Mann entsprach nur in geringem Maße dem Opfer, trotzdem mussten sie auch diesem Fall nachgehen. Hiroki wollte sich darum kümmern, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, warum Frau Gjertsen, die gestern noch so aufgelöst war, ihren Mann umbringen sollte. Als nächstes trat ein Ehepaar ein. An ihrer zerschlissenen Kleidung und den verfilzten Haaren, sah man aus welchen Verhältnissen sie stammten. "Wir haben zwar direkt nichts von dem Verbrechen mitbekommen, aber wir wüssten vielleicht, wer Ihnen weiterhelfen könnte", begann der Mann und offenbarte eine Reihe zerbröckelter und vergilbter Zähne. "Und wer soll dieser Jemand sein?", fragte Nicolas sichtlich genervt und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Der Mann schaute ihn scharf an und wandte sich dann an Hiroki: "Wir kennen seinen richtigen Namen nicht. Unter uns ist er aber als Siegi bekannt, er lebt in den Büschen am Straßenrand rund um den Kreisverkehr der Siegessäule. Sie müssen weitere von uns", das "Uns" betonte er besonders laut und blickte wieder zu Nicolas herüber "befragen, ob sie Siegi heute schon gesehen haben und ich bin mir sicher, wenn er am Mittwoch da war, hat er was gesehen". Die weiteren Zeugenbefragungen ergaben auch keine wirklich interessanten Hinweise und so machten sich Hiroki und Nicolas auf zur vielbesuchten Siegessäule. Kurz vor ihrer Ankunft warf Hiroki in die Stille des Autos ein: "Was kann im Leben so verdammt schief gehen, dass man so enden muss und nur noch ein Leben auf der Straße übrig bleibt?", dabei zeigte der Japaner auf eine Gruppe von Pennern, die mit Plastiktüten ausgestattet die Siegessäule nach leeren Plastikflaschen absuchten. Nicolas nickte nur, parke den Wagen und steuerte auf die Sammlertruppe zu. Er räusperte sich, zog dabei sein gepunktetes Hemd zurecht und stellte sich und seinen Kollegen vor: "Wir sind von der Mordkommission und suchen nach einem gewissen Siegi, der sich hier angeblich immer rumtreiben soll. Hat ihn einer von Ihnen zufällig gesehen?" "Der müsste im Wohnheim sein, hat sich diesen Frühling noch nicht oft aus der Unterkunft getraut", kam als Antwort von einem etwa 50-jährigen, bärtigen Mann, dessen Gesicht eine große Nabe zierte. "Wo befindet sich die Unterkunft?", wollte Hiroki wissen und schaute die Truppe voller Mitleid an. "Köpenicker Straße", antwortete derselbe Mann wieder. Jessica brachte die Kommissare sicher zum Zielort. Schon von weitem war das Obdachlosenheim auszumachen. Das Gebäude war unten herum schwarz gerußt, stellte Nicolas fest und malte sich aus, unter welchen Bedingungen man hier hauste. "Vor zwei Monaten hat es hier einen Kellerbrand gegeben. Die 150 Bewohner musste für einige Tage woanders unterkommen", sagte Hiroki, der Nicolas Blick gefolgt war. Dieser stutzte. "Ja, das habe ich in der Zeitung gelesen", gab der Japaner zurück und knallte die Autotür zu. Im Empfangsbereich begrüßte sie eine nette Frau mittleren Alters. "Wir suchen einen Ihrer Mitbewohner. Siegi ist sein Name". "Ach der Siegi. Ja, der wohnt zurzeit hier. Sie müssen die Treppe nach oben nehmen und dort mal nachfragen, in welchem Zimmer er wohnt", die Frau zeigte mit ihrem Arm in die Richtung hinter ihr. Auf dem Flur oben, führte man sie in den richtigen Raum. Kaum eingetreten, fing ein junger Golden Retriever laut an zu bellen und stürmte auf Nicolas zu. "Ganz ruhig, Johnny! Komm wieder zu mir", kam es aus der hinteren Ecke, die von einem Vorhang versteckt wurde. Neben dem kam jetzt ein Mann zum Vorschein. Dieser trug ebenfalls abgenutzte Kleidung, sein Kopf war von einer großen Kapuze verdeckt und sein Gesicht unter einem dichten, schwarzen Bart versteckt. "Abendstern, Mordkommission. Das ist mein Kollege Yahiro. Sind Sie Siegi?". Der Mann machte große Augen, packte seinen Hund am Nacken und wich einen Schritt zurück. "Ich habe doch nichts Verbotenes getan", flüsterte er betroffen. "Das haben wir auch gar nicht behauptet!", gab Nicolas ungehalten zurück und erntete auch die Aufmerksamkeit seines Kollegen, der ebenfalls über die ungewohnte Gereiztheit Nicolas' verwundert war. Hiroki griff ein und wollte wissen: "Waren Sie zufällig in den letzten Tagen an der Siegessäule? Speziell am Mittwoch, Sie wären nämlich ein wichtiger Zeuge für uns". "Ne, im Winter ist das hier mein Zuhause", Siegi warf einen Blick durch den kleinen Raum. "Da war ich seit Oktober nicht mehr. Wieso?" "Vor zwei Tagen ist ein Mann dort ermordet worden." "Mhm. schreckliche Sache. Hab davon gelesen." "Trotzdem Danke", Hiroki warf seinem Gegenüber und seinem Hund ein freundliches Lächeln zu, ehe er mit seinem mürrischen Kollegen den Raum verließ. Auf dem Weg nach unten, gingen sie an einem Raum mit halboffenstehender Tür vorbei. Ein Bild, das an der Wand links des Eingangs angebracht war, erregte Nicolas' Aufmerksamkeit. Er erkannte die beiden Punker, die ihrem Freund Olaf Garde jeweils einen Arm um die Schulter gelegt hatten, sofort. Nicolas riss das Foto ab und eilte zu Siegi zurück. "Kennen Sie die beiden Typen hier, links und rechts auf dem Bild?" Siegi war kurz überrumpelt, nickte aber anschließend: "Das sind die von der üblen Sorte. Der mit dem Irokesen ist Patrick Mayr und den anderen kenne ich nur unter dem Namen Sergio. Die waren aber seit Wochen nicht mehr im Wohnheim." "Danke!", rief Nicolas beim Herausgehen und war froh wenigstens einen Namen zu haben. Zurück im Kommissariat ließ er den ersten durch den Computer laufen und erhoffte sich mehr Informationen. Patrick war mit 15 von zu Hause weggelaufen, in zahlreiche Gewalt-und Drogendelikte verwickelt und hatte keinen aktuellen Wohnsitz. "Machen wir für heute Abend doch einfach Schluss", schlug Ellie vor. "Du hast Recht, morgen werden wir uns dann um die beiden Flüchtigen kümmern", gab Nicolas zurück. Jeden Freitagabend gingen die beiden Kollegen in das "Fit for Berlin", um den aufgestauten Ärger und Stress, der sich während der Woche angesammelt hatte, zu entladen. Ellie startet gerade ihre dritte Runde auf dem Crosstrainer und summte zur deutschsprachigen Popmusik, als ihr Handy in der Sporttasche klingelte. Sie wischte sich ihre schweißnassen Hände im Handtuch ab und nahm das Gespräch entgegen. "Ellie Krone." "Ja, Laumann hier am Apparat. Wir haben eine dritte Leiche gefunden. Und dreimal dürfen Sie raten, welcher Nationalität sie abstammt." "Norwegen?", stotterte Ellie und ein klammes Gefühl bereitete sich in ihr aus. Nicolas war zu ihr getreten und sie brauchte kein Wort zu sagen, er wusste um wen es sich handelte. Ylva Helmer, die Schwester von Svenja Christensen.
"Wie ein Vogel hoch überm Wiesengrün fliegst du fort, bist du nur bereit", trällerte Freya fröhlich mit Barbie, die in dem kitschigen Mädchenfilm ihr bestes als Musicalstar gab. Ylva hatte sich immer noch nicht gemeldet, inzwischen war auch ihr Mann Marcel zu Hause erschienen. Er telefonierte im Arbeitszimmer mit sämtlichen gemeinsamen Bekannten, aber niemand hatte etwas von Ylva gehört. Svenja hatte es sich indessen mit Freya im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Zusammen mit einer Horde Barbies und deren Zubehör teilte sie sich das graue Sofa. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu Olaf Garde, der heute nicht in der Schule erschienen war und sie dadurch mit ihren Nachforschungen nicht vorangekommen war. Mit dem Film konnte sie für wenige Augenblicke die aufsteigende Angst um ihre Schwester bekämpfen. "Warum meldet sich Ylva denn nicht? Sie kann doch nicht einfach zu einer Freundin fahren und die Zeit total aus den Augen verlieren?", dachte sie und schaute auf ihre schmale Lederarmbanduhr, die bereits 18:30 Uhr zeigte. Es war Zeit für die Kleine ins Bett zu gehen und so verbrachte Svenja die restliche Zeit des Filmes damit, in der Küche Tee zu kochen. "Ich will aber noch einen sehen und zwar Schwanensee", beklagte sich Freya und tänzelte wie eine Ballerina über den Teppich. "Nein, auch Prinzessinnen müssen ins Bettchen gehen und morgen ist ja auch noch ein Tag", konterte Svenja. Nachdem Freya endlich nachgegeben hatte, gingen die zwei ins Badezimmer und anschließend in das Mädchenzimmer. "Puh, die Kleine hat es mir heute echt nicht leicht gemacht", sagte Svenja, als sie die Treppe wieder nach unten kam und erntete einen angespannten Gesichtsausdruck ihres Schwagers. "Ylva scheint wie vom Erdboden verschluckt", untermalte er seine Sorgen. Schweigend tranken sie ihren Tee und warteten vergeblich auf ein Klicken des Türschlosses oder Klingeln des Telefons. Die Zeiger auf der Uhr schienen wie angewachsen, bewegten sich keinen Schritt vorwärts und schließlich hielten es beide für das Beste auch erst mal ins Bett zugehen. Svenja hatte sich notdürftig im Gästezimmer eingerichtet und schlüpfte unter die warme Bettdecke, die noch von ihrer Großmutter aus Trondheim stammte. Aber auch der beruhigende Flair des in hellen Pastelltönen gestrichen Zimmers, brachte Svenja keinen Schlaf. Außerdem schien der Mond durch die hellen Vorhänge und erschwerte das Einschlafen zusätzlich. Um 2:00 Uhr morgens wurde sie gänzlich aus ihrem Halbschlaf gerissen. "Ylva!", war der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf ging und sie stürmte nach unten. Im Flur waren jedoch zwei andere, ihr bekannte Stimmen zu hören und Marcel schaute sie mit einem kreidebleichen Gesicht fassungslos an. "Nein!", schrie sie und lief auf die beiden Kommissare zu. "Frau Christensen, es tut uns wirklich unendlich leid, aber", begann die blonde Frau und zeigte einen mitfühlenden Gesichtsausdruck. "Ylva ist tot", sprach Marcel die bittere Wahrheit aus. "Tot, tot, tot", das Wort schien sich in Svenjas Gedankengang festgesetzt zu haben, als sie unter Tränen auf dem Sofa Platz nahm. Auch Marcel hatte in den letzten Minuten hunderte Tropfen davon vergossen. "Wir bräuchten Jemanden, der die Leiche für uns identifiziert", begann der blonde Mann mit dem Namen Abendstern und schaute an allen Beteiligten vorbei, aus der Terrassentür. "Ich mach das", stotterte Marcel und biss sich auf die Unterlippe. "Svenja, könntest du Freya", doch er brauchte nicht weiterreden. Svenja hatte verstanden. Sie würde ihre Nichte mit zu sich nach Hause nehmen und ihr irgendwie klar machen müssen, dass ihre Mutter nie mehr nach Hause zurück kommen würde. Nachdem Marcel in Begleitung der Kommissare das Haus verlassen hatte, packte sie ein paar Sachen für Freya in deren Rucksack ein. Dabei wurde sie immer wieder von schweren Weinkrämpfen unterbrochen. Ihr ungutes Gefühl hatte sie nicht getrübt, doch sie hatte einfach nichts unternommen und nun war ihre Schwester tot. "Freya, wir werden jetzt erst einmal zu mir fahren". "Wieso?." "Weil..", Svenja versagte die Stimme. Sie wusste einfach nicht, wie sie diesem kleinen Ding die erschütternde Wahrheit sagen konnte. Insgeheim wünschte sie sich doch, anstelle von Marcel zur Pathologie gefahren zu sein. In der Wohnung angekommen bettete sie die Kleine in ihr Bett, woraufhin diese sofort wieder einschlief. Draußen begannen bereits die ersten Vögel munter zu zwitschern, so als wäre es ihnen egal, was vor einigen Stunden mit Ylva passiert war. Um sich abzulenken backte sie in der Küche Pfannkuchen mit Blaubeermarmelade und stellte sie zum Aufwärmen in den Backofen. Plötzlich klopfte es etwas zaghaft an ihrer Wohnungstür. War Marcel schon wieder zurück? Svenja entsperrte den Türriegel und guckte in das blasse Gesicht von Olaf Garde. "Darf ich reinkommen?", überrumpelte er sie. Die beiden nahmen in der Küche Platz, die nach den Pfannkuchen duftete. "Ich. Ich habe gehört was passiert ist und es tut mir alles so furchtbar leid", resigniert ließ der Junge seinen Kopf hängen und Tränen blitzten in seinen braunen Augen auf, als er wieder nach oben schaute. Svenja wusste immer noch nicht was sie über den überraschenden Besuch sagen sollte. "Damals in der Schule habe ich Ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt", fuhr Olaf fort. Ein Funken Zorns durchzuckte Svenja, fand sein Ziel jedoch nicht, als sie in das traurige Gesicht des Punkers guckte. "Meine Freunde und ich haben mehr von dem Unbekannten gesehen." Svenja wurde neugierig: "Was hast du gesehen?" "Der Mann hatte gar keine Sonnenbrille auf." "Kannst du ihn mir beschreiben?", das Fieber eines Ermittlers hatte Svenja gepackt. "Er war dunkelhäutig, hatte dunkle tiefsitzende Augen mit einem eindringlichen Blick. Das Auffälligste war jedoch seine dicke Oberlippe", schüchtern schaute Olaf sie an. "Danke, dass du zu mir gekommen bist", begann Svenja, wurde aber von ihrem Gesprächspartner abrupt unterbrochen: "Es tut wir wirklich unendlich leid! Verzeihen Sie mir! Ich hatte einfach nur Angst vor meinen Freunden." "Ist schon O.K." Svenja konnte nicht noch einen Heulkrampf ertragen, da sie selbst gegen die salzigen Tränen ankämpfte und beeilte sich Olaf zu verabschieden. Wenig später kam Marcel aus der Pathologie. Er umarmte Svenja kurz und nickte traurig, ehe er sich auf einem der bunten Küchenstühle niederließ. Bevor einer der beiden ein Wort sagen konnte, klingelte das Telefon. Eine Frauenstimme war dran: "Hallo, da ich Ylva nicht erreichen kann, dachte ich mir: Versuch es doch einfach bei ihrer Schwester. Ich bin Kara, falls du dich erinnerst, eine alte Bekannte von Ylva". Svenja musste schwer schlucken, erinnerte sich vage an eine lebendige Frau, mit dunklen, leicht gewellten Haaren. "Wenn du kein Problem hast, komme ich gleich bei dir vorbei. Ich muss dir etwas sagen", der Gedanke den Tod ihrer Schwester einfach per Telefon zu überbringen, gefiel Svenja nicht. Kara sagte ihr die Adresse und Svenja schlüpfte in ihre Daunenjacke. Bevor sie ging, schaute sie noch einmal in der Küche nach. "Wo willst du hin?", fragte Marcel sie und fuhr sich durch die zerzausten Haare. "Ich muss noch mal weg. Zu der Freundin bei der Ylva", beim Aussprechen des Namens stockte sie kurz, "eigentlich gewesen sein sollte." "Wenn du willst, kann ich Freya in der Zwischenzeit versuchen zu erklären, dass". Svenja nickte nur schnell und verließ die Wohnung. Kara Jungstedt wohnte in einem kleinen Gebäudekomplex in der Nähe des Berliner Hauptbahnhofes. Svenja überbrachte beklommen die schreckliche Nachricht und die beiden saßen anschließend in der bunt-gestrichenen Küche, die an das Farbspiel einer Melone erinnerte. "Einfach unfassbar, wer tut so etwas?", gab Kara von sich und fragte Svenja nach einer Tasse Kaffee. Diese nickte und schaute sich die vielen Fotos an, die überall auf dem hellen Holztisch verteilt waren. "Wozu sind die ganzen Fotos?", wollte sie wissen. "Wir alle wollten ein Klassentreffen veranstalten. Ylva und ich hatten schon alles geplant. Das Treffen sollte in Norwegen stattfinden, da die Meisten ja dort geblieben sind. Seit unserem Weggang sind schon 15 Jahre vergangen. Unglaublich." "Mhm", machte Svenja und ihr wurde wieder bewusst, dass ihre Schwester ganze zehn Jahre älter gewesen war als sie. Sie blickte zwischen den etlichen Klassenfotos umher und erstarrte. Von einem der Bilder starrten sie dunkle Augen an. Auf der Mitte des Fotos stand ein pubertierender Jugendlicher, der eine auffallend dicke Oberlippe hatte, ganz nach der Beschreibung von Olaf. Svenja blinzelte und schaute noch einmal genauer hin. Das war er, der Mörder von Ylva. Sie wusste es, umso länger sie das Foto anschaute. "Wer ist dieser Junge in der Mitte?", fragte sie unter pochendem Herzschlag. "Tahir Jacobson. Warum fragst du?"
Den Anblick der toten Ylva Helmer noch nicht richtig verdaut, wurden die Kommissare damit am nächsten Morgen wieder konfrontiert. Gegen 9:30 Uhr besuchte sie Doktor Baumert aus der Pathologie. Laut eigenen Aussagen, hatte er die ganze Nacht über an der Leiche gesessen. "Griàs G?d meine sehr verehrten Kollegen!", er zwinkerte Ellie zu und holte eine dünne Plastikmappe aus seiner Aktentasche. "Ich habe die ganze Nacht an der guten Frau rumgeschnippelt, nur damit Sie", er schaute jeden Einzelnen für einige Augenblick an, "pünktlich die Ergebnisse bekommen und ich nicht derjenige bin, an dem es nachher gelegen hat, wenn die Staatsanwaltschaft mal wieder rummeckert." "Das wissen wir zu schätzen", entgegnete Herr Laumann spöttisch und strich sich über die orange Cordhose. "Dann fangen sie doch mal an", forderte Nicolas den Doktor auf und verschränkte die Arme vor der Brust. "Nur zu gerne. Todesursache war, wie bei unseren anderen beiden Fällen das Erdrosseln. Durch ein Strangwerkzeug, das vermutlich ein Kabel war, kam es zu starken Kompressionen der Halsgefäße. Dies verursachte eine Zirkulationseinschränkung im Gehirn, sowie Blutstauung und Dunsung im Gesicht. Es erfolgte Blutaustritt aus der Nase, was folglich zum Exitus führte. Des Weiteren konnte ich Einblutungen an der Halsmuskulatur und Frakturen des Zungenbeins feststellen." "Lange Rede, kurzer Sinn. Wir haben es also mit dem gleichen Täter und dem gleichen Tatvorgang zu tun", beendete Ellie Doktor Baumerts Vortrag. "Wenn Sie das schon alles wussten, hätte ich mir meinen Besuch ja sparen können. Schönen Tag noch", mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck verließ der Pathologe das Büro. Das Faxgerät sprang an und spuckte den Bericht der KTU aus. Ellie, in der linken Hand einen Joghurtbecher, schnappte sich den Zettel und fasste den Inhalt zusammen: "Das Papier mir der Botschaft "Yes I Can", wies leider keine DNA oder Sonstiges auf". Nicolas tippte sich mit dem Finger über den Mund und überlegte angestrengt nach. Zwischen den Zetteln musste es irgendeine Logik geben. "Ich habs", rief er, nahm seine Füße vom Schreibtisch und lief an die Pinnwand nach vorne. Er zeigte auf die Bilder der drei Tatorte mit den jeweiligen Nachrichten an die Opfer. "Ihr erinnert euch an die erste Nachricht "Du bist Dreck"? Das passt zu unserem Toten im Müll. Die zweite Leiche wurde an der Siegessäule gefunden, daher seine Botschaft: "Ich habe gesiegt"." "Und Frau Helmer wurde auf dem Washingtonplatz mit der Nachricht "Yes I Can" entdeckt", vervollständigte sie Nicolas Vermutung. "Ja toll, bringt uns das weiter? Der Täter sucht sich irgendwelche Plätze aus und verfasst passende Nachrichten", schimpfte Laumann. "Das ist wenigstens ein Ansatz darüber, wie der Täter tickt", wütend knallte Ellie den Plastikbecher auf den Tisch ihres Chefs und stürmte aus dem Raum. "Das haben Sie ja toll hingekriegt", sagte Nicolas und folgte Ellie, die auf dem Wege in die Kantine war. Er holte sich eine Tasse Kaffee und setzte sich zu ihr an einen Fensterplatz. Zu dieser Zeit waren die meisten Tische noch unbesetzt und es herrschte eine angenehme Ruhe. "Lass dich von dem Papagei nicht so provozieren, der ist es doch gar nicht wert", zur Beruhigung reichte er ihr einen Pfefferminzbonbon, die er immer in einer kleinen, edlen Blechdose aufbewahrte. "Danke", sagte Ellie und brachte ein halbes Lächeln zu Stande. "Er ist einfach nur neidisch, dass ihm nicht solche Ideen einfallen. Dafür ist sein Papagei-Gehirn etwas zu winzig." Bei der Vorstellung musste Ellie laut loslachen, entfaltete den Pfefferminzbonbon aus dem grünen Papier und schob ihn sich zwischen die Zähne. "Die Zeit rennt uns einfach davon, ohne dass wir den Mörder aufhalten können. Er muss einen so großen Hass auf die Norweger haben, was daran deutlich wird, mit welcher Emotionalität er seine Opfer erdrosselte", sagte Nicolas. Ellie holte ihr Notizbuch hervor und schrieb sich kurze Stichwörter unter der Überschrift "König Drosselbart" auf. "Er muss seine Opfer persönlich gekannt haben, dafür sprechen die Nachrichten. Außerdem hat er alles lange im Voraus geplant und kann seine Opfer nun in solch kurzen Zeitabständen aufsuchen und ermorden. Er weiß wann, wie und wo sie sich aufhalten" folgerte Ellie und schrieb eifrig mit. Langsam füllte sich die Kantine mit hungrigen Polizisten und auch Ellie und Nicolas fanden immer mehr Charakterzüge, die sie dem Täter zuordneten. Ein Luftzug strich durch den Raum, als die Tür sich öffnete und Hiroki auf die beiden zueilte. "Der Obdachlose von gestern hat angerufen. Die beiden Punker seien aufgetaucht und gerade dabei ihre Sachen zu packen. Nicolas, Laumann will, dass du ihn begleitest", entschuldigend warf der Japaner einen Blick zu Ellie. Diese nickte nur und sagte: "Wir sehen uns später, Nicolas. Viel Glück. Ich werde indessen weiter an unserem Täterprofil arbeiten." Als Nicolas aus dem Kommissariat trat, wartete der Papagei bereits in einem schwarzen Dienstwagen. Schweigend fuhren sie in die Köpenickerstraße und hielten vor dem Obdachlosenheim. Schnellen Schrittes passierten sie den Eingangsbereich, nahmen die Treppe nach oben, wo Siegi und sein Hund Johnny sie empfingen. "Die beiden sind in dem Zimmer nebenan. Es sieht so aus, als würden sie sich aus dem Staub machen", flüsterte der Mann und zeigte auf die diesmal geschlossene Tür. Die Kommissare entsicherten ihre Waffen und pirschten sich an. "Polizei! Kommen Sie da raus!", schrie Herr Laumann. Doch aus dem Zimmer war keine Reaktion zu hören. Wütend hob er sein rechtes Bein und öffnete die Tür mit einem kräftigen Tritt, aber der Raum war leer. Nur ein offenes Fenster, um das die Gardinen im Wind flatterten, zeugte vom Fluchtversuch. "Die können noch nicht weit sein", rief Nicolas und kletterte ebenfalls aus dem Fenster auf ein kleines Vordach. Einige Meter links von ihm, konnte er die Flüchtigen ausmachen. Er erklomm einen kleinen Vorsprung aus Stein und heftete sich an die Versen der Punker. Mit Genugtuung registrierte er, dass sein Chef große Mühe hatte, überhaupt aufs Dach zu kommen, was ihm einen zusätzlichen Kick gab. Der orange Irokesen des einen leuchtete vom anderen Ende des Flachdaches her. Mit großen Schritten hechtete Nicolas hinterher. Der Teer auf dem Dach knirschte unter seinen Schuhen und er spürte, wie sein Puls in die Höhe schoss. Die beiden Punker hatten bereits eine alte, stark verrostete Feuerleiter erreicht und wollten sich an den Abstieg machen. Doch Nicolas legte in seinem Tempo nochmal zu und kam schlitternd an der ersten Sprosse zum Stehen. "Halt! Bleibt stehen! Es ist sowieso schon zu spät für euch! Was soll das Ganze denn noch bringen?", etwas außer Atem brachte Nicolas diese Worte hervor. Aber die Verfolgten machten keine Anstalten aufzugeben. So blieb ihm nichts anderes übrig, als mit seiner Dienstwaffe einen Warnschuss abzugeben. Dieser schien seine Wirkung zu erzielen, denn die Punker hielten verschreckt inne. Hinter Nicolas war mittlerweile auch Herr Laumann keuchend zum Stehen gekommen. Er schritt an seinem Kollegen vorbei und packte das Handgelenk des ersten Jungen. In Handschellen wurden beide abgeführt und in den Verhörraum des Kommissariats gebracht. Zusammen mit Hiroki nahm Nicolas sich den ersten Punker vor. Der sich zuvor als Sergio ausgebende, verriet nun auch seinen richtigen Namen. Dimitri Punschke funkelte die Kommissare aus halb zusammengekniffenen Augen an, wobei er in seine rechte Jackentasche griff und eine Packung Zigaretten, sowie ein Feuerzeug, was einen Totenkopf zierte, hervorkramte." Ich zünd' mir ma ne Kippe an, damit Ihre noch so tollen Bullengesichter im Qualm verschwinden!, zischte der Punker und zwinkerte Nicolas provozierend zu. Ehe ein Funke die Zigarette entzünden konnte, schnappte dieser das Feuerzeug und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. "Rauchverbot. Ist hier leider vorgeschrieben", entgegnete Nicolas und fuhr folgendermaßen fort:"Dann erzähl' uns mal, was du zu sagen hast!" " Das ist alles Olafs Schuld, er hat den Täter erpresst und uns zum Stillschweigen verdonnert. Wir hatten voll die Panik, dass Sie uns für die Erpresser halten." Es klopfte, Ellie lugte herein und winkte Nicolas zu sich. " Der andere hat uns genau dieselbe Geschichte aufgetischt." "Mist! So müssen wir die Beiden auf jeden Fall gehen lassen." frustriert schlug Nicolas gegen die Wand und suchte nach einer Möglichkeit den Punkern die komplette Wahrheit zu entlocken. Denn er glaubte nicht daran, dass das alles Olaf Gardes Plan sein sollte.
Hungrig biss Svenja in ihr Mohnbrötchen, das sie mit Mortadella belegt hatte und kramte nach der Telefonnummer von Daniel Pietsch. Zusammen mit Marcel hatte sie beschlossen ihr Praktikum erst einmal nicht fortzusetzen. Letzterer war mit Freya zu seinen Eltern nach Potsdam gefahren, um ein bisschen Ablenkung zu bekommen. Neben ihrem Teller lag das Adressbuch von Kara, das Svenja am gestrigen Tage heimlich eingesteckt hatte. In dem Buch befanden sich die Namen sämtlicher, ehemaliger Mitschüler und auch die Adresse von Tahir Jacobson. " Pietsch hier?" "Guten Morgen Daniel, ich bin's Svenja. 'Tschuldigung für die frühe Störung." Ein Räuspern war zu hören: "Ich habe von der Sache mit deiner Schwester gehört, einfach grausam, was in manchen Menschen so vorgeht!" Um nicht noch weiter an ihre tote Schwester erinnert zu werden, fuhr sie rasch fort: "Ich habe beschlossen eine Auszeit für das Praktikum einzulegen und werde daher in der nächsten Woche nicht kommen." "Das verstehe ich nur zu gut, ich werde deine Abmeldung gleich an Frau Samonte weiterleiten." "Eine Frage hätte ich noch." "Welche wäre?", kam es aus der anderen Leitung. "Könntest du mir die Adresse von Olaf Garde geben?" Nach einem kurzen Zögern, was Svenja nicht entging nannte er ihr: "Schildhornweg 31, liegt mitten im Herzen des Grunewalds. Bin mir aber nicht sicher ob du ihn dort antreffen wirst, da er seit geraumer Zeit entfernt von Zuhause lebt." Svenja bedankte sich und war froh, dass Daniel keine weiteren Fragen gestellt hatte. Da sie sowieso nichts Besonderes vorhatte, beschloss Svenja gleich in den Grunewald zu fahren. In dem alten Opel Corsa passierte sie wenig später das Jagdschlösschen, Wahrzeichen der reichsten Wohngegend Berlins. Nachdem sie zweimal falsch abgebogen war, kam endlich das Straßenschild "Schildhornweg" und sie fuhr bis zur Nummer 31 weiter. Sie musste den Wagen vor dem riesigen Grundstück abstellen, welches von einem schwarzen Eisenzaun umrandet war. Auf dem Gelände befand sich eine Villa, die Svenja von der Bauart her an ein schottisches Cottage erinnerte. Sie steuerte auf das große Eingangstor zu, drückte den Klingelknopf unter dem Namen Garde und wartete. Einen Augenblick später meldete sich eine Frauenstimme mit leicht osteuropäischem Akzent: "Was kann ich für Sie tun?" "Ich hätte gerne Olaf Garde gesprochen", antwortete Svenja und war erstaunt, dass sich das Tor so schnell öffnete. Sie folgte einem gepflasterten Weg und erkannt die blondhaarige Haushälterin, die soeben die Tür geöffnet hatte. "Da haben Sie aber Glück, dass der Olaf zur Zeit wieder zu Hause wohnt. Kommen Sie rein". Svenja betrat eine große Empfangshalle, die mit einem edlen Steinboden ausgelegt war. Neben einem blau karierten Ohrensessel spendete ein knisterndes Kaminfeuer wohlige Wärme. Als Raumteiler zum Wohn-und Essbereich fungierte ein großes, rotes Bücherregal, das von oben bis unten mit sämtlichen Schriftstücken vollgestopft war. Svenja fühlte sich vom Heim des Punkers ein wenig verzaubert und lugte durch eine Regallücke ins Wohnzimmer. Dort erblickte sie einen älteren Herren in einem strahlend weißen Hemd und dichtem grauen Haar, der gerade in eine Zeitung vertieft war. "Frau Waziri, wer war das gerade an der Tür?", kam es vom alten Leinensofa. "Das war ich", antwortete Svenja an Stelle der Haushälterin und trat hinter dem Regal hervor. Olafs Vater erhob sich, kam auf sie zu und hielt ihr die Hand zur Begrüßung hin. Dabei erkannte Svenja furchige Stirnfalten, die von harter Arbeit sprachen. "Ich bin Olafs Lehrerin Svenja Christensen und würde gerne mal mit Ihrem Sohn sprechen." "Was hat der Kerl denn jetzt schon wieder angestellt?" "Nichts, ich muss einfach mit ihm sprechen", entgegnete sie."Nehmen Sie die Treppe. Gleich die erste Tür auf der linken Seite." Ohne zu zögern, tat Svenja wie befohlen und erklomm die Wendeltreppe in den ersten Stock. Aus der besagten linken Tür drang leise Rockmusik und Svenja kündigte ihren Besuch durch ein lautstarkes Klopfen an. Mit: "Ja, Dad was ist willst du schon wieder? Ich habe die Musik doch leiser gedreht!", wurde Svenja stattdessen begrüßt und konnte sich ein Bild vom Vater-Sohn-Verhältnis der beiden machen. "Olaf, ich bin's Frau Christensen." Etwas perplex drehte sich der Teenager von seinem Laptop um, wo vor einigen Sekunden noch eine harte Kampfschlacht stattgefunden hatte, was Svenja an den vielen Leichen und Waffen feststellen konnte. " Ähm Frau Christensen, mit Ihnen habe ich hier am allerwenigsten gerechnet", fand Olaf seine Sprache wieder und bot seiner Lehrerin einen Sitzplatz in einem schwarzen Ledersessel an. "Ich bin eigentlich nur gekommen, um dich", sie kramte das Klassenfoto aus ihrer Tasche, "zu fragen, ob dies hier der Mann ist, den du und deine Freunde gesehen habt? Er müsste heute natürlich etwas älter aussehen." Angestrengt studierte Olaf das Foto und erwiderte: "Ja, das ist er! Was wollen sie von dem Schwein?" Selbst erschrocken über diese Worte, senkte er seinen Kopf und strich sich die Jogginghose glatt. "Ich wollte nur deine Bestätigung." "Was haben Sie jetzt vor, doch nicht etwa da hin fahren und dem Typen in die Arme laufen!", rief er aufgebracht. "Das ist meine Sache. Ich werde jetzt aufbrechen", Svenja schickte sich an zur Tür zu gehen, doch Olaf sprang auf und versperrte ihr den Weg. "Lass mich bitte durch!". "Nein! Sie werden da auf keinen Fall alleine hinfahren. Ich komme mit!", Olafs Augen bekamen ein abenteuerliches Leuchten. "Das ist viel zu gefährlich für dich!" "Und für Sie etwa nicht? Das ist doch lächerlich. Wissen Sie überhaupt, wie man in eine abgeschlossene Wohnung kommt? Nein!" "Vielleicht brauch ich das auch gar nicht", konterte Svenja. "Und dann klingeln Sie mal eben so und sagen:" Hallo, ich bin die Schwester von ihrem letzten Opfer und wollte einfach mal vorbeischauen, wie ein Serienmörder so haust". "Nein, so wollte ich das sicherlich nicht machen". "Also nehmen Sie mich mit, es führt kein Weg daran vorbei". Svenja wusste kein schlagfertiges Gegenargument mehr und stieg zusammen mit Olaf in den alten Corsa. Tahir Jacobson lebte in einer schäbigen Wohngegend Kreuzbergs. Svenja parkte in einer engen Parklücke und steuerte in Begleitung Olafs das bröckelnde Mietshaus an. Als sich die Eingangstür öffnete und eine ältere Frau erschien, kam ihr eine Idee: "Entschuldigen Sie", die Alte schaute sie misstrauisch an. "Wissen Sie zufällig, ob Herr Jacobson gerade in seiner Wohnung ist?" "Ich dacht se wärn so ne olle Vertreterin. Der Jacobson hat vorhin das Haus verlassen. Tut mir leid". Bevor die Tür ins Schloss fiel sagte Svenja: "Dann werde ich oben auf ihn warten". "Tun se was se nich lassen können", antwortete die Frau und machte sich mit einer Tragetasche vermutlich auf den Weg zum Supermarkt. "Das hätt' ich Ihnen gar nicht zugetraut", kommentierte Olaf die Szene und Svenja musste lächeln. Als sie jedoch vor der Wohnungstür ankamen, entwickelte sich eine leichte Anspannung in ihr. "So, dann wollen wir mal", flüsterte Olaf und zückte eine Dietrich aus seiner Jackentasche. Geschickt wie ein Profi werkelte er einige Minuten an dem Türschloss herum, während Svenja immer wieder unsichere Blicke hinter sich warf. Endlich machte es "Klick" und sie konnten in einen dunklen Flur eintreten. "Ich zieh' mal alle Gardinen zu. Es muss ja keiner wissen, dass wir hier sind", Olaf betrat den nächstgelegenen Raum. "Es war anscheinend nicht sein erster Einbruch", ging es Svenja durch den Kopf, als sie sich vorwärts bewegte. Hinter der Tür geradeaus befand sich das Wohnzimmer. Es war ganz in grau gehalten und mit wenigen Möbeln bestückt. "Oh Gott!", als Svenja näher trat, erkannte sie ihre Schwester, die inmitten vieler weiterer Fotos und Notizen an der Wand angebracht war. Hier hatte jemand ganz genau geplant. Das Leben seiner Opfer bis aufs Kleinste ausspioniert. Zusätzlich hatte der Täter einen Stadtplan von Berlin aufgehängt, auf dem die Siegessäule, der Washingtonplatz und die Ernst-Schering-Schule mit einem roten Filzstift markiert worden waren. Die Eingangstür fiel erneut ins Schloss. Hatte Olaf sie im Stich gelassen? Panik stieg in ihr auf und Svenja spürte, dass sie nunmehr zu dritt in der Wohnung waren. Sie huschte in die gegenüberliegende Ecke des Raumes und erschreckte sich fast zu Tode, als Olaf vor dem Türrahmen erschien, den Zeigefinger als Aufforderung keinen Laut von sich zu geben, auf die Lippen gelegt. Schritt für Schritt arbeitete sich Svenja an der Wand lang, bis sie die Tür erreichte und in den nächsten Raum flüchtete. Es war das Schlafzimmer und sie versteckte sich dort hinter einer großen Holzkommode. "Was machst du hier?", eine dunkle Stimme hallte durch den Raum, die ihr die Nackenhaare aufsteigen ließ. Darauf folgte ein dumpfer Schlag und sie hörte, wie jemand stöhnend zu Boden ging.
Der Samstag war für die Berliner Kommissare ernüchternd zu Ende gegangen. Mit einem abfälligen: "Tolle Klamotten hast Du an! Gibt's die auch für Männer wie uns?", hatte Dimitri Punschke versucht Nicolas zu provozieren. Ein überhebliches Grinsen auf dem Gesicht, hatte er Samstagabend das Kommissariat zusammen mit seinem Kumpel Patrick Mayr verlassen. Es lagen keine handfesten Beweise vor, die sie noch länger festgehalten hätten. Über Nacht hatte es wieder angefangen zu regnen und Nicolas trat mit einem klatschnassen Regenschirm seine Sonderschicht am Sonntag an. "Schön, dass Sie es auch einrichten konnten", begrüßte Herr Laumann ihn und widmete sich sogleich wieder seiner Schreibtischarbeit. "Morgen Nicolas", kam es kauend aus der hinteren Büroecke. Ellie aß wie jeden Morgen einen saftigen und vitaminreichen Obstsalat. Unter ihrem Tisch lugten zwei knallrote Gummistiefel vor. "Genau die richtige Ausrüstung für dieses Scheißwetter", dachte Nicolas und holte sich einen Kaffee in seiner grünen Tasse. "Passend zu diesem Sonntag, muss es auch noch so heftig regnen. Ich will endlich richtigen Frühling haben", jammerte Ellie und biss in ein Apfelstück. "Was steht für heute auf dem Plan?", kam es vom Papagei, der seine Kollegen neugierig anstierte. "Wir müssen uns noch diesen Olaf Garde vorknöpfen. Ich glaube seinen beiden Freunden die Geschichte nicht und bin gespannt, was er selbst dazu zu sagen hat", warf Nicolas ein. Ellie fuhr fort: "Wir müssen das Umfeld der Opfer noch einmal durchkämmen, vielleicht haben wir irgendwo etwas Wichtiges übersehen." Der Papagei nickte und kratze sich an seinem fast kahlen Kopf. "Die KTU wird noch den Abschlussbericht vom letzten Leichenfundort schicken. Ich bezweifle aber, dass die was Neues entdeckt haben." Die eintretende Stille wurde durch das Klingeln von Nicolas Telefon gestört, der sich daraufhin mit "Nicolas Abendstern. Mordkommission Berlin. Was kann ich für Sie tun?" meldete. "Kara Pärson hier. Ich rufe wegen Svenja Christensen an", Nicolas horchte auf. "Sie war gestern bei mir und muss dort mein Adressbuch und mehrere Klassenfotos mitgenommen haben. Seitdem habe ich sie nicht mehr erreicht. Ihr Schwager Marcel Helmer hat auch nichts von ihr gehört." Ein ungutes Gefühl beschlich Nicolas. "Möchten Sie eine Vermisstenanzeige aufgeben?" "Das wäre vielleicht eine Möglichkeit. Ich hoffe doch, ihr ist nichts passiert. Das Seltsamste war aber, dass sie gezielt nach einem der Personen auf den Fotos gefragt hat. Ein ehemaliger Klassenkamerad von mir. Sein Anblick muss sie irgendwie erschrocken haben, da sie unbedingt den Namen von mir wissen wollte". "Wie heißt denn der Gute?", fragte Nicolas etwas genervt darüber, der Frau alles aus der Nase ziehen zu müssen. "Sein Name ist Tahir Jacobson. Soweit ich weiß, lebt er seit einigen Jahren hier in der Stadt." "Danke für Ihren Hinweis. Wir werden dem so schnell es geht nachgehen", verabschiedete Nicolas sich. An Ellie gewandt sagte er: "Kannst du mal schnell den Namen Tahir Jacobson nachschlagen?" Er selbst beschäftigte sich derweil mit der Vermisstenanzeige. Hoffentlich war Svenja Christensen nichts passiert. "Wer kümmert sich jetzt um diesen Garde?", schimpfte Herr Laumann ungehalten, worauf Nicolas nur "Immer der, der fragt" antwortete und sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. In der Zwischenzeit kam der Bericht der KTU an, der wie vorausgesagt keine weiteren Hinweise enthielt. "Tahir Jacobson. 32 Jahre und gemeldet in der Hedemannstraße 62", las Ellie ihr Rechercheerbenis den Kollegen vor. "Aktenkundig durch ein paar Handgreiflichkeiten, was aber schon ein paar Jahre her ist." "Ich hab' da noch was viel brisanteres", berichtete der Papagei mit einer überheblichen Drehung auf seinem Schreibtischstuhl. "Unsere Frau Christensen ist heute Vormittag bei Olaf Garde aufgetaucht. Laut dem Vater, sind beide in ihrem Wagen weggefahren. Das sieht ganz schön nach eigener Ermittlung aus." Waren die beiden der Polizei einen Schritt voraus und hatten sich in Gefahr gebracht? Diese Frage ließ die Kommissare fortan nicht mehr los. "Da wir ja sonst nichts weiter zu tun haben, schlage ich vor, dass Sie Herr Abendstern in Begleitung meiner selbst dem Herrn Jacobson einen Besuch abstatten. Frau Krone, Sie halten die Stellung hier!" Bevor die zwei das Büro verließen, gab Ellie ihnen noch Kennzeichen und Beschreibung, des auf Frau Christensen angemeldeten Wagens, mit. "Hier möcht' ich ja auch nicht hausen", kommentierte Herr Laumann die trostlosen, heruntergekommenen Wohnblocks in Kreuzberg. Nicolas gab nur ein Nicken von sich und versuchte die ganzen 504 Ps, die sich unter Jessicas Haube befanden, auszunutzen, um schnellstmöglich in die Hedemannstraße zu gelangen. Er spürte nämlich, dass ihnen die Zeit davon zu laufen schien. "Das ist doch die Karre der Christensen!", rief der Papagei aufgebracht und erschreckte dabei Nicolas, sodass dieser nur knapp hinter einem bremsenden Auto zum Stehen kam. "Hundert Pro, dass die bei dem Jacobson sind. Wir brauchen auf jeden Fall Verstärkung vom SEK. Wenn der Typ der Mörder ist, kann ich für nichts garantieren." "Sagen Sie denen aber, dass sie möglichst unauffällig hier aufkreuzen sollen. Es muss ja nicht jeder wissen, was wir hier vorhaben", befahl Nicolas seinem Chef und schaute ungeduldig auf den Block Nummer 62, während sie auf die Verstärkung warteten. Der Einsatzleiter des SEKs kleidete sie mit kugelsicheren Westen ein und zusammen mit einer Horde weiterer Polizisten im Rücken, betraten die beiden das Haus. Herr Laumann klingelte an der Wohnungstür, worauf keine Regung zu hören war. "Hätt' ich mir ja denken können, dass der uns nicht nett hereinbitten wird", fluchte der Papagei. Aus dem inneren der Wohnung war ein Schrei zu hören. Panik befiel Nicolas. Ohne zu zögern, zielte Laumann mit seiner Waffe auf das Türschloss, das von einem ohrenbetäubenden Knall gesprengt wurde. Hinter der Tür waren Schritte zu vernehmen und Nicolas öffnete diese nur Stück für Stück. Ungeduldig trat der Papagei die Tür beiseite und beide guckten in das völlig verängstigte Gesicht von Svenja Christensen. Unter ihrem Kinn blitzte etwas metallisches auf. Hinter ihr stand er, König Drosselbart. "Polizei, keinen Schritt weiter!", versuchte der Papagei den Mann zur Vernunft zu bringen. Vergebens. Ein verächtliches Lachen war zu hören und er verstärkte den Griff um sein Opfer. Augen voller Verzweiflung bohrten sich in Nicolas. Tahir Jacobson schien ziemlich gestört zu sein und damit auch sehr gefährlich und unberechenbar. "Ich werde hier gar nichts für Sie tun!", schrie er und spuckte den Kommissaren vor die Füße. In seinen dunklen Augen war völliger Wahnsinn abzulesen. "Verschwindet von hier oder sie wird sterben!" Nicolas wusste nicht, was er tun sollte. Er hielt es für keine gute Idee, das SEK einschreiten zu lassen, da der Täter Svenja Christensen in seiner Gewalt hatte. "Und jetzt die Dienstwaffen her!", befahl Tahir Jacobson. Ein leises Wimmern drang aus Frau Christensens Kehle und sie strampelte verzweifelt mit ihren Beinen, was den Mann hinter ihr noch wütender machte. Nicolas tat wie geheißen, holte seine Waffe raus, legte sie auf den Boden und kickte sie von sich. "Gute gemacht und jetzt Sie!", Laumann hatte ebenfalls die Waffe in der Hand. Ehe Nicolas begreifen konnte, was sein Chef vorhatte, ging ein Schuss los. Tahir Jacobson ging mitsamt seinem Opfer zu Boden. Blut floss ihm aus dem Mund und er stotterte in seinen letzten Atemzügen: "Norwegen wird für das bezahlen, was es mir angetan hat!" Der Papagei hatte ihn einfach erschossen, wurde es Nicolas bewusst. Eiskalt. Die Leute des SEKs, angelockt von dem Lärm, erschienen im Türrahmen. Ihre Arbeit war bereits getan. Nicolas eilte zu Svenja Christensen, half ihr auf und gab sie in die Obhut eines weiteren Kollegen. "Olaf, da hinten", stammelte sie und Nicolas ging in die Richtung, in die sie zeigte. Im Wohnzimmer sah er den jungen Punker auf dem Teppich liegen. Beklemmt beugte er sich über ihn und fühlte erleichtert einen schwachen Puls. Er schaute sich in dem Raum um und entdeckte ebenfalls die mit Notizen bestickte Wand. "Was hatten die Norweger Tahir Jacobson angetan, um ihn zu so etwas Grausamen zu bewegen?", ging es Nicolas durch den Kopf. Der Notarzt traf ein und kümmerte sich um die beiden Opfer. Olaf Garde musste ins Krankenhaus gebracht werden. Verdacht auf Schädelbruch. Er hatte großes Glück gehabt, dass er den harten Schlag überlebt hatte. Svenja Christensen bestand darauf, nach Hause gebracht zu werden. Diese Aufgabe wollte Nicolas persönlich übernehmen. "Wie sind Sie auf Tahir Jacobson gekommen?", fragte er sie während der Autofahrt. "Olaf hat ihn mir beschrieben. Er und seine Kumpels haben ihn an dem Morgen erkannt. Die zwei haben übrigens versucht ihn zu erpressen, aber doch gemerkt dass er eine Nummer zu groß für sie war", müde lehnte sie ihren Kopf gegen die linke B-Säule des Autos. "Es war ein Fehler zu denken, dass wir das alleine ohne Sie hinkriegen würden", schluchzte Svenja. "Olaf hätte jetzt tot sein können und ich wäre schuld daran!" "Jeder macht Fehler", versuchte Nicolas sie zu beruhigen und konnte nur erahnen, was sie in den letzen Stunden durchgestanden hatte. "Das müssen Sie sich mal vorstellen. Er hat die ganzen Leute nur aus dem Grund umgebracht, weil sie ihn früher angeblich schlecht behandelt haben und er nur durch sie armer Straßenmusiker geworden ist, der eben so über die Runden kommt." Einfach nur schrecklich, was so etwas aus einem Menschen machen kann", resultierte Nicolas und konnte kaum begreifen, dass sie den Fall endgültig abgeschlossen hatten. König Drosselbart wurde gestürzt und die Zeit würde die Wunden heilen, die er den Angehörigen seiner Opfer zugeführt hatte. Er hielt vor dem Studentenheim und half Frau Christensen beim Aussteigen. "Tante Svenja, wir sind wieder zurück von Oma und Opa!", ein kleines Mädchen kam auf sie zugelaufen und sprang Svenja in die Arme. Sie streichelte der Kleinen sanft über den Kopf und sagte: "Ja, meine Süße. Es ist alles vorbei." Ein Mann war ebenfalls aus dem Haus getreten. Nicolas verabschiedete sich und ließ die Familie allein. Auf dem Nachhauseweg konnte er die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht spüren, die sich durch die Regenwolken gekämpft hatten. Hoch über Berlin strahlte ein Regenbogen in seinen unterschiedlichsten Farben. Nicolas gähnte und ihm wurde bewusst, wie anstrengend dieser zweite Fall in Berlin gewesen war. Ende.
DangerousInc Ich bin zwar noch nicht weit gekommen, klingt aber interessant... |
Julietta Re: ***** - Zitat: (Original von FLEURdelaCOEUR am 06.11.2012 - 16:59 Uhr) Auch mir gefällt deine Geschichte sehr gut, du schreibst sehr plastisch, man sieht einen Film vor sich ablaufen .... Liebe Grüße fleur Danke für deine netten Worte :) Ja, für mich ist es wichtig, dass die Leser ein Bild vor Augen haben, wenn sie mein Buch lesen :) lg Julietta |
FLEURdelaCOEUR ***** - Auch mir gefällt deine Geschichte sehr gut, du schreibst sehr plastisch, man sieht einen Film vor sich ablaufen .... Liebe Grüße fleur |
Julietta Re: ... - Zitat: (Original von adventor89 am 03.11.2012 - 17:31 Uhr) Herzlich willkommen! Dein Schreibstil gefällt mir. Kleine, banale Details kommen interessant rüber und ermüden in keinster Weise. Besser als in Deinem ersten Buch finde ich auch, dass Du jetzt in kleinen Kapiteln veröffentlichst. Das macht die Geschichte spannender ( nach der erwartungssteigernden Einleitung). Nachdem ich mich momentan auch mit norwegischen Liedern beschäftige, sind Deine Liedzeilen und die herauszulesende nordische Lebensart eine besondere Begegnung. Bin gespannt, wie es weitergeht. Viele Grüße Michael Hallo Michael, danke für deinen netten Kommentar ;) mich fasziniert das Land Norwegen auch und deshalb habe ich es als Grundlage für dieses Buch genommen....für mich ist es auch echt wichtig, Dinge zu beschreiben, damit sich die Leser ein Bild machen können :-) Ha det! und lg Julietta |
adventor89 ... - Herzlich willkommen! Dein Schreibstil gefällt mir. Kleine, banale Details kommen interessant rüber und ermüden in keinster Weise. Besser als in Deinem ersten Buch finde ich auch, dass Du jetzt in kleinen Kapiteln veröffentlichst. Das macht die Geschichte spannender ( nach der erwartungssteigernden Einleitung). Nachdem ich mich momentan auch mit norwegischen Liedern beschäftige, sind Deine Liedzeilen und die herauszulesende nordische Lebensart eine besondere Begegnung. Bin gespannt, wie es weitergeht. Viele Grüße Michael |