Phantastische Novelle aus Zeit und Ewigkeit Entdeckt von Paul A. Karlmann
Wohl alle Religionen versprechen ihren Anhängern irgendeine Art Paradies im Jenseits, ohne glaubwürdige Belege dafür vorweisen zu können. Ihre heiligen Bücher – selbst wenn sie angeblich vom Himmel gefallen sind oder von Engeln diktiert wurden – geben nur sehr verschwommene Auskünfte, die kein vernünftiger Mensch ernst nehmen kann. Freilich, je schlechter oder bedrohlicher die Zustände auf der Erde werden, umso mehr Glauben finden diese Illusionen.
Ich hatte bisher keinen Anlass, mich solchen Spekulationen zu widmen und betrachte Religion und Kirche nur als eine besonders perfide Art der Geldschneiderei und Machtausübung. Aber dann fand ich diese Schrift. Ihre Herkunft und ihr Inhalt sind mir total rätselhaft und unverständlich.
Wahrscheinlich ist das an dem Nachmittag passiert, als ich es mir auf der Terrasse mit meinem Notebook bequem gemacht hatte. Ich wollte endlich mal unsere Urlaubsbilder sichten und sortieren, da klingelte das Telefon. Dumm, dass ich es nicht mit runter genommen hatte, also musste ich rauflaufen. Als ich abhob – es war wieder nur so ein Anruf eines Versandhauses – klingelte es unten an der Haustür. Ich legte auf und lief wieder runter, um zu öffnen. Draußen auf der Straße stand ein schweres, ungewöhnliches Motorrad und ich sah wie ein Mann nach hinten um die Ecke unserer Reihenhäuser verschwand. Ich ging auch schnell durch das Haus nach hinten – sah aber niemanden mehr, hörte nur noch das Motorrad anspringen und davonbrausen.
Ich fühlte mich etwas veralbert und schaute mich besorgt um – mein Notebook stand noch auf dem Gartentisch.
Also machte ich mich wieder an meine Bilder. Zwischen ihnen, auch als JPG's, fand ich dann diese eigenartigen Texte.
Was sollte ich damit machen? Dem Pastor zeigen, mit dem ich locker bekannt bin? Unmöglich, was soll er von mir denken! Einer von der Kirche kann das nicht geschrieben haben. Es ist keine heilige Schrift, ganz im Gegenteil, was der Leser bald merken wird.
Also besorgte ich mir selbst eine Bibel – über Amazon, denn in der Buchhandlung war es mir zu blöd – und habe sie etwas quergelesen, aber mich nicht zurechtgefunden. Und nun? Löschen!
Warum weiß ich nicht, aber vorher bemühte ich doch noch ein OCR-Programm und stellte alles zusammen in eine Textdatei. Ja, ich habe die skurrilsten Sachen etwas entschärft und versucht, das ganze durch ein paar Zwischenüberschriften aufzulockern.
Das Schwierigste war der Titel. Bis ich ganz oben im Regal bei den DDR-Büchern einen alten Roman von Franz Werfel entdeckte. Allerdings möchte ich das hier weder im Umfang noch in der Qualität mit ihm vergleichen.
Lesen kann man es vielleicht, dieses naive Geschreibsel, ist eben ein Märchen.
Oder soll ich das glauben?
Seltsam ist nur – das bringt mich immer wieder ins Grübeln – ich habe wirklich zwei Brüder, einen Eric und einen Erwin.
Ich verstehe es nicht.
Paul A. Karlmann
31. Mai 2012
Ich erwachte auf einem großen Stein, einem Felsen. Entweder war es kein Stein oder er war so perfekt geformt, dass ich keinerlei Härte oder Unbequemlichkeit spürte. So einen Stein muss Jakob unter dem Kopf gehabt haben, als er von der Himmelsleiter träumte, ging es mir durch den Kopf.
Aber der Stein war noch nicht alles: Mich erfüllte ein unbeschreibliches Gefühl der Freiheit, der Zufriedenheit, ganz einfach: Glück. Besonders das Gefühl der unendlichen Freiheit war mir ganz neu. Die ganze Welt stand mir offen und ich hatte Zeit, viel Zeit.
Mein Blick schweifte über eine lichte Sommerwiese, besser gesagt eine blühende Graslandschaft. Unmittelbar vor mir führte ein Weg und ein Bach nach links an einem Waldrand entlang in die unbestimmte aber lockende Ferne einer bergigen Waldlandschaft. Über mir breiteten sich die Äste einer mächtigen Eiche aus.
Ich holte mehrmals tief Luft und rieb mir die Augen. Wo war ich?
Einerseits wollte ich aufstehen und den interessanten Weg nach rechts oder links erkunden, andererseits war es so gemütlich auf dem warmen und bequemen Felsen. Vor allem kam zum Gefühl der Freiheit noch das Bewusstsein einer Zeitlosigkeit, besser gesagt einer unerschöpflichen Zeitfülle. Diesem nicht in Worte zu fassenden Gefühl hing ich eine ganze Weile nach. Am linken Arm bemerkte ich meine Uhr, ihre Zeiger, einschließlich des Sekundenzeigers standen alle still - auf der Zwölf. Das wunderte mich etwas, passte aber genau zu meinem neuen Zeitgefühl. Ohne weiter nachzudenken, machte ich die Uhr ab und warf sie in den Bach, was mich noch mehr erleichterte.
„Brauchst sie wohl nicht mehr, deine Uhr?“ Ich wandte mich überrascht nach rechts, der Stimme entgegen. „Uhren braucht man hier auch, aber diese ist wirklich nicht mehr zu gebrauchen. Muss sie wohl gestern vergessen haben, dir abzunehmen. Von dort soll eigentlich nichts mit hierher kommen.“ Gestern und dort – diese Worte klangen seltsam, wie abgrundtiefe Vergangenheit. Gestern.
„Wer bist du?“ fragte ich etwas zögernd die Gestalt, die hinter mir aus dem Wald trat. „Ich bin Jojakim, wir kennen uns doch schon lange, das heißt, gestern, da hast du mich das erste Mal gesehen.“ Ich versuchte in meinen Gedanken mit dem Gestern klar zu kommen, was mir nicht so recht gelang. Es war zu viel geschehen. Freilich diese hochgewachsene Person kam mir bekannt und vertraut vor und ich atmete erleichtert auf. Er merkte es und sagte: „Ja, nun kannst du ausruhen, du bist gerettet.“
„Wie geht es dir, wie fühlst du dich? Hast du Hunger?“ An Essen und Trinken hatte ich bisher noch nicht gedacht. Ich nickte trotzdem und hatte auch gleich das entsprechende Gefühl. „Ich habe alles dabei.“ Er zog einen flachen Gegenstand aus einer Tasche seines silbergrauen Overalls, den ich zuerst für eine Art Smartphone hielt. Er klappte ihn auf, mehrmals so schien mir zumindest – und plötzlich stand etwas wie ein komfortabler Campingtisch mit zwei entsprechenden Sesseln vor uns. „Nimm Platz, jetzt kommt das Essen!“ Er hielt das „Smartphone“ über den Tisch, betätigte irgendwelche Sensoren – und – ja, mir fiel sofort das „Tischlein-deck-dich“ ein. Genauso war es. Speisen und Getränke waren plötzlich erschienen, alles perfekt gedeckt. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus.
Wir nahmen Platz und der Geruch des Essens machte mir mächtigen Appetit, so dass ich den kühlen Luftzug, der meine Ohren streifte, nicht weiter beachtete. Es gab Klöße mit reichlich Gemüse und Fleisch, zumindest hielt ich es im ersten Moment dafür. Jojakim strahlte mich an, als er meine Überraschung bemerkte. Er blickte auf, kehrte die Handflächen nach oben und sagte einfach: „Danke, Vater.“ und zu mir: „Hau rein, lass es dir schmecken“.
Ich hatte wirklich Hunger und es schmeckte ausgezeichnet. Das „Fleisch“ war kein Fleisch, sondern eher eine Art Frucht und schmeckte ganz herzhaft. Mein Gegenüber meinte: „Ich habe versucht, dir etwas Vertrautes zu besorgen, wie findest du es?“
„Oh, danke, ganz wunderbar.“ Er aß auch, aber mir schien ohne rechte Begeisterung. „Wird hier immer auf diese Weise das Essen bereitet und gegessen?“
Sein „Ja“ kam etwas gedehnt: „Es ist ganz unterschiedlich, du weißt, die Geschmäcker sind verschieden. Das Essen ist eigentlich nicht wichtig.“
Ich ließ es mir trotzdem weiter schmecken. „Wo kommt das her, wie wird es produziert?“ „Nun, du weißt doch sicher, dass die Materie prinzipiell beliebig umgewandelt werden kann. Alle erforderlichen Elementarteilchen sind da, es braucht also nur die entsprechende Information und dann kann alles hergestellt werden. Und natürlich Energie, deswegen wurde es eben etwas kühler.“
Für einen Moment vergaß ich nun doch das Kauen und Schlucken: „Das ist ja ein Wunder!“
„Nein nein, das ist nichts Wunderbares, keine Zauberei, nur Technologie. Wunder sind etwas ganz anderes.“
Ich verzichtete vorerst auf weitere Fragen und widmete mich weiter den Speisen und dem Getränk, das in einem großen Glas vor mir stand. Es war prickelnd, fruchtig und erfrischend. Alles synthetisch, ging es mir durch den Kopf. Jojakim schien meine Gedanken zu ahnen und sagte: „Natürlich werden Lebensmittel auch auf die dir bekannte Art und Weise hergestellt, also Landwirtschaft und das alles. Aber wie gesagt, es ist nicht so wichtig.“
Im Stillen war ich anderer Meinung oder verstand ganz einfach nichts.
Gesättigt lehnte ich mich zurück und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Jojakim räumte ab, indem er wieder mit seinem „Smartphone“ hantierte. Dann fragte er mich: Wollen wir weiter oder willst du dich noch etwas ausruhen? Körperlich fühlte ich mich gestärkt und erfrischt aber in meinem Kopf kreiselten viele Fragen, für die mir ganz einfach die Worte fehlten. Auch versuchte ich meine Erinnerungen an das „Gestern“ zu sortieren, was noch schwerer war.
Die Schießerei am Hauptbahnhof. Die vielen toten Kinder. Die großen Eisbrocken, die nicht tauen wollten, obwohl die Sonne stechend schien. Wie geht es meiner Frau?
Ich atmete tief durch und Jojakim bemerkte: „Du kannst und sollst dich jetzt nicht erinnern. Komm, wir gehen los, vielleicht finden wir noch einen Nachtisch, keinen synthetischen.“
Inzwischen hatte er Tisch und Stühle verschwinden lassen und ich saß wieder auf dem mir so vertrauten Felsen. Ich schüttelte die verworrenen Gedanken ab und spürte wieder die unendliche Erleichterung. Endlich hatte ich Zeit, besser gesagt, sie interessierte mich nicht. Auch erfüllte mich eine unbändige Freude und Neugier, die mich nun nicht mehr auf dem Felsen stillsitzen ließ.
Ein knirschendes Geräusch rechts hinter uns im Wald – ich drehte mich um – und sah einen Radfahrer in flottem Tempo den Weg herunterkommen. Er, zwar nicht in der blauen Arbeitskombi, aber sonst wie immer, hob lässig die Hand zum Gruß und war schon vorbei. Ich war sprachlos. Völlig verdattert schaute ich meinen Mentor an. „Der ist auch hier?“
„Klar, warum nicht, du kennst ihn doch.“
Freilich erinnerte ich mich, er fuhr ja regelmäßig auf dem Waldweg an unserem Haus vorbei zur Arbeit und zurück. Allerdings nicht immer so zügig, sondern oft sehr schwankend. Manchmal lag das Rad auf der einen Seite des Weges und er auf der anderen, um seinen Rausch auszuschlafen. An guten Tagen hat er sich gern mit mir und oft auch mit meiner Frau unterhalten.
Jetzt war ich aber völlig perplex, ihn hier zu treffen. Ich wollte Jojakim fragen, aber jedes Wort kam mir irgendwie dumm vor. Am liebsten hätte ich gefragt: Wo bin ich eigentlich?
„Gehen wir?“ fragte Jojakim. Ja, ich war neugierig, wo dieser Weg durch die schöne Landschaft hinführte. Wir bogen um eine mit Sträuchern bewachsene Ecke des Berghanges. „Hier wächst der versprochene Nachtisch.“ „Oh, Brombeeren!“ Der Hang war mit einem dichten Dornengebüsch bewachsen, das reichlich Beeren trug. Ich pflückte mir gleich eine Handvoll. So gut wie sie aussahen, schmeckten sie auch. Jojakim freute sich mit mir und kostete eine. Ich kraxelte den Hang noch ein Stück weiter hinauf, um noch an einen lockenden Zweig voller Beeren heranzukommen. Als ich mich ausstreckte und noch einen Schritt nach oben steigen wollte, rutsche unter meinem linken Fuß ein Stein weg, ich verlor das Gleichgewicht - und geriet mit der rechten Hand in die Dornen. Es war so ein trockener Zweig, wo die Dornen besonders hart sind.
„Aua“ rief ich und besah mir den Schaden. Etliche Kratzer zogen sich über die weiche Innenfläche des Handgelenks. Schon kamen ein paar Tröpfchen Blut. In der Handfläche staken ein paar Dornen, die ich schnell raus zog.
Jojakim besah sich die Wunden. „Das brennt wohl?“
„Mhm, ist nicht so schlimm.“ Ich schaute nachdenklich auf meine Kratzer, die tatsächlich sehr brannten. Instinktiv wischte ich das Blut an meiner Hose ab. Stand nicht irgendwo geschrieben: 'Es wird kein Schmerz mehr sein...'?
Jojakim nahm meine Hand und wir sahen, wie sich die Wunden zusehend schlossen, auch der Schmerz ließ rasch nach. Ich atmete wieder einmal tief durch. Er schaute mir in die Augen und sagte: „Schmerz im eigentlichen Sinne war das doch nicht?“
„Nein, nein, war nicht schlimm, ich war nur erschrocken.“
„Den wirklichen, existentiellen Schmerz gibt es hier tatsächlich nicht.“
„Kannst du eigentlich Gedanken lesen?“
„Nein, nein, aber weil ich dich gut kenne, kann ich mit ziemlicher Sicherheit erraten, was du wohl gerade denkst.“
„Ja, ich war nur über meine Unvorsichtigkeit und den kleinen Schmerz verwundert.“
„Das kann vorkommen, wir sind alle nicht vollkommen. Vollkommen ist nur einer, unser großer Vater.“
Wir gingen weiter und hatten dann nach rechts einen herrlichen Ausblick über ein weites Tal. Mit meinen Gedanken war ich aber immer noch bei den kleinen Kratzern, obwohl ich an der Hand schon nichts mehr spürte. „Warum haben Brombeeren eigentlich Dornen?“
„Sie gehören zur Familie der Rosengewächse und Rosen haben bekanntlich Dornen, das heißt, biologisch sind es genau genommen Stacheln.“
„Ja, aber wofür brauchen sie die Stacheln?“
„Nun, auf der Erde dienen sie der Abwehr von Fressfeinden, also Tieren. Hier in unserer Modellbiosphäre haben wir keine Tiere übernommen, aber die Pflanzen im wesentlichen in ihrem Originalzustand.“
„Keine Tiere? Modellbiosphäre?“ schaute ich ihn fragend an.
„Du willst nun deinen Crashkurs in himmlischer Biologie.“ Jojakim holte tief Luft und begann: „Wir hatten die Aufgabe, euch Menschen einen angenehmen, aber doch nur vorübergehenden, also räumlich und zeitlich begrenzten Aufenthaltsort einzurichten; eine ganz spezielle Brane in der ewigen Unendlichkeit, würden die Physiker sagen. Die Biologen wollten es sich wirklich einfach machen und haben hier auf die Tiere verzichtet. Was an anderer Stelle wieder Probleme macht und zusätzliche Eingriffe erfordert, denke nur an die Bestäubung der Blütenpflanzen. Aber sie haben es ganz gut hingekriegt. Die Brombeeren haben dir doch geschmeckt.“
Ja wirklich, ich schaute mich um, keine Tiere. Keine Insekten auf den vielen blühenden Pflanzen und Vögel hatte ich auch noch nicht gehört, fiel mir erst jetzt auf.
„Auf der neuen Erde ist selbstverständlich die Biosphäre in ihrem ganzen Kreislauf wieder komplett und so vollkommen, wie du sie von der alten Erde gar nicht kennst. Da machen die Stacheln an den Brombeeren auch wieder Sinn, damit sie ihren Platz im ökologischen System behaupten können.“
Der Weg führte uns jetzt zu einem steilen Berghang und dann links an ihm vorbei. Jojakim sagte: „Komm, wir steigen gleich hier hoch, das ist kürzer.“
„Ja, ich muss aber erst mal hier hinter den Busch.“ Das reichliche Getränk und die Beeren hatten ihre Wirkung entfaltet. Der kräftige Strahl bewies mir auch diesbezüglich meine völlige Gesundheit.
Der Aufstieg wurde nun felsiger und ich musste auf jeden Tritt achten. Die Anstrengung tat mir irgendwie gut. Meinem Begleiter merkte ich nichts an, er schien irgendwie fast zu schweben, achtete aber darauf bei mir zu bleiben. Manchmal wurde es fast ein Klettern und ich musste die Hände zu Hilfe nehmen, um nicht abzurutschen. Ich wollte nicht wieder einen Unfall provozieren und nicht erleben, wie mein neuer Körper mit einem Knochenbruch fertig werden würde.
Dann waren wir oben. Nach dem kleinen Rasengipfel weitete sich der Weg zu einer mit Alpenrosen bedeckten Hochfläche.
Am Ende der Hochfläche sahen wir ein Haus, fast wie eine Almhütte oder eine Art Gaststätte, wie ich beim Näherkommen bemerkte. Tische und Stühle im Freien luden zur Rast ein. An einigen saßen junge Leute in angeregter Unterhaltung. Auch mein Bekannter mit dem Fahrrad war dabei. Irgendwie fiel mir der Begriff „Biergarten“ ein, den ich aber sofort verdrängte und in Gedanken durch „Eiscafé“ ersetzte.
Wir gingen zu einem freien Tisch an den Rand der Terrasse, wo wir einen herrlichen Ausblick auf ein weites Tal hatten. Ich wollte Jojakim gerade nach einigen Einzelheiten, die wie menschliche Siedlungen aussahen, fragen, als schon die Bedienung kam. Es war eine wunderschöne junge Frau, die sofort meine ganze Aufmerksamkeit fesselte. Sie brachte die Speisekarte und begrüßte uns mit einem fröhlichen „Hallo, ihr lieben Wanderer!“
„Hier, such dir etwas aus!“ Jojakim lenkte meine Augen auf die bunte Karte mit den Angeboten. Ja, hier gab es Erfrischungen im Stil einer Milch- oder Eisbar. Zwei Dinge ließen mich aber sofort stutzen: Gewohnheitsmäßig schaute ich nach den Preisen und fand keine. Allerdings hatte ich auch kein Geld dabei, der entsprechende Griff nach meinen Taschen ging ins Leere. Jojakim hatte meine Gedanken schon wieder erraten: „Geld brauchen wir hier nicht. Dieses alte Spielzeug - oder für die meisten war es ein Götze – ist endgültig in der Hölle.“
Ja, nach der Hölle wollte ich ihn auch noch fragen, aber jetzt starrte ich auf die Getränkeliste in der Speisekarte. Wie so oft, konnte ich einige Begriffe nicht verstehen, sie schienen mir aber deutlich irgendwelche Alkoholika zu bezeichnen. „Keine Sorge, hier betrinkt sich keiner.“ beruhigte mich Jojakim, „Oder willst du es versuchen?“ Ich schüttelte nur den Kopf und er meinte: „Wein werden wir noch bei einer besseren Gelegenheit trinken.“
Die hübsche Kellnerin in offenherziger Bluse und kurzen Röckchen war schon wieder da und machte meine Verwirrung komplett. Schnell zeigte ich auf irgendeinen Eisbecher in der Karte, Jojakim hob zwei Finger in die Höhe und schon war sie mit der Bestellung fort, nicht ohne mir noch lächelnd einen strahlendlangen Blick aus ihren dunkelbraunen Augen zu zuwerfen. Mir wurde ganz warm und als sie nach kurzer Zeit das Bestellte brachte, konnte ich meine Augen nicht von ihrer schönen Figur trennen, was auch ihr offensichtlich Spaß machte. Schon spürte ich... jedenfalls war ich froh, jetzt nicht aufstehen zu müssen. Schnell wandte ich mich meinem Eisbecher zu und fürchtete mich etwas vor meinem gedankenlesenden Begleiter. Der tat so, als würde ihm das Eis auch schmecken.
Es war wirklich ganz vorzüglich, besonders die Sahne und die frischen Früchte, die ich gar nicht alle kannte. „Ist das auch alles synthetisch wie vorhin?“
„Nein, das ist alles echt, das heißt auf traditionelle Art hergestellt, ähnlich wie du es von damals kennst.“
„Und die Sahne?“
„Ist ein veganes Produkt, denn wie gesagt, wir haben hier noch keine Tiere.“
„Und wer macht das alles?“
„Die Mädels machen das hier, weil es ihnen Freude macht. Die Rohstoffe und Zutaten bekommen sie geliefert. Die ganze Arbeit ist hier auf der Basis der Freude und Freiwilligkeit organisiert.“
Ich staunte und spürte wieder das Gefühl der unendlichen Freiheit und Glückseligkeit, das mich hier mit allen Menschen verband.
Ich schaute über das Geländer am Rand der Terrasse in das weite Tal. Vorhin hatte ich in weiter Ferne schon etliche Zelte erblickt zwischen, denen der Rauch von Lagerfeuern aufstieg.
„Dort lagert Abraham mit seiner ganzen Sippe.“ erklärte mir Jojakim.
„Oh, den würde ich auch gern mal besuchen.“
„Ja, er empfängt seine ganzen Nachkommen. Was meinst du wie er die bewirtet!“
„Werde ich mich da anstellen müssen? Das dauert doch die ganze Ewigkeit! Er mit seinen Nachkommen wie Sand am Meer!“
„Nein so ist das nicht. Die Zeit zwingt dich nicht mehr in eine Warteschlange, wie du es wohl immer noch denkst. Jeder hat für jeden immer Zeit.“
Ich schaute ihn erstaunt an.
Er sagte: „Ja, ich merke, du hast immer noch Probleme, dir das so richtig vorzustellen.“
Ich schwieg und leerte meinen Eisbecher.
„Und womit bewirtet er sie? Er ist es doch gewohnt, für seine Gäste ein Kalb oder mindestens ein Schaf zu schlachten!“
„Klar, das macht er. Ich habe dich doch auch mit einem 'Fleischgericht' empfangen. Er und seine Leute haben sich da schon dran gewöhnt. Ansonsten haben wir ihm in etwa seine vertraute Umgebung geschaffen. Jede Generation ist in die ihnen bekannten Verhältnisse gekommen.“
Er stand auf. „Komm, jetzt machen wir erst mal einen anderen, längst fälligen Besuch.“
Wir verließen die Terrasse nicht ohne meinem Radfahrerfreund zu zuwinken. Schade, ich schaute mich um, sie war nicht zu sehen. Doch - jetzt kam sie aus der Tür und wir tauschten zum Abschied wieder ein paar begehrliche Blicke. „Was soll das?“ seufzte ich im Stillen.
„Sie hat dir gefallen, die schöne Helena, stimmts?“ hatte Jojakim erraten. „Willst du sie wiedersehen? Kannst sie mal besuchen und dir Zeit nehmen, verstehst du?“
„Oh, sie sieht mir zu gefährlich aus!“
„Ach wo, hier wird es wegen keiner Helena mehr einen Krieg geben!“
Unser Weg führte durch einen lichten frühsommerlichen Laubwald. Ich genoss das frische Grün der Bäume. Unter unseren Füßen raschelte das alte Laub des Vorjahres. Zuerst dachte ich nicht darüber nach, aber dann kamen mir die Fragen: „Verlieren die Bäume hier auch ihre Blätter? Und gibt es hier Jahreszeiten?“
„Im Prinzip ja“ versuchte Jojakim mir zu erklären. „Aber die Zeit ist hier nicht eindimensional wie du es von damals kennst. Selbst wenn für euch Menschen immer Frühling ist, lebt doch die Natur in dem ihr angemessenen jahreszeitlichen Rhythmus.“
„Ich werde also keinen Herbst und Winter mehr erleben?“
„Warum nicht? Wenn du möchtest, kannst du dich auch in einen Herbst- oder Wintersturm versetzen. Du hast völlige Freiheit, kannst dich auch in der Zeit frei bewegen. Auf der neuen Erde wirst du es noch besser lernen und verstehen.“
Inzwischen hatten wir den Wald verlassen und kamen auf eine Lichtung mit einem großen, schönen Haus und einem blühenden Garten. Auf der Wiese tollten einige Kinder herum. Aus der Tür traten zwei junge Leute, die ich sofort erkannte, obwohl ich sie wesentlich älter in Erinnerung hatte. Die blondgelockte Frau, wieder schlank wie ursprünglich, fiel mir in die Arme. Es war meine Cousine Marianne. Ihr Mann, der Martin, hatte sich weniger verändert. Auch sein Humor war derselbe. Er hob scheinbar entsetzt die Hände, drehte sich um und rief etwas ins Haus hinein: „... du bekommst Besuch!“ verstand ich.
Mir stockte der Atem vor Freude: Gitta, meine Frau, trat aus dem Haus!
Fast etwas befangen standen wir uns gegenüber. „Da bist du ja endlich!“ rief sie. Verlegen umarmten wir uns, ich drückte ihren jugendlichen Körper an mich und wir versuchten einen ersten Kuss. Schon hatte sie die Flecken auf meiner Hose gesehen: „Was hast du denn hier gemacht“ rief sie erschrocken.
Ich schaute auf meine Hand und murmelte: „Hab mich etwas an Brombeeren gekratzt.“ An der Hand war schon lange nichts mehr zu sehen. Gitta rief: „Esther, hast du deinen Fleckenstift dabei?“ Aus dem Haus trat noch eine junge Frau, meiner Gitta ähnlich, aber ein bischen größer und fülliger. Ich sah gleich, es war kein Mensch, es gab also auch weiblich aussehende Schutzengel. Esther begrüße mich auch mit einer Umarmung und gab Gitta einen kleinen Stab, mit dem diese die Blutflecken auf meiner weißen Hose sofort entfernte.
„Wie ist es dir – gestern – ergangen?“ Bei dem Wort stockte ich etwas. Auch ihr ging es wohl so, ihr Blick trübte sich und sie schaute zu Boden. „Ich weiß gar nicht richtig, es wahr einfach schrecklich.“
Nach kurzem Nachdenken erzählte sie: „Ich kam aus dem Dorf zurück, es gab nirgends etwas, die Leute rannten alle durcheinander und schrien. Am Friedhof hielt ich an, da erzitterte alles und die Straße rutschte weg. Der Himmel dröhnte wie eine riesige Glocke. Ich hatte solche Angst. Im letzten Moment sah ich nach oben, das Licht war so hell, viel heller als die Sonne und wärmer, aber nicht heiß, das war sein Gesicht!“ Jetzt strahlte sie wieder: „Und dann war schon Esther da und hat mich mitgenommen.“
„Und unsere Kinder?“ fragte ich vorsichtig.
„Nanu, hast du sie noch nicht gesehen?“ Und zu Jojakim: „Hast du sie ihm noch nicht gezeigt?“ Der holte gleich sein „Smartphone“ vor – und plötzlich stand Inga zwischen uns: „Hallo Papa, alles klar?“ Auch die Zwillinge Ronald und Tanja traten auf diese Weise zu uns. Ich merkte, dass es dreidimensionale Projektionen waren.
„Wo seid ihr, was macht ihr, wo stecken die Kleinen?“ fragte ich.
„Alles in Ordnung, wir sind schon voll in das Jahrtausendprojekt eingestiegen.“
Wir winkten uns noch kurz zu, dann verblassten die Bilder.
„Da bin ja beruhigt.“ sagte ich.
Gitta führte mich ein Stück durch den schönen Blumengarten. „Hier, die habe ich vorhin gepflanzt. Ich glaube, die sind schon richtig angewachsen.“
„Ja, wunderbar, sieht aus, als wollen sie gleich blühen. Wo hast du denn die Pflanzen her?“
„Hat mir Esther gebracht. Hier daneben werde ich noch mehr anpflanzen“, meinte sie und deutete auf das Brachland daneben.
„Und wie ist es mit dem Unkraut?“ Ich dachte an die Dornen im Gebüsch.
„Hier gibt es kein Unkraut, alles hat hier seinen Platz. Esther hat mir gezeigt, wie ich mit den Pflanzen sprechen kann. Ich kann den Disteln und den Quecken sagen, dass sie sich hier auf dem Blumenbeet nicht ansiedeln sollen.“
„Das ist ja toll – das geht wirklich?“
„Ja, die Pflanzen sind Lebewesen, die uns hören und uns gern gehorchen.“
Nach den gepflegten Blumen- und Erdbeerbeeten, von denen wir gleich ein paar Beeren kosteten, führte der Weg in den Wald. Einen Zaun gab es nicht. Wir hielten uns an den Händen und kamen uns vor, wie bei unserem allerersten Spaziergang, nur viel unbeschwerter und glücklicher. Wir fühlten uns jung wie damals, ja, wir waren es wirklich. Auch mein Herzschlag beschleunigte sich. Der Wald wurde dichter, der Pfad bog um einen großen Stein hinunter an einen Bach. Vielleicht war es derselbe, in den ich meine Uhr geworfen hatte. Hier stand die Zeit für uns still. Wir fanden ein bequemes Plätzchen im weichen Gras, ließen uns nieder. Um eventuelle Grasflecken auf unseren hellen Sachen machten wir uns keine Sorgen.
Kaum hatten wir uns wieder angezogen und wollten noch etwas die Stille und Zweisamkeit genießen, raschelte es und um die Ecke kam Esther mit Jojakim. Mir schien, sie hatten sich auch an den Händen gehalten.
„Hier seid ihr“, rief Esther. „Komm schnell, Helfried und Carola wollen dich besuchen.“ sagte sie zu Gitta. „Endlich melden sich die beiden, ich komme,“ und schon waren sie verschwunden.
Ich schaute zu Jojakim auf, der meinte: „Und wir beide machen inzwischen auch den nächsten Besuch. Außerdem habe ich dir noch viel zu erklären.“
Wir stiegen aufwärts durch den Wald und kamen wieder auf den Weg, dem wir nach links in Richtung des großen Tales folgten.
Nach einigem Schweigen fragte ich etwas zögernd: „Habt ihr – habt ihr uns gesehen?“
„Wann?“
„Naja … vorhin?“
„Ach wo, hier brauchen wir euch doch nicht mehr beobachten. Es kann doch nichts passieren.“
Genau das war das Wort, das in meinen Gedanken seit vorhin kreiste. Denn Gitta und ich hatten in keiner Weise „aufgepasst“, wie früher gesagt wurde, nur unseren Spaß gehabt. Wie sollte ich ihn fragen?
„Es war sehr schön mit Gitta, da unten am Bach,“ begann ich vorsichtig.
„Das glaube ich wirklich, ihr konntet euch sicher richtig genießen, das freut mich. Hast du eine Frage?“
„Ja, doch. Kannst du dir vielleicht denken.“
„Ach, ich sagte doch schon mal, ich kann keine Gedanken lesen.“
Ich holte noch mal etwas aus und sagte: „Vorhin bei dem Haus von Marianne und Martin sind mir die kleinen Kinder aufgefallen. Wo – wo kommen denn die her?“
Jojakim lachte: „Soll ich dir etwa hier und jetzt erklären, wo die Kinder herkommen?“
Ich wehrte ab und er sagte: „Also, es gibt hier sehr viele Waisenkinder, wir haben so viele wie möglich mitgenommen. Marianne und Martin wollen so eine Art Kinderheim betreiben.“
„Ja und werden die auch mal groß?“
„Klar. Du meinst die Frage des Transformationsalters. Das wurde so entschieden, dass die Erwachsenen bei der Auferstehung oder Verwandlung in ein jugendliches biologisches Alter transformiert wurden. Das ist dir doch hoffentlich schon aufgefallen.“
„Natürlich und ich war und bin noch ganz überrascht und glücklich.“
„Die Kinder dagegen, beließen wir in ihrem Alter. Sie werden von selbst älter, auch wenn es ihnen manchmal nicht schnell genug geht.“
„So? Ich dachte hier gibt es keine Zeit?“
„Doch, ich merke, du hast immer noch Probleme mit dem Verständnis der Rolle der Zeit in der Ewigkeit. Wie kann ich dir das nur erklären,“ grübelte Jojakim vor sich hin.
„Aber wir Erwachsenen altern nicht weiter?“
„Doch doch, wenn man den biologischen Gesetzen ihren Lauf läßt, selbstverständlich. Aber die Bewegungsfreiheit in der Raumzeit schließt auch das individuelle Alter ein.“
Nun verstand ich gar nichts mehr. Aber die 'biologischen Gesetze' brachten mich wieder auf meine ursprüngliche Frage, die ich nun unverblümt stellte: „Kann man hier Kinder zeugen?“
„Natürlich, ihr seid vollwertige und gesunde Menschen. Euch fehlt nichts, im Gegenteil ihr seid vollkommener und funktionsfähiger, als ihr es jemals wart.“
„Auch diesbezüglich?“
„Freilich. Unser Vater als Schöpfer macht doch keine halben Sachen!“
„Aber ...“
„Ja wirklich. Doch läßt er sich das 'Menschenmachen' auch hier nicht aus der Hand nehmen. So wie damals entscheidet er, ob ein Mensch gezeugt wird oder nicht. Es geschieht nichts, ohne seinen Willen. Da könnt ihr ganz unbesorgt sein.“
Inzwischen waren wir am Eingang des großen Tales angekommen, in dem sich offensichtlich viele Menschen aus allen Zeitaltern niedergelassen hatten. Vor uns in einiger Entfernung, an dem schon recht breiten Bach sahen wir eine Baustelle. Da wurde eine Art Blockhaus errichtet. Das wäre doch was für Martin dachte ich so. Dabei fiel mir gleich noch eine Frage ein, die ich schon lange auf dem Herzen hatte:
„Mir kommt es vor, als ob alle Leute schon lange hier sind, auch meine Familie, bin ich der Letzte?“
„Nein, nein. Als wir euch raus holten, haben wir niemanden bevorzugt oder benachteiligt. Das kommt dir nur so vor, für die anderen ist auch alles neu. Freilich, du hast lange auf dem Felsen am Bach gesessen und dich ausgeruht, ich wollte dich nicht stören.“
So ganz zufrieden war ich nicht mit der Antwort, aber ich musste es ihm erst mal so abnehmen. Wir gingen weiter, um den Arbeitern beim Hausbau zuzusehen. Sie trugen die zünftige Zimmermannstracht und arbeiteten offensichtlich auf recht traditionelle Weise, also ohne Maschinen, Motorsägen oder dergleichen. Einer brachte gerade einen schweren Balken auf der Schulter angeschleppt. Als er uns sah, legte er ihn schnell ab und kam uns entgegen.
Ich erstarrte und mir wurden die Kniee weich, Jojakim legte die Hände zusammen und verbeugte sich - ER war es , ich hatte ihn sofort erkannt. Sein Gesicht ist – wenn auch ohne besondere Merkmale – unverwechselbar. Es ist das Strahlen, wie gestern, als der Himmel aufriss. Eine unbeschreibliche Freude erfüllte mich, mein ganzer Körper war wie elektrisiert und mein Herz raste, als ich in seine ausgebreiteten Arme fiel.
„Herzlich willkommen, schön dass ihr hier vorbei schaut. Ich bin gerade beschäftigt, aber für dich habe ich immer Zeit.“
„Ja ich, ich wollte ...“, stotterte ich, „ich wollte schon Jojakim immer mal fragen, wann und ob ich dich endlich ...“
„Lieber Eric, ich habe immer für dich Zeit und bin immer für dich da. Ich war es doch, der dich hier empfangen hat. Ich war der Felsen, auf dem du aufwachtest.“
Ich drückte mich dankbar in seine Arme, ja, deshalb hatte ich mich auf diesem großen Stein so wohlgefühlt, genau wie jetzt.
„Komm, wir setzen uns,“ sagte er und deutete auf einen Stapel Bretter.
Ich war immer noch ganz aufgeregt und fassungslos. Ja, freilich, er war ein Mensch, ein Mensch wie du und ich.
„Hat dir Jojakim schon viel gezeigt und alles erklärt?“
„Mmh“, nickte ich und wusste nicht, was ich sagen oder fragen sollte. Ich fühlte mich wie neugeboren, so ahnungslos aber auch so glücklich und zufrieden. Er legte seinen rechten Arm um meine Schulter und langsam beruhigte sich mein Herzschlag. Wir genossen beide die Stille und hatten einfach unendlich Zeit.
Ich überlegte gerade, ob und was ich sagen sollte, da rief einer der Arbeiter: „Joshua, hilfst du uns mal den Balken auflegen?“
„Klar“, antwortete er und sprang auf – so schien es mir zumindest – ja, wirklich er half mit auf der Baustelle, aber wir saßen trotzdem noch fest umschlungen auf unserem Bretterstapel!
„Du bist wunderbar,“ entfuhr es mir, „du bist allgegenwärtig!“
„Ja, ich sagte doch, ich bin jetzt immer für dich da und ganz nah bei dir. Eigentlich war es schon immer so, auch wenn du nicht immer an mich gedacht hast.“
Wir hielten uns fest an den Händen und ich murmelte leise: „Ich danke dir und bin so glücklich, dass du mich rausgeholt hast.“
„Ich habe schon immer an dich gedacht. Seit damals, seit der schweren Stunde, als mir vor Schmerzen die Luft wegblieb, habe ich an dich gedacht, ehe alles schwarz wurde.“
„Oh, muss das schlimm gewesen sein“, flüsterte ich und meine Augen füllten sich mit Tränen.
Ich sah an seinen Händen die narbigen, nicht richtig verheilten Nägelmale. Warum durften meine Dornenkratzer sofort heilen? Auch an seiner Stirn sah ich einige dünne weiße Striemen, die wohl von seiner Dornenkrone herrührten.
Jesus öffnete seine Weste aus schwarzen Samtcord und zeigte mir die große, auch schlecht verheilte Narbe vom Speer. Ich mochte gar nicht hinsehen.
„Seitdem sind wir Blutsbrüder.“
„Ja, du bist mein großer Bruder“, flüsterte ich und wir sahen uns glücklich in die Augen und er wischte mir die Tränen ab.
„Nicht nur das, du weißt doch, bald halten wir Hochzeit!“
„Ja? Wann und wo wird das sein?“
„In Jerusalem. Vorher gibt es noch einiges zu tun. Jojakim wird dir alles erklären.“
„Wo liegt ...“, die Frage kam mir dumm vor, „Wieweit ist es bis Jerusalem?“
„Jojakim, was meinst du, wie weit ist es noch?“ lächelte Jesus meinen Begleiter an. Der stand noch respektvoll vor uns und zog seinen „Taschenrechner“ oder war es ein „Navi“: „Wartet, momentan sind es genau 1844 Kilometer.“
„Oh, das ist aber weit -“ entfuhr es mir, „wie und wann kommen wir denn da hin?“
Die beiden sahen sich an und schmunzelten etwas. Jesus sagte zu Jojakim: „Ich glaube, Eric hat noch Probleme mit dem Verständnis von Raum und Zeit im Himmel.“
„Ja“, Jojakim schien etwas besorgt, „Ich versuche es ihm immer zu erklären, aber...“
„Irgendetwas muss bei seiner Transformation gestört haben, überlege mal.“
Ich schaute ratlos von einem zum anderen.
„Ja, ich weiß, ich habe nicht aufgepasst.“ Jojakim schaute bekümmert zu Boden. „Eric hatte die Uhr noch dran. Ich habe vergessen, sie ihm abzunehmen.“
„Sie ist von dort mit hierher gekommen? Dann ist alles klar!“ rief Jesus. „Das ist eine Symmetrieverletzung, deshalb diese Störung deines Zeitsinnes. Wo ist das Ding?“
„Ich habe sie sofort in den Bach geworfen.“
„Ja, ich habe es gesehen, sie wird sich sofort aufgelöst haben.“
„Trotzdem, diese Störung ist da und eigentlich nicht zu beheben.“
Ich fasste mich an den Kopf und Jojakim schaute auf seine Füße. „Ich habe nicht aufgepasst.“ murmelte er verlegen.
Jesus sagte: „Wir müssen eine Lösung finden, um das Gleichgewicht wieder herzustellen.“
Ich schaute ihn hoffnungsvoll an.
„Überlegt beide mal, was zu tun wäre.“
Dann drückte er mich an sich und sagte: „Ich gehe zurück auf unsere kleine Baustelle. Es ist schön, wieder mal in meinem alten Beruf zu arbeiten. Aber, du weißt, für dich bin ich immer da.“
Ich begleitete ihn noch die paar Schritte bis zu dem Bau und er stellte mir seine Kollegen vor. Sie stammten aus seiner damaligen Zeit und Gegend. Er deutete an, was sie für ein bewegtes Leben hatten und wie sie sich dann doch für ihn entschieden hatten. Den Männern schien es etwas peinlich zu sein, sie winkten verlegen ab und machten sich wieder an die Arbeit – auch Jesus, ihr Herr und Meister.
Jojakim und ich machten uns nun etwas bedrückt wieder auf den Weg. Vor der nächsten Biegung schauten wir zurück, auch der Zimmermann hatte sich nochmal umgedreht und winkte uns zu.
Der Weg stieg nach rechts an, dann gingen wir wieder durch einen Wald und bald hatten wir einen schönen Ausblick auf das ganze Tal. Unten am Fluß auf der Uferpromenade sahen wir hin und wieder eine Pilgergruppe ihren Weg ziehen. Wir liefen auch weiter und schwiegen eine Weile. Dann war wieder eine Frage in mir herangereift und ich ließ sie raus: „Es sind wohl nur wenige, die gerettet wurden?“
Jojakim blickte mich verwundert an: „Nein, wie so? Es sind viele, sehr sehr viele.“
„Wie viele?“
„Du meinst die Zahl?
„Ja bitte, ich bin gespannt!“
„Du, da muss ich dich enttäuschen,“ meinte Jojakim, „ich weiß es nicht und kann sie sicher nicht zählen.“
„Ach so?“ Ich war verwundert. „Da wird es doch sicher eine Statistik geben, denke ich.“
„Meinst du? Ich weiß nicht, jedenfalls ist sie nicht meine Aufgabe.“
Damit musste ich mich zufrieden geben und wir schwiegen wieder ein Stück.
Der Fluß unten wurde breiter, von rechts und links verstärkten ihn weitere Bäche.
„Wo fließt das ganze Wasser hin? Etwa doch in ein Meer?“ fragte ich Jojakim.
„Es fließt nach Jerusalem, wo wir auch hin wollen.“
„Soviel Wasser in eine Stadt - und dann?“ Ich stellte mir eine vom Fluß durchzogene Großstadt vor, die selbstverständlich nichts mit dem alten Jerusalem in Israel gemein hatte.
„Das Wasser bleibt in Jerusalem,“ erklärte mir mein Engel, „das heißt, es wird dort getrocknet, denn es sind die Tränen aller Völker aus allen Zeitaltern.“
Ich blieb erschrocken stehen. Vor uns sprang ein kleines Quellbächlein rechts aus dem Wiesenhang über die Steine unseres Weges hinab zum Fluß.
„Oh,“ entfuhr es mir, „das sind alles Tränen?“
„Ja, da, koste das Wasser!“ Er tauchte seine Hand hinein.
Entsetzt schüttelte ich den Kopf und war sprachlos.
Jojakim reichte mir die Hand, um mich zum Schritt über das Bächlein zu ermutigen. „Du weißt doch, Gott wird abwischen alle Tränen.“
Ich zögerte noch einen Moment, ehe ich den Schritt machte. Wieviel Leid hatte es doch in der alten Welt gegeben! Meine paar vergossenen oder runtergeschluckten Tränen waren davon die wenigsten.
Ich war froh, dass wir jetzt weiter nach oben stiegen, wo es kein Wasser mehr gab.
Plötzlich hörte ich unten im Tal Motorengeräusche und eine Hupe.
„Da schau mal!“ Ich war sehr erstaunt, auf dieser Straße auch einige Automobile fahren zu sehen. Es schienen etwas altertümliche Modelle zu sein, wie vom Anfang des 20. Jahrhunderts.
„Was sind denn das für Oldtimer?“ fragte ich überrascht, einerseits davon, dass es überhaupt Autos gab und dann ausgerechnet solche veralteten Kutschen.
„Ja, wie gesagt, jede Generation kommt hier in ihre vertrauten Verhältnisse. Das gilt auch für die technikbegeisterten Leute aus der Zeit der industriellen Revolution.“ erklärte mir Jojakim.
„Wollen wir auch mit einem Auto fahren?“ fragte er.
„Ach, keine Lust,“ winkte ich ab, „ich wandere gern.“
„Trotzdem schlage ich vor, auch unten lang zu gehen,“ meinte Jojakim, „vielleicht treffen wir Bekannte.“
„Benutzen alle diesen Weg?“ fragte ich ihn.
„Im Prinzip ja, aber nicht alle in der selben Zeit.“
Mit der Antwort wusste ich nicht so richtig etwas anzufangen. Ich deutete auf die Hügel am Horizont: „Liegt dahinter Jerusalem?“
„Ja, dort, dieser markante Gipfel, das ist der Skopus, von ihm aus werden wir die große Stadt schon sehen können.“
Ich schaute über das weite Flusstal zu dem fernen Berg unter dem strahlendblauen Sommerhimmel, den ein paar weiße Schönwetterwolken verzierten.
Da kam mir plötzlich die Frage über die Lippen, die ich schon lange unbewusst mit mir herumtrug:
„Wo ist denn eigentlich die Sonne?“
Jojakim schaute mich verdutzt an: „Wir haben doch vorhin gerade mit ihm gesprochen!“
Ich blickte ihn wohl etwas zu fragend an und er betonte: „Jesus ist die Gnadensonne, er und sein Licht sind uns überall und immer gegenwärtig.“
„Ja, schon, aber ich meine die richtige Sonne.“
Jojakim war entrüstet: „Jesus ist die richtige und einzige Sonne, die unser Leben erhellt, die Sonne der Gnade und Gerechtigkeit. Dir hat er sich doch schon damals am 3. Oktober offenbart.“
„Ja, freilich,“ schwieg ich einen Moment und dachte an den Abgrund des 'Damals' und an den schönen sonnigen Morgen des genannten Sonntags. Dann versuchte ich es aber doch noch mal: „Ich meine die Sonne am Himmel“ und zeigte nach oben.
„Am Himmel? Wir sind im Himmel!“
Ich war ratlos mit meiner unbeantworteten Frage und musterte mit erhobenen Händen das blaue Gewölbe über uns.
„Ach, jetzt weiß ich was du meinst!“ rief mein Engel nach einiger Zeit „Du suchst wohl den Zentralstern eures alten Planetensystems? Der ist doch längst explodiert!“
„Waas“ schrie ich auf und ließ mich auf eine der Bänke an der Uferpromenade fallen „Explodiert?“
„Ja klar, er hat sich zum Roten Riesen aufgebläht und ist dann zu einem Weißen Zwerg kollabiert.“ Er winkte ab: „Nun kann man ihn vergessen. Du kennst dich doch aus in Astrophysik.“
„Das sollte doch aber erst frühestens in vier Milliarden Jahren passieren!“ stöhnte ich.
„Ganz richtig und die sind schon lange um.“
Gut, dass wir auf der Bank saßen, sonst wäre ich wohl umgefallen.
„Vier Milliarden Jahre sind um? Und die Erde? Vom Roten Riesen verschlungen?“
„Ja, das ist der normale Lauf der Naturgesetze. Auch deswegen haben wir euch dort rausgeholt.“
„Jesus“ rief ich laut, denn die Vorstellung dieser ungeheuren Zeitspanne machte mich schwindlig und ungeheuer einsam.
In dem Moment war ER auch schon da, saß wieder neben mir und legte seinen Arm um meine Schulter. Ich stöhnte: „Wo war ich denn in dieser langen Zeit?“
„Du warst nicht in dieser Zeit, du warst immer bei mir und ich bei dir.“
Ich beruhigte mich langsam und schmiegte mich an seine Brust. Er hatte nicht mehr seine Zimmermannskluft an sondern ein weißes Gewand, ähnlich einer Toga.
Jesus schaute zu Jojakim: „Eric hat immer noch diese Schwierigkeiten mit den alten Vorstellungen. Ich glaube, er fühlt sich noch immer etwas in der Zeit gefangen. Was können wir tun?“
Jojakim schaute betreten zu Boden: „Ja, ich ... mir ist noch nichts eingefallen.“
Ich dachte an meine Uhr, die ich in den Bach geworfen hatte, der wie ich inwischen wusste, sicher auch aus Tränen bestand.
Jojakim holte tief Luft, als ob er ein Mensch wäre, wusste aber nichts zu sagen.
Jesus schaute mich an: „Etwas von dir muss wieder zurück, damit du richtig frei wirst.“
„Ich muss wieder zurück?“ rief ich erschrocken.
„Nein, nein, das ist unmöglich, du bleibst hier“ versicherte er mir. „Wir müssen überlegen, was du zurückschicken könntest.“
Er sprang auf, lief auf und ab und blieb vor meinem Engel stehen: „Fällt dir etwas ein?“ Dem sah man an, dass er die „Flügel“ hängen ließ“. Schließlich sagte er: „Eigentlich können wir nichts zurückbringen, denn das verbietet das Zeitreiseparadoxon, das dort noch gilt.“
„Richtig, aber das gilt hauptsächlich für materielle Dinge und Eingriffe.“
„Außerdem ist es schrecklich, dorthin zurückzukehren,“ murmelte mein Begleiter.
Ich hing auf der Bank und schaute die beiden sorgenvoll an.
Jesus setzte sich wieder zu mir: „Eric, du wirst aufschreiben, was du hier erlebst und Jojakim wird es dorthin zurückbringen.“
„Aufschreiben?“
Jojakim sagte: „Gut, aber wer wird es lesen und glauben? Eigentlich wissen sie alles aus Mose und den Propheten.“
„Du hast recht, aber uns geht es erst mal um Eric, damit für ihn das Gleichgewicht wieder hergestellt wird.“
Jesus gab mir eine Art Tablett-PC: „Fange nur gleich an!“ und reichte mir einen Stift dazu.
Ich schaute unschlüssig das mir unbekannte Schreibzeug an und dann zu Jojakim, der vor uns stand und mir zunickte.
Ich erwachte auf einem großen Stein, einem Felsen.
Das Schreiben ging sehr zügig vonstatten. Es schien, als flössen meine Gedanken wie von selbst durch den Stift auf das – ja ich nenne es mal electronic-paper. Ich staunte und drehte den Stift zwischen meinen Fingern.
„Gib her!“ sagte Jojakim und griff nach dem Tablett, „Ich will gleich losfliegen.“
„Nein, ich bin doch noch lange nicht fertig!“ rief ich und hielt das Schreibzeug fest.
Die beiden standen vor mir und schauten sich an. „Ja, genau, das ist das Problem,“ sagte Jesus „Eric ist noch befangen in seiner alten Vorstellung von Raum und Zeit.“
„Gib ihm nur, was du geschrieben hast, du wirst noch genug Zeit haben, es zu vollenden.“
Jojakim nahm mir das Tablett aus meinen Händen, sagte „Ich beeile mich,“ und war verschwunden.
Ich war völlig verblüfft, denn im gleichen Moment hielt ich das gleiche Tablett mit meinem angefangenen Text wieder – oder immer noch – in meinen Händen.
„Was staunst du da,“ meinte Jesus, „schon damals haben doch eure Physiker mit den Quanteneffekten von verschränkten Photonen experimentiert. Das hier ist nur eine praktische Anwendung davon.“
Ich staunte wieder einmal mehr über das was ich hier hörte und erlebte.
Jesus ergriff meine Hand und meinte: „Da werde ich dann mal wieder gehen. Es gibt noch viel zu tun.“
„Oh, bleib doch noch etwas. Oder musst du wieder beim Hausbau helfen?“
„Nein, nein. Die Blockhäuser sind fertig. Da habe ich nur so aus Spaß mitgemacht.“
„Wer wird denn da drin wohnen?“
„Das sind nur eine Art Ferienhäuser. Wir wohnen und arbeiten doch alle in der Stadt.“
„Ach so. Aber so ein Blockhaus finde ich auch schön.“
„Ja,“ Jesus war in seinem Element, „wollen wir beide uns eine Blockhütte bauen?“
„Wenn das geht?“ fragte ich etwas skeptisch.
„Klar, spätestens auf der neuen Erde bauen wir beide uns eine Hütte, irgendwo im Felsengebirge mitten im Wald. Dann sammeln wir Holz, damit wir den Winter überstehen!“
Nun musste ich doch etwas lächeln und verstand wieder mal gar nichts.
Jesus stand auf und zeigte auf die Uferstraße: „Da kommt wieder eine Pilgergruppe. Ihnen kannst du dich sicher anschließen. Vielleicht kennst du jemand.“
Ich zögerte und sagte schließlich: „Eigentlich wollte ich noch was fragen.“
„Ja, klar, frag nur.“
„Ich... kann man...“ Ich scheute mich etwas vor meiner Frage. Aber Jesus nickte mir aufmunternd zu. „Kannst du mir - Gott zeigen, werde ich ihn mal sehen können, den Vater?“ sprudelte es aus mir heraus.
„Ach Eric, das hatte doch schon Philippus damals gefragt, du kennst doch meine Antwort.“
Ich schaute ihn an und mein Herz klopfte. Er sah wie ein ganz normaler Mensch aus. Sein weißes Gewand war zwar mit einer Goldborte verziert und machte ihn etwas vornehmer. Aber seine Hände waren groß und stark, eben normale Arbeiterhände, wären nicht die seltsamen Narben gewesen.
„Gott kann man nicht sehen, er ist Geist.“
Ich holte tief Luft und er setzte fort:
„Sehen ist ein materieller Prozess mit physikalischen und physiologischen Aspekten. Damit kann man Gott nicht darstellen. Aber ich verstehe deinen Wunsch und verspreche dir, dass du Gott erleben wirst, in Jerusalem, denn dort hat mein Vater sein Quartier aufgeschlagen.“
Zum Abschied umarmten wir uns noch einmal. „Und denke daran, bald heiraten wir“ flüsterte er mir ins Ohr, machte sich los und wandte sich zum Gehen.
Ich zögerte noch etwas. Da drehte er sich auch nochmal um und sagte: „Du hast gar nicht nach meinem Stellvertreter gefragt, willst du ihn nicht auch sehen?“
„Doch, doch...“ stammelte ich und überlegte „den, den Heiligen Geist?“
Er nickte und ging nun wirklich.
Ich stand noch etwas ratlos da und wandte mich zur Straße. Dort stand die Pilgergruppe und hatte in respektvoller Entfernung unser Gespräch abgewartet. Es waren einige Männer und Frauen, auch ein Engel, nein eine „Engelin“. Sie kam gleich auf mich zu und gab mir die Hand: „Hallo Eric, willst du mit uns kommen?“
Ich schaute in die Runde und merkte, sie sprachen eine andere Sprache! Eine Frau schaute mich aufmerksam an und rief: „Wir kennen uns doch!“
Ich war überrascht, einerseits über das unerwartete Wiedersehen andererseits noch mehr darüber, dass ich Jadwiga direkt auf polnisch verstand! Sie ist eine große stattliche Frau, jung wie das blühende Leben, dunkle Haare in kurzen Fransen, so wie ich sie zuletzt gesehen hatte und mir nun von „Damals“ in Erinnerung kam.
„Das ist wunderbar, klar komme ich mit euch mit!“ rief ich – auf deutsch oder auf polnisch- ich weiß es nicht mehr. Wir umarmten uns herzlich. „Ich bin so froh, dass du auch hier bist.“
„Ja, und ich erst!“ sagte sie. Wir schauten uns glücklich an, die Erinnerungen waren zwar da, versanken aber in der Bedeutungslosigkeit des „Damals“. Wir interessierten uns nicht mehr für diese schweren Zeiten.
Jadwiga stellte mir die anderen Leute vor, sie wären aus ihrer Gemeinde meinte sie. Klar, dachte ich, sie war ja katholisch – gewesen. Das würde wohl hier keine Rolle mehr spielen.
„Wir wollten nicht stören, als du mit Jesus sprachst,“ meinte Jadwiga, „bist du ganz allein unterwegs?“ Sie war wieder ins Polnische geraten, was ich aber genauso verstand. Ich brauchte es nicht zu übersetzen, sondern die Worte gehörten ganz selbstverständlich zu meinem Wortschatz.
„Eigentlich nicht“ antwortete ich und schaute zu dem weiblichen Engel der Gruppe.
„Ich bin Annika und habe schon gehört, dass dich Jojakim in wichtigem Auftrag verlassen musste. Aber du kannst gern mit uns gehen, hier geht keiner verloren.“
„Am ersten Tag waren alle unsere Schutzengel dabei“ sagte Elisabeth, eine andere Frau aus der Gruppe.
„Jetzt brauchen wir sie nicht mehr“ ergänzte Hendrik, ein recht hochgewachsener blonder Mann.
„Schließlich bin ich auch noch da,“ meinte Annika, „wir Engel haben jetzt alle viel zu tun mit den Vorbereitungen für die Hochzeit und dem Jahrtausendprojekt.“
Ich horchte auf, wollte aber nicht andauernd Fragen stellen.
„Aber das ist nichts gegen den Stress den wir damals hatten, als wir bei Schritt und Tritt auf euch aufpassen mussten“, setzte sie fort.
Ich schaute zu Jadwiga, versuchte mich zu erinnern und sagte schließlich: „Wir waren damals sehr entsetzt, als wir von deinem Unfall hörten.“
Annika nickte: „Ich weiß es war ganz schlimm, auch für mich, aber ich habe Jadwiga und den anderen schon erklärt, warum es so sein musste.“
„Ich bin die einzige, die sich an nichts erinnert“, lachte Jadwiga.
„Und das ist gut so,“ schloss die andere Frau, die ihre Mutter war, diese Erinnerung ab.
„Wie lange bist du schon unterwegs,“ fragte nun Jadwiga, „wieviele Tage?
„Tage??“ Verwundert blickte ich in die Runde.
„Wir wandern schon fünf Tage“, sagte Hendrik.
Ich schaute zum leeren Himmel, dachte an die Sonne und das Zeitgefühl, was mir wohl abhanden gekommen war.
Annika merkte es und sprang mir bei: „Am Himmel gibt es hier keine Lichter, die Tag und Nacht regieren. Für die neue Erde wird es sie wieder geben.“
„Und warum sprecht ihr dann von Tagen?“
Sie erklärte weiter: „Jadwiga erinnerte sich noch an den Tag- und Nachtrhythmus und wollte gern wieder mal schlafen. Da habe ich es immer mal Abend und Nacht werden lassen. Euch hat es doch auch gefallen“, wandte sie sich an die anderen, die ihr lächelnd zustimmten.
„Eigentlich ist es auch schon wieder so weit, stimmts?“
„Ja, vielleicht gefällt es Eric auch“, meinte Jadwiga.
„Ich bin nicht müde“, sagte ich und kam mir wie ein kleiner Junge vor.
Annika hatte aber schon ihr „Smartphone“ wie eine Fernbedienung gezückt und begann das Tageslicht etwas abzudimmen, was mich sehr verblüffte.
„So wie viele Menschen hier noch ihren Appetit für Hunger halten und gern essen, wollen eben manche auch mal schlafen. Jedem nach seinen Bedürfnissen.“
„Mmh, essen wäre auch nicht schlecht“, rief Hendrik.
„Ja, aber zuerst bauen wir wieder unser Zelt auf.“ Annika zog aus ihrem erstaunlichen Universalgerät ein großes Familienzelt mit kompletter Campingausrüstung und wir machten uns daran, alles aufzubauen.
„Was wollt ihr zu Abend essen?“
„Bratkartoffeln!“ rief Hendrik. Auch das war für Annika kein Problem. Ich bekam sofort Hunger – oder war es nur Appetit? Seit unserem Abschied von Gitta hatte ich nichts mehr gegessen.
Jadwigas Mutter sprach ein Dankgebet und dann ließen wir es uns schmecken.
Inzwischen war es richtig dunkel geworden, eine mond- und sternenlose Nacht. Im Zelt war noch Licht und wir richteten unsere Lager her. Annika verteilte Pyjamas und die Leute zogen sich ganz ungeniert aus und um. Das Waschen wäre zwar an dem Bach möglich gewesen, aber ich dachte an die Tränen und verzichtete darauf.
Ich schob meine Matratze zu Jadwiga: „Erzähl mir, was ihr schon alles erlebt habt.“
„Jeden Tag haben wir neue Leute getroffen, also alte Bekannte und Verwandte, die alle wieder jung sind. Aber das Schönste war, als Annikia mich zu Jesus führte. Ich habe ihn sofort erkannt und mich so gefreut!“
„Ja, so ging es mir auch!“
Wir umarmten uns beide, kuschelten uns richtig aneinander und es war uns, als würden wir Jesus umarmen und er uns.
„Ja, so war es“, flüsterte Jadwiga.
Ich streichelte ihren Nacken und wir küssten uns. Sie drehte sich auf die Seite, ich umfing sie und bald merkte ich, wie sie eingeschlafen war.
Ich spürte keine Müdigkeit und wusste nicht, wie und warum ich schlafen sollte. Meine Gedanken gingen zu Jesus in die Blockhütte und ich dankte ihm für dieses unendliche Glück.
Ein helles Klingeln weckte mich. Über mir stand Annika mit einem silbernen Glöckchen. Jadwiga drückte mir einen dicken Kuss auf die Lippen. „Komm du Langschläfer, alle sind schon aufgestanden, gleich gibt es Frühstück!“
Helles Licht schien zum Zelt hinein und eine unbändige Freude erfüllte mich. Ich umschlang Annika und Jadwiga gleich alle beide: „Warum habt ihr mich denn nicht eher geweckt?“
„Ich dachte, wenn du überhaupt noch nicht geschlafen hast, lasse ich dich noch etwas liegen.“
Draußen hupte es.
„Das ist das Bäckerauto“, rief Hendrik.
Ich ging mit nach draußen und war überrascht, Martin als Brötchenfahrer aussteigen zu sehen.
„Ja, das macht mir Spaß“, meinte er, „da kann ich alle alten Freunde und Bekannte besuchen.“
Im Zelt roch es schon appetitlich nach frischem Kaffee.
Nach dem Frühstück setzte ich mich mit meinem Schreibzeug beiseite, um mein mir aufgetragenes Tagebuch weiterzuführen.
Plötzlich kicherte Jadwiga hinter mir. Sie hatte sich herangeschlichen und mit gelesen, wie ich versuchte, den Aufstand meiner Gefühle im Eiscafé zu schildern.
„Davon habe ich aber gestern Abend nichts gemerkt“, flüsterte sie mir ins Ohr.
„Du bist ja gleich eingeschlafen.“
„Mal sehen, wer heute Abend schläft“, sagte sie lachend und ließ mich weiter schreiben.
Aber ich musste mich erst mal sammeln und strich manchen Satz wieder aus.
Die anderen hatten inzwischen alles wieder zusammengepackt und Annika rief zum Aufbruch.
Unter uns auf der Straße fuhren schon wieder einige Autos, alle in unsere Richtung. Hendrik fragte: „Gibt es denn hier keine modernen Modelle?“
„Was meinst du mit 'modern'?“ antwortete Annika. „Etwa die aus deiner Zeit?“
Wir beide nickten und schauten sie erwartungsvoll an.
„In eurer Zeit war die Begeisterung für die Technik schon merklich abgeklungen. Oder wollt ihr jetzt mit dem Auto fahren? Ich könnte euch beispielsweise einen Porsche besorgen!“
Wir hoben abwehrend die Hände.
„Aus meiner Sicht wäre es allerdings auch ein 'Oldtimer'“, setzte sie fort.
„Ja, du hast recht, so ist es viel schöner“, gab sich Hendrik zufrieden, „so haben wir besseren Kontakt untereinander und mit der Natur“.
„Genau, und die Zeit spielt sowieso keine Rolle mehr!“ rief ich dazwischen.
Annika blickte zu mir: „Oh, ich höre, Jojakims Mission ist wohl schon erfolgreich!“
Ich stutzte und sagte: „Nun ja, er hat mir schon erklärt, dass hier jeder in den Umständen anfängt, die ihm aus seiner Epoche vertraut sind.“
„Ja, richtig, aber ich meinte, dass sich dein Verhältnis gegenüber der Zeit schon bessert.“
„Ach, ich habe noch so viele Fragen...“
„Die haben wir wohl alle“, unterstützte mich Jadwiga. „Aber wer ist Jojakim und was hat er für eine Mission?“
Ich schaute zögernd in die Runde und zu Annika und begann etwas umständlich, meine Gefährten aufzuklären.
„Ach so, deshalb führst du Tagebuch“, rief Jadwiga und zwinkerte mir zu.
„Ja, ja“, winkte ich etwas verlegen ab.
„Kommt weiter“, rief Elisabeth, „wir wollen doch heute auf den Skopus, auf den Berg, von dem aus wir Jerusalem sehen können.“
Wir folgten dem Weg parallel zur Straße noch ein Stück, um dann dann nach rechts in die Berge aufzusteigen. Kurz vor dem Abzweig nach oben klingelte es plötzlich und mein radfahrender Freund mit Helena auf einem Tandem überholten uns. Sie winkten uns zu und dann war sie mit ihrem flatternden Röckchen schon um die nächste Biegung verschwunden. Offensichtlich hatte sie ihren Job im Eiscafé aufgegeben und war nun auch unterwegs in die heilige Stadt.
Gewiss hatten wir auch „damals“ manch schöne Wanderung erlebt, aber diese war unvergleichlich. Nicht nur die Landschaft, die herrlichen Bäume und Blumen in der frischen Bergluft, sondern das Gefühl, nein die Gewissheit unendlicher Freiheit und Glückseligkeit beschwingten uns alle.
Vor uns lag der Gipfel eines Vorberges, den wir bald erreichen würden. Nach links weitete sich der Blick in das Flusstal, aus dem wir aufgestiegen waren. Wir genossen die Aussicht und entdeckten bald ein paar Bänke zum Ausruhen. Eine war besetzt – mein Jojakim saß dort! Er schaute gedankenverloren in die Ferne.
Doch sofort hatte er uns bemerkt und wir beide schlossen uns in die Arme. Ich war erleichtert. „Oh, endlich bist du zurück!“
„Ja, ich warte hier schon ein Weilchen.“
„Wie war es, hat alles geklappt.“
„Doch, sicher.“
„Aber?“ forschte ich nach.
„Es ist schrecklich dort.“
Die Anderen umringten uns und warteten gespannt auf nähere Erklärungen. Jojakim ließ sich aber nichts mehr entlocken. Er sagte nur noch, dass er alles abgeliefert hätte, aber weder wo noch bei wem.
„Und, Eric, geht es dir schon besser?“ fragte er mich.
„Mir geht es schon immer gut, allerbestens seit ich hier bin!“ rief ich.
„Doch“, bestätigte Annika, „ich habe ihm vorhin sofort angemerkt, dass deine Mission erfolgreich war.“
„Dann bin ich ja beruhigt,“ und eine gewisse Erleichterung war seinem Gesicht anzumerken.
„Warum gibt es das denn dort oder damals noch?“ fragte Jadwiga. Mir lag diese Frage auch auf dem Herzen und der Zunge und stieß nach: „Ich dachte, es ist alles endlich vorbei?“
„Ist es auch, absolut. Diese alte Welt von damals ist abgeschlossen, gewissermaßen eingekapselt, eigentlich schon seit Golgatha, aber der Vater hat euch noch etwas Zeit gelassen, damit jeder sich entscheiden konnte.“
„Und jetzt?“
„'Jetzt' ist so ein Begriff aus deinem alten Zeitverständnis. Das 'Jetzt' von 'Damals' gibt es nicht mehr, es ist alles leer, alles aufgeräumt. Nach deinem Verständnis – was sich hoffentlich bald ganz bessern wird – habe ich einen Zeitsprung in die Vergangenheit gemacht. Aber zum Ende des Jahrtausendprojekts wird auch das nicht mehr möglich und nötig sein.“
„Wahrscheinlich hat es noch niemand gelesen.“ murmelte Jojakim mehr für sich als für uns.
Ich schwieg eine Weile, doch dann musste sie raus die Frage: „Was ist das Jahrtausendprojekt?“
„Es geht um die Aufarbeitung der Geschichte der alten Menschheit, also der Jahrtausende, bis euch Jesus befreit und rausgeholt hat,“ antwortete Jojakim. „Alle Ereignisse und Schicksale werden aufgeklärt und dokumentiert, damit keine ungelösten Fragen übrig bleiben.“
„Oh, das ist interessant, da habe ich auch einige -“
„Ja, sicher, aber denke da nicht nur an die Skandale der VIP's oder an die sattsam bekannte Geschichte von 9/11.“
„Sondern?“
„Es geht um den Entscheidungsprozess jedes Einzelnen. Warum ist der eine der Einladung gefolgt und der andere nicht? Obwohl sie rein äußerlich den gleichen Weg gingen, die gleiche Arbeit taten, in der gleichen Kirche saßen und so weiter.“
Wir schwiegen wieder einmal, schauten uns an, nickten und jeder versuchte in seine Erinnerungen an das „Damals“ einzudringen.
Annika ergänzte: „Sicher habt ihr hier schon Menschen vermisst, mit denen ihr damals gelebt habt. Ihr Schicksal gilt es aufzuklären.“
„Dazu seid ihr nicht nur auf eure Erinnerungen angewiesen, sondern in der Stadt stehen euch alle Archive zur Verfügung“, erklärte mein Engel, „und“, sagte er weiter, „ihr könnt auch unsere Arbeit studieren und beurteilen.“
Hendrik meinte: „Ihr habt wohl alles abgehört und beobachtet?“
„Ach, wir sind doch keine Schlapphüte“, antwortete Jojakim. „Wir haben nicht in jeder Ecke eine Überwachungskamera oder wie hießen die kleinen Tierchen -“
„Wanzen“ warf ich ein.
„Genau, so etwas hatten wir nicht nötig. Eigentlich genügte es, die mehr oder weniger öffentlich zugänglichen Informationen auszuwerten. Das war freilich viel Arbeit, denn ihr habt ja wirklich viel geschrieben und protokolliert, später dann noch alles fotografiert und gefilmt. Doch davon könnt ihr euch im Jahrtausendprojekt selbst einen Eindruck verschaffen.“
Ich schaute dieser Aufgabe mit etwas gemischten Gefühlen entgegen und den Anderen ging es wohl ähnlich.
Wir setzten unsere Wanderung fort und nicht nur der steile Weg nahm uns die Luft für weitere Fragen und Erörterungen. Meine Gedanken kamen aber noch nicht zur Ruhe. Wen vermisste ich?
Ich hatte schon viele meiner Verwandten, Freunde und Bekannten gerufen und getroffen. Annika hatte mir nämlich gezeigt, wie das geht, ganz ohne 'Smartphone' oder solcher Technik. Es ist eine mentale Fähigkeit unseres neuen Gehirns, die man mit einiger Konzentration erlernen kann. Auch ich selber wurde schon paarmal auf diese Weise gerufen. Man erscheint seinem Partner dann als dreidimensionale Projektion, eine Art Hologramm. Auch meine Kinder hatte ich vorhin so gesehen und gesprochen.
Annika hatte mir noch ganz andere Möglichkeiten der Begegnung in Aussicht gestellt. Nach der Hochzeit und auf der neuen Erde, meinte sie.
Ich überlegte weiter, wen ich noch rufen könnte und da fiel mir …
Irgendwie hat jetzt mein 'elektronischer Stift' gestreikt. Ich wollte weiter über diese Art der Recherche und Kontaktaufnahme schreiben, aber es ging plötzlich nicht. Ich wollte mit …
Wieder kaputt, wird die 'Tinte' alle?
Nun möchte ich mich endlich wieder meinem „Tagebuch“ widmen. Es war nicht nur die Schreibstörung, sondern auch die Fülle der neuen Eindrücke, die mich und uns alle gefesselt hatten. Jetzt sitze ich in meiner Wohnung, das heißt auf dem Balkon in einem gemütlichen Schaukelstuhl und genieße die Aussicht über die Stadt.
Es war umwerfend, als wir oben auf dem Skopus um eine Felswand bogen, lag sie plötzlich vor uns, die große gewaltige heilige Stadt, das neue Jerusalem. Uns stockte der Atem, sprachlos standen wir da und waren völlig überwältigt von der Größe und der Pracht dieser Megacity, für die es nichts Vergleichbares gibt.
Alle setzten sich dann irgendwo hin, auf die Felsen oder einfach auf die Wiese, um erst mal in Ruhe zu schauen. Mit Jadwiga suchte ich mir auch ein paar bequeme Plätze. Zu unserer Überraschung saßen Helena und Olli auch schon hier. Sie hatten nach ihrer Radtour noch einen kürzeren Weg gefunden, der sie über etliche Stufen hier herauf führte.
Nun machten wir uns gegenseitig auf die vielen Besonderheiten und Details der vor uns liegenden Stadt aufmerksam. Eigentlich verstanden wir gar nicht, was wir sahen. Und wenn nicht vorher immer von einer „Stadt“ die Rede gewesen wäre, hätten wir gar kein Wort dafür gefunden.
Wir müssen sehr lange so gesessen und geschaut haben, denn irgendwann rief uns Annika, wir hätten noch viel zu tun. Sie hatte auf der Wiese schon wieder das Zelt aufgebaut und meinte, wir wollten heute wohl gar nicht schlafen gehen.
„Schlafen?“ Helena war erstaunt.
„Habt ihr beide noch gar nicht geschlafen?“ fragte Jadwiga sie.
Helena wollte sich nichts anmerken lassen, schüttelte den Kopf und bekam doch eine leichte Röte im Gesicht.
Jadwiga erklärte ihr den künstlichen Tag- und Nachtrythmus, den Annika für uns einrichtete und wie herrlich es wäre, so richtig durchschlafen zu können.
„Sicher, aber bis jetzt haben wir noch keine Müdigkeit verspürt“, entgegenete Olli, aber vielleicht probieren wir es auch mal?“
„Hmh, ist noch Platz in eurem Zelt?“ fragte Helena und richtete ihre dunklen Augen auf mich - mit der bekannten Wirkung.
„Kein Problem, ihr seid auch bei uns willkommen.“ antwortete Annika und kam uns holen. „Aber vorher will ich doch mit euch noch das Lied lernen, das ihr bei der Hochzeit singen werdet.“
Inzwischen hatte sich wieder die Dämmerung über uns ausgebreitet, dadurch wurde der Glanz der heiligen Stadt noch beeindruckender. In ihr gab es keine Dunkelheit.
Andächtig standen wir still vor dem gewaltigen Panorama. Helena flüsterte: „Ich fühle mich wie am Sabbatanfang.“
Unsere Augen wurden besonders von einem gewaltigen Turm im Zentrum angezogen, der in eine gigantische Höhe aufragte. Er trug oben eine goldstrahlende Kugel, deren Lichtspiel ständig wechselte. Darüber stand noch eine nadelscharfe Spitze weit in den Himmel hinein, die regelmäßige Lichtblitze aussandte.
Jojakim zeigte auf den Turm mit der Kugel und rief: „Dort oben in der Kuppel werdet ihr Hochzeit feiern!“
Wir waren wieder eine ganze Weile sprachlos, dann fragte ich leise: „Wie groß ist denn die Kugel dort, werden wir da alle Platz haben?“
„Ja freilich, so wie die Zeit, kann unser Vater auch den Raum dehnen.“
Vor dieser herrlichen Kulisse machte uns allen der „Gesangsunterricht“ besonders großen Spaß. Eigentlich waren es zwei Lieder, deren Leitmelodie uns Annika und Jojakim zuerst vorsangen und dann im Einzelnen erklärten. Sie handelten von den zwei Etappen der Weltgeschichte und unserer Erlösung, ein unvergleichliches Kunstwerk. Chöre und Soli wechselten sich ab, jeder hatte Platz, seine eigene Stimme und Rolle einzubringen. Es gab viel zu lernen und ich staunte, wie schnell und leicht ich mir die vielgestaltigen Melodien und die umfangreichen Texte dieses Oratoriums einprägte.
Gleich zückte ich meinen Stift, um wenigstens etwas aufzuschreiben, aber Jojakim winkte ab. „Lass sein, das versteht dort eh keiner.“
„Schade, wirklich nicht?“
„Im Prinzip sollten sie die Lieder schon kennen und haben sie auch zum Nachlesen.“
Am anderen Morgen dachte keiner an das Frühstück – Martin kam auch nicht mit dem Brötchenauto – sondern alle wollten gleich runter zur Stadt absteigen. Aber Jojakim meinte: „Das dauert viel zu lange, die Stadt ist noch sehr weit. Sie erscheint euch nur so nah, weil sie so riesengroß ist. Ich schlage vor, wir portieren dort hin.“
Er ließ uns in einer Reihe antreten, hantierte wieder an seinem „Smartphone“ und schon verschwand einer nach dem anderen. Als ich dran war, grinste er mich an und rief: „Jetzt!“
Ich hielt die Luft an und fühlte mich hochgehoben, dann wie im Flug, vielleicht wie der freie Fall beim Fallschirmsprung, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde – dann stand ich schon unten bei meinen Gefährten.
Unten – das war der richtige Ausdruck, denn wir standen vor einer riesigen Mauer, besser gesagt neben einem offenen Tor, eigentlich nur einem Durchgang durch diese Mauer. Wir waren wie geblendet von dem funkelnden Glanz des unbekannten Materials, aus dem alles gebaut war. Ich dachte an Perlmutt, denn es changierte in allen Regenbogenfarben.
Jojakim kam als letzter und freute sich mit uns: „Kommt tretet ein und macht euren ersten Stadtbummel!“
Der Weg führte uns erst durch eine parkähnliche Anlage, bis wir zu den ersten Häusern kamen, kleine, große, Hochhäuser, alle aus dem gelbfarbenen Jerusalemstein. Autostraßen sah ich nicht, aber schnelle Fußwege, eine Art Laufbänder, alles blitzsauber aus einem goldglänzenden Material. Die verschieden Ebenen verbanden Rolltreppen und gläserne Aufzüge. Langsam kam ich mir wie in einem dreidimensionalen Labyrinth vor.
„Wohin gehen wir?“ fragte ich Jojakim.
„Ich zeige dir deine Wohnung.“
Er führte mich zu einem großen Paternoster, der uns mindestens zwanzig Etagen in die Höhe auf eine große, mit vielfältigen Pflanzen bestandene Terrasse brachte. Hier ging es zu verschiedenen großzügigen Appartements – und tatsächlich an einem stand mein Name!
„Hier, schau dich um, mach es dir gemütlich und dann lern' deine Nachbarn kennen“, er zwinkerte mir zu „du wirst überrascht sein.“
„Das bin ich hier immer“, antwortete ich, aber da war er schon verschwunden.
Inzwischen habe ich die Stadt schon ganz gut kennengelernt, nun ja, eigentlich nur das kleine Viertel oder besser gesagt, das Zwölftausendstel, in dem ich wohne. Vorhin ist Jokakim erstmalig mit mir ins Zentrum geflogen.
Wir besuchten die Bibliothek mit dem Archiv für das Jahrtausendprojekt. Es war eine Stadt für sich. Hier lagerten wirklich alle Schätze der Weltkultur. Jojakim versuchte mir das Funktionsprinzip der Speichermedien zu erklären und ich hatte einige Mühe, ihm zu folgen. Aber die praktische Handhabung war dann doch recht einfach, vorausgesetzt, man hatte die Zugangsberechtigung. Es war nicht möglich, die persönlichen Daten und Aufzeichnungen von jedermann zu sehen, nur von denen, für die man im Rahmen seines Auftrags im Jahrtausendprojekt die Erlaubnis hatte.
Aber besonders staunte ich über die riesige Präsenzbibliothek, in der man wirklich die Bücher und Schriftrollen aller Zeitalter in die Hand nehmen konnte.
Hier war es auch, wo ich meine Tochter wieder traf: „Hallo Papa, das habe ich mir gedacht, dich hier zu finden. Du hast doch schon damals gesagt, dass du dir das Paradies als eine Art Bibliothek vorstellst.“
„Nun, das war jemand anderes, aber ein bisschen Recht hatte er schon.“
Sie war auch wegen ihrem Jahrtausendauftrag im Archiv unterwegs gewesen und dann hier hängengeblieben. Wir stöberten noch eine Weile aus alter Gewohnheit in den unendlichen Regalen, stellten aber fest, dass diese alte Welt uns doch nicht mehr so sehr interessierte.
„Wie kommst du voran mit deinem Projektauftrag?“
„Ach, es ist schwierig und traurig“, antwortete sie nach einigem Zögern.
„Ja, mir geht es auch so, aber ich werde alles bald abschließen.“
„Warum nur haben es so viele nicht geschafft, ihre Chance zu nutzen.“, stellte Inga tonlos fest.
„Viele haben sich sehr angestrengt, dabei war es so einfach.“
„Ja, das sagen wir jetzt, aus unserer gegenwärtigen und ewigen Perspektive. Aber damals schien es unmöglich.“
„Man musste wohl erst mit sich und der Welt ganz am Ende sein, ehe man die Rettungsbotschaft ergriff.“ Ich erzählte ihr dann von meiner Begegnung mit Jesus und den Bauarbeitern. Einer von ihnen war es, der im letzten Moment gerufen hatte: 'Herr, denke an mich, wenn du in dein Reich kommst!'
„Und dann diskutierten die Experten damals nur noch über das 'Heute' in Jesu Antwort.“
Die Bibliothek mit ihrer Bücherflut schien kein Ende zu nehmen. „Warum wird das alles aufgehoben? Das ist doch fast alles Schund!“ fragte ich.
Jojakim bestätigte: „Und was für einer. Die Bibliothek könnte man nicht nur mit dem Paradies, sondern auch mit der Hölle vergleichen. Aber das alles auszusortieren oder einen Index anzulegen, wäre eine große, unnötige Aufgabe gewesen. Stell dir vor, jedes Buch, jeden Film, jedes Bild, ja jedes Lied und jeden Titel jeder Pop-Gruppe in die Hand nehmen oder ins Ohr lassen und sich fragen: 'Aufheben oder ins Feuer werfen?'
Mit dieser Frage haben wir uns lieber auf die Menschen konzentriert. Inzwischen wisst ihr selbst, wie schwer sie ist.“
„Oh, ja.“ seufzten wir.
„Zuletzt hat Jesus dann jeden Fall einzeln selbst entschieden und die Namen derer, die er kannte, ins Lebensbuch geschrieben.“
Dann setzte er fort: „Was ihr hier seht, ist gewissermaßen der Rauch, der von den Verworfenen in Ewigkeit übrig bleibt."
Nachdenklich verließen wir das unendliche Labyrinth der Bibliothek und des Jahrtausendarchivs.
„Warst du schon bei den Tieren?“ fragte Inga, als wir wieder in das helle Licht der Stadt traten.
„Nein, das habe ich noch nicht geschafft, aber Jojakim hat mir schon erzählt, dass es hier so eine Art 'Arche Noah' gibt.“
„Ja, wir waren mit den Kindern schon dort, es war lustig und rührend zu gleich.“
Ich rief Ronald, der hier in der Nähe wohnte und dann gingen wir in den 'Zoo'.
In einem riesigen Freigehege tummelten sich alle Tiere, die man sich nur vorstellen konnte, alle Arten von Vögeln und Reptilien, alle Säugetiere und unzählige Fische in riesigen Becken und Aquarien. Sie waren dazu bestimmt, mit auf die neue Erde zu kommen und die Grundlage der neuen Fauna zu bilden.
Alle Landtiere und Vögel konnten sich frei bewegen. Sie respektierten sich gegenseitig und auch die Grenzen des Geheges. Das betraf auch die, die wir als Raubtiere in Erinnerung hatten. Zutraulich kamen sie zu uns und ließen sich streicheln.
„Und was bekommen sie zu fressen?“ war sofort meine Frage.
Jojakim führte uns zu den Löwen, die gerade Futter bekamen. Auch sie waren auf Pflanzenkost umgestellt. Mit ihrem scharfen und kräftigen Gebiss vertilgten sie die krautigen und saftigen Stengel irgendwelcher Pflanzen. Dazu gab es große, wie Melonen oder Kürbisse aussehende Früchte. Der rote Saft spritzte umher und erweckte tatsächlich den Eindruck einer Raubtierfütterung.
Plötzlich schnatterte es neben meinem Ohr. Ein Wellensittich hatte auf meiner Schulter Platz genommen.
„Das ist Ferdinand“, rief Inga, „der hat uns schon beim letzten Mal erkannt.“ Er kam auf meine Hand und knabberte in meinem Gesicht herum. Er flog aber bald wieder weg zu einem Schwarm seiner Artgenossen.
Man hätte denken können, dass er vor der graubraun gestreiften Katze geflüchtet wäre, aber hier hatte niemand mehr Angst voreinander. Die Katze sah aus wie Murkel, unser alter Hauskater, und benahm sich auch so. Er wälzte sich auf dem Gras und ließ sich ausgiebig knuddeln.
Wir bummelten noch etwas durch die blühende Parklandschaft, in der Pflanzen, Tiere und Menschen harmonisch miteinander lebten. Es war ein richtiger Paradiesgarten.
Auf einer Bank sah ich Jadwiga mit ihrem Freund Miguel sitzen. Das war eine Überraschung, ihn hätte ich fast nicht erkannt, so ganz in Weiß. Und noch überraschender – Jadwiga hatte ein Baby dabei!
„Ja, was mir damals nicht vergönnt war, ist hier Wirklichkeit geworden!“
Ich schaute etwas fragend zu Jojakim und meinte: „Da wird die neue Erde also nicht nur ein Planet der Wiedergeborenen sondern auch der Neugeborenen werden?“
Er erriet wieder mal meine Gedanken und antwortete: „Freilich, Leben ist Bewegung und Wachstum. Platz ist genug da, du weißt doch, wie unendliche viele Galaxien mit Sternen und Planetensystemen es im Universum gibt.“
„Und dann noch die Multiversen“, warf Miguel ein.
„Ja, ich merke, der Physiker spricht“, gab ich ihm recht.
Wir plauderten noch etwas und bewunderten den Neubürger.
„Weint er denn auch manchmal?“ fragte Inga.
„Klar, wenn ich ihn zu lange auf die Brust warten lasse, schreit er ganz schön, aber sonst ist er ganz friedlich.“
Als wir wieder weiter gingen, rief Miguel: „Also dann, bis zur Hochzeit!“
„Was, ihr heiratet?“
„Ach wo, unsere große gemeinsame Hochzeit!
Hendrik arbeitete in der Energiezentrale eines Synthesewerkes. Er hatte sich mit seiner Projektaufgabe beeilt und ließ sich nun die Technik von den Engeln erklären, die ihn bald mit neuen Aufgaben eindeckten.
Mich interessierte das auch und so ließ ich mich von ihm zu einer Besichtigung des Werkes einladen. Hier geschah das im großen Maßstab, was Jojakim mir ganz am Anfang mit dem „Tischlein deck dich“ demonstriert hatte. Ich hatte mir diese Anlage noch viel größer vorgestellt, aber Hendrik erklärte mir, dass der Bedarf an materiellen Produkten immer geringer würde. Ja, so war es auch. Zuerst sind wir alle in die riesigen Shopping-Malls der Stadt gegangen, haben uns neu eingekleidet und uns dies oder jenes Spielzeug, was uns von „Damals“ bekannt vor kam, geholt. Aber das Interesse ließ rasch nach. Der uns begleitende Engel meinte, dass auf der neuen Erde sicher wieder mehr praktische Gegenstände gebraucht würden.
Besonders fesselte mich die Energie- und Informationszentrale des Werkes, in der Hendrik sich schon gut eingearbeitet hatte. Der Engel fragte mich: „Wenn du Interesse hast, kannst du hier auch mitarbeiten. Und in der großen Leitwarte der Stadt suchen wir auch noch Menschen, die uns mal ablösen können.“
Er sprach dann von den Vorbereitungen für den großen Flug zur neuen Erde. Es war mir immer noch unfassbar, dass sich die ganze riesige Stadt in Bewegung setzen sollte.
Wieder in meiner Wohnung angekommen, machte ich es mir auf dem Balkon bequem und schaute in einen der letzten 'altirdischen' Bestseller, die ich mir in der Bibliothek kopiert hatte. Ich las, aber so richtig konnte ich mich nicht mehr in die damaligen Verhältnisse hineinversetzen.
Plötzlich raschelte es im Weinlaub am Balkon und Murkel kam über das Geländer gesprungen.
„Nanu, wie hast du das denn hier hoch geschafft?“
Freilich, besonders einbruchsicher waren die Häuser und Wohnungen hier nicht. So wie die Tore der Stadt dienten auch die Haus- und Wohnungstüren mehr zur Dekoration als zur Befriedigung eines – nicht vorhandenen – Sicherheitsbedürfnisses.
Murkel hatte es also bequem geschafft, außen empor zu klettern. Nun wälzte er sich wieder auf dem Fußboden und genoss seine Streicheleinheiten. Doch dann ließ er mich auf Katzenart seine Krallen spüren, sprang auf das Sofa und rollte sich zu einem Schläfchen zusammen.
Ich setzte mich wieder auf den Schaukelstuhl, schaute über die Stadt und genoss den Frieden und die Freiheit von allen Sorgen. Ich fühlte mich so glücklich wie am Anfang auf dem Felsen. Voller Dankbarkeit richtete ich meine Gedanken auf Jesus – und plötzlich war ER wieder da!
Ich sprang auf, er drückte mich an sich und sagte: „Komm, setzen wir uns.“
Er nahm den Kater auf seinen Schoß, der zufrieden zu schnurren begann. Mir legte er seinen Arm um die Schulter und ich war auch wunschlos glücklich.
„Wie kommst mit deinem Tagebuch voran?“ fragte er nach einer Weile.
„Ja, geht schon, ich bin noch etwas im Rückstand. So richtig gefällt es mir nicht.“
„Warum?“
„Es macht alles so einen zwanghaft chronologischen Eindruck, die Wirklichkeit hier ist ganz anders. Mit dem linearen Textfluss kann ich sie nicht wiedergeben. Ob ich es mit Hypertext versuchen sollte? Geht das?“
Jesus hatte mir geduldig zugehört. „Sicher, technisch geht das, aber es ist nicht nötig. Denn was nützt das alles, wenn die Leser es nicht verstehen und nicht glauben wollen?“
„Schade.“
„Du kannst es abschließen. Jojakim hat es doch schon zurückgebracht. Hat es dir geholfen? Wie fühlst du dich?“
„Doch, sehr gut. Vieles ist mir jetzt klarer.“
„Prima, dann kannst du Schluss machen damit. Es gibt hier Besseres zu tun.“
„Ja aber – ich würde noch gern weiterschreiben – wie es mit uns weitergeht ...“
Jesus lachte. „Du meinst die Hochzeit? Den Rückflug?“
„Ja -“
„Ach das versteht keiner. Das ist zu schön, um in solche Worte gefasst werden zu können.“
Er setzte Murkel auf den Boden, stand auf, zeigte auf das Schreibtablett und sagte: „Mach Schluss.“
Ich stand auch auf, wir umarmten uns und ich fragte: „Wann ist es soweit?“
„Bald“, hauchte er mir ins Ohr, „beeil dich. Du kannst dich schon auf den Weg machen, wir treffen uns im großen Saal der Sterne.“
Als ich wieder allein war, auch Murkel war mit verschwunden, nahm ich etwas ratlos mein Schreibgerät zur Hand.
Ende. Schluss.
Dieses Wort kommt mir hier so fremd und unpassend vor.
Ich fürchte, die Tinte wird bald wieder stocken. Deshalb schicke ich meine Phantasie voraus.
Ein Lufttaxi bringt mich ins Stadtzentrum bis kurz vor den großen Turm. Es setzt mich auf der Uferpromenade am großen Strom ab. Aber der Fluß ist nur noch ein kleines Rinnsal, der Tränenstrom wird endlich getrocknet. Die großen Bäume am Ufer sind noch kahl wie im Vorfrühling, aber schon voll dicker Blattknospen.
Plötzlich kommt etwas durch die Bäume geflogen, eine Taube? Eine helle Wolke hüllt mich ein und taucht alles in regenbogenfarbiges Licht. Ich fühle mich am ganzen Körper, ja auch im Inneren, in meiner Seele angenehm berührt und ergriffen.
Eine Stimme sagt in meinem Kopf: „Hallo lieber Eric, Jesus bat mich, dich zu begleiten. Du weißt, ich bin sein Stellvertreter.“
Ich fühle, ich brauche nichts zu sagen, ich freue mich mit unaussprechlicher Freude und Dankbarkeit.
„Der große Strom wird bald wieder fließen, aber in die andere Richtung und die ganze neue Erde bewässern.“
Ich erinnere mich, schon vom Fluß und dem Baum an seinem Ufer gelesen zu haben.
Anstatt zum Fahrstuhl im Fuß des Turmes zu gehen, werde ich plötzlich emporgehoben und zur großen Halle der Sterne geführt. Am Eingang bekomme ich eine neue weiße Toga und darf eintreten.
Die riesige Halle verdient ihren Namen, ich bin wirklich im Himmel angekommen. Sie ist wie ein riesiges Stadion, obwohl das nur ein schwacher Vergleich ist, in dem sich alle geretteten Menschen versammeln. In dem unendlich großen Rund leuchten sie wie die Sterne. Und darüber wölbt sich tatsächlich das ganze Firmament in einer noch nie gesehenen Pracht. Alle Sterne und Galaxien scheinen zum Greifen nah.
Wie immer denke ich, ich bin der Letzte. Aber dann sehe ich, wie von allen Seiten die Menschen in die Halle strömen. Ich sehe Gitta, sie hat mir einen Platz freigehalten, das heißt neben ihr erscheint noch ein Sitz für mich. Die Sessel schweben im Raum, der sich beliebig vergrößert.
So viele Leute, die mich erkennen und über die ich mich so freue! Meine Eltern, Großeltern und Verwandten, meine Geschwister – auch der kleine Erwin, unsere Kinder und Enkel, dazu viele liebe Freunde und Bekannte.
Obwohl sie weit verstreut sitzen, kommen wir uns sofort nahe. Wie mit einer Art „Zoom“ kann ich jeden „heranholen“ oder er mich. Es gibt kein Gedränge, jeder hat Platz, keiner steht allein herum.
Ein großer, angenehmer Ton erfüllt die Halle, wie ein Gong, dann wie ein Orgelvorspiel. Alle schauen in die Mitte, wo eine große Lichtgestalt in durchdringender Helligkeit erscheint. Dieses überirdischen Wesen lässt uns alle von den Plätzen aufspringen und zu Boden sinken. Da dringt ein neuer Ton in unsere Sinne, es ist eine Stimme, von ganz oben aus dem Sternenzelt, das aufreißt und den Blick freigibt auf eine unnennbare strahlende Herrlichkeit, umgeben von vielen Regenbögen: „Das ist mein lieber Menschensohn und du bist seine auserwählte Braut!“
Da erkenne ich in der Lichtgestalt Jesus, unseren Menschenbruder.
Zwischen ihm und uns erstreckt sich ein silbrig-kristallenes Medium wie ein großes Meer. Und wieder erklingt die himmlische Musik und ich erinnere mich an die Lieder, die wir gelernt hatten. Nun kann und darf ich einstimmen in den himmlischen Chorgesang zum Lobe Gottes und unseres Befreiers.
Jesus streckt seine Hand aus – zu mir, zu einem jeden von uns – und zieht uns durch das, was wie ein helles Wasser zwischen uns ist, hindurch, zu sich und schließt mich in seine Arme.
Dann hat er einen großen Kelch voll rotem Wein in der Hand und ruft: „Komm, meine liebe Braut, wir wollen uns vermählen!“
Engel gehen durch die Reihen und teilen Gläser aus. Zu uns kommen Esther und Jojakim und füllen unsere Gläser randvoll mit dem blutroten Wein. Ich denke an das Abendmahl, wo ist das Brot?
Da sagt die mir schon bekannte Stimme in mir: „Brot braucht jetzt nicht noch einmal gebrochen und gegessen zu werden. Du gehörst jetzt zu ihm, bist ganz und gar ein Teil seines Körpers. Du brauchst nur noch den Wein, dann fließt auch sein Blut durch deine Adern.“
Wir heben alle gemeinsam unsere Gläser und leeren sie mit ihm in einem Zuge.
Ein heißes Glücksgefühl durchdringt in mehreren Wellen mich und alle mit mir. Dazu erfüllt mich ein tiefes Gefühl der Verbundenheit. Er hat mich erkannt, ich bin eins mit ihm und durch ihn auch mit allen Menschen. Nicht mehr allein, nicht mehr isoliert, das ist das ewige Leben.
Im gleichen Moment geht ein sanftes Beben durch die Halle. Wir sinken zurück in unsere Sessel und spüren die Beschleunigung – die Reise hat begonnen!
Der Sternenhimmel über uns gerät in Bewegung, Sterne und Galaxien fliehen beiseite. Die heilige Stadt Jerusalem durcheilt die Raumzeit hin zur neuen Erde, der Heimat der neuen Menschheit.
Wir heben unsere Gesichter nach oben und sehen ...
paulkarl Re: Wow! - Zitat: (Original von fedora am 26.04.2013 - 21:37 Uhr) Das ist echt gewaltig! Ich habe es von Anfang bis Ende gelesen. Der Satz, der sich für mich am schönsten anfühlt ist.. Jeder hat für jeden immer Zeit. Wie wunderbar. Das weit verbreitete Mantra "ich habe keine Zeit" ist aufgehoben. Wie schön! Ein herrliches Buch. Liebe Grüße Petra Danke, ja, die Überwindung der Zeit ist das Hauptanliegen meiner Geschichte LG Paul K. |
fedora Wow! - Das ist echt gewaltig! Ich habe es von Anfang bis Ende gelesen. Der Satz, der sich für mich am schönsten anfühlt ist.. Jeder hat für jeden immer Zeit. Wie wunderbar. Das weit verbreitete Mantra "ich habe keine Zeit" ist aufgehoben. Wie schön! Ein herrliches Buch. Liebe Grüße Petra |