Der Kuss
Ein seltsames, schmerzhaftes Ziehen im Bauch reißt mich aus meinen Träumen. Ich reiße die Augen auf, bin einen kurzen Moment verwirrt, dass ich das überhaupt kann, und starre dann entsetzt die gewaltigen Baumwipfel über mir an.
Dann sickert alles ganz langsam alles wieder mein Bewusstsein, und ich erinnere mich: Der Alptraum, der Kampf, meine Wunde, Lave…
Lave!
Mit einem kleinen Schrei versuche ich ungeschickt auf die Beine zu springen, schaffe es aber nicht, zu groß ist der Schmerz um meinen Bauch herum, zu groß ist meine Erschöpfung. Lave! Geht es Lave gut?! Lebt er überhaupt noch? Wenn er nicht mehr lebt will ich es auch nicht.
Ich blicke zum ersten Mal an mir herunter und bemerke dass mein Bauch mit ein paar zerschlissenen Stoffstreifen verbunden ist. Das muss Lave gewesen sein! Das kann nur er gewesen sein! Wer soll es denn sonst gewesen sein?!
Er muss also noch leben!
Dieser Gedanke beruhigt mich genug um mich ein paar Sekunden lang stillliegen zu lassen. Ich mustere meine Umgebung: Anscheinend liege ich noch genau dort wo ich umgefallen bin. Das Feuer neben mir ist erloschen und über mir graut gerade ein grauer Morgen. Welcher Morgen… das vermag ich nicht zu sagen. Lave kann ich noch immer nicht entdecken.
Ich beginne langsam, dieses Mal vorsichtiger, mich hochzuhieven Genau im selben Moment tritt eine Gestalt aus dem Wald.
Ich brauche einige Sekunden bevor ich Lave erkenne.
Im Gegensatz zu ihm ist die tiefe Wunde an meinem Bauch nicht einmal ein Kratzer. Schon allein sein Gesicht bietet einen fürchterlichen Anblick, es ist voller Blutergüsse, seine Nase sitzt ein wenig schief, er hat ein blaues Auge und ein Teil seiner Wange fehlt so dass man auf die vom Blut rot gefärbten Zahnreihen dahinter sehen kann. Seine restlichen Wunden werden zum Glück von seiner Kleidung verdeckt, doch was ich sehe, reicht um mich entsetzt den Blick abwenden zu lassen.
Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen wie er zu mir kommt, und dann spüre ich plötzlich seine Hand auf meiner Schulter. Aber ich blicke nicht auf.
„Du solltest dich wieder hinlegen“, meint Lave weich. „Du bist schwer verwundet.“
Ha! Das sagt ja der richtige.
Trotzdem lasse ich zu dass er mich sanft zu Boden drückt und setze mich hin. „Danke für den Verband“, murmle ich schließlich leise. „Ohne den wäre ich wahrscheinlich gestorben.“
„Schon gut“, erwidert Lave. „Ohne dich wäre ich wahrscheinlich gestorben!“
Diese Worte lösen ein warmes Kribbeln in meinem Bauch aus und ich fasse schließlich doch den Mut aufzublicken. Dieses Mal ist der Anblick seines Gesichts nicht so schlimm wie vorher, vielleicht weil ich darauf gefasst bin, vielleicht aber auch wegen meinem heftig pochenden Herzen. Ich starre ihn länger als nötig an und sofort schießt mir die Röte in die Wangen.
Lave interpretiert sie falsch. „Ich weiß… ich sehe grauenhaft aus. Aber das wird wieder verheilen!“ Ich schüttle heftig den Kopf. „Nein… ich meine: Nein, tust du nicht. Ich…“
Ich weiß nicht… soll ich es ihm jetzt sagen? Dass er der einzige Grund ist warum ich noch lebe? Dass er derjenige ist der es mir ermöglicht hat wirklich zu leben, in vielerlei Hinsicht? Dass mein Leben ohne ihn keinen Sinn mehr ergeben würde? Dass ich ihn liebe?
Aber dann versagt mir die Stimme und ich schweige. Lave schweigt ebenfalls und schiebt mir bloß mit seiner vernarbten Hand eine Strähne meines Haares hinters Ohr. „Schon okay…“, flüstert er. „Ich weiß du meinst.“
Ich blicke ihn an, wie er da schwer verwundet vor mir hockt und mich zärtlich anblickt und verfluche mich dafür dass ich kein Wort heraus bekomme. Vielleicht empfindet er genauso? Woher soll ich das wissen wenn ich nichts sage?
Wir sehen uns einen Moment der einer Ewigkeit gleicht lang in die Augen, dann wendet Lave den Blick wieder ab. „Es tut mir Leid dass ich dich nicht beschützen konnte…“
Ich schlucke und versuche meine Stimme wieder zu finden, doch sie ist einfach verschwunden.
„…ich dachte wirklich das Feuer hält ihn ab! Bisher war es immer so! Ich verstehe einfach nicht warum es nicht gewirkt hat. Es tut mir so leid…“
Ich schüttle den Kopf und bringe ein gewispertes: „Schon gut!“, heraus. „Lave, ich…“
Er blickt auf und lässt seine eine Hand die noch immer meine Haarsträhne hält auf meine Wange gleiten.
„Ja?“
„Ich… ich liebe dich!“
So, jetzt ist es draußen.
Ein Grinsen bildet sich auf Laves entstellen Gesicht. „Na endlich!“
Dann legt er mir auch noch die andere Hand in den Nacken und beugt sich vor um mich zu küssen.
Im ersten Moment werde ich von Panik erfüllt. Da sind… zu viele Gefühle! Panisch reiße ich mich von Lave los und zucke zurück. Doch im nächsten Moment bereue ich meine übereilige Reaktion. Ist das nicht genau das was ich gewollt habe?
Doch Lave lässt sich von meiner Angst sowieso nicht täuschen. Er lässt seine Hände wo sie sind und mustert mich zärtlich. „Warum denkst du habe ich dich gerettet?“, fragt er. „Ich wusste es vom ersten Moment an in dem ich dich gesehen habe… dass du diejenige bist… die ich gesucht habe…“
Dann zieht er mich wieder an sich und küsst mich. Und dieses Mal zucke ich nicht zurück sondern lehne mich gegen ihn, dränge mich immer näher gegen ihn, vergrabe meine Hände in seinen Haaren und will ihn ebenfalls noch näher zu mir ziehen. Lave löst seine Hand von meiner Wange und legt sie stattdessen um meine Hüfte. Als Antwort darauf drücke ich meinen ganzen Körper gegen ihn, also wollte ich mit ihm verschmelzen, ein Teil von ihm werden, ihn nie wieder verlieren während ich mich in ihm verliere…