Liebe?
An diesem Morgen weckt Lave mich während gerade die Sonne aufgeht. Er selbst hat nicht besonders viel Staunen für dieses wundervolle Schauspiel übrig sondern drückt mir einfach nur Brot und den Wasserschlauch in die Hand, dann eilt er in einer gespannten Geschäftigkeit herum um das Feuer zu löschen und die Spuren zu verwischen. „Wenn sie mitkriegen dass wir hier gelagert haben“, sagt er ungefähr in meine Richtung. Ich weiß sofort wer sie sind. Oder besser gesagt: er.
Mein Vater.
Instinktiv sehe ich zu dem VERTRAG hin der aus Laves Tasche baumelt. Er folgt meinen Blick und legt sofort die Hand darum um meinen Blick abzuschirmen. Ich sehe weg und schäme mich.
„Kommst du?“, fragt Lave mich leise. Ich sehe wieder auf und unsere Blicke begegnen sich. Ein paar Sekunden lang scheint die Zeit um uns stehenzubleiben und es gibt nur noch seine Augen und seinen sanften, verständnisvollen Blick der in mein Innerstes einzudringen, es zu durchwühlen und all meine Fehler, aber auch all meine Vorteile zu finden scheint. Und der nicht über mich richtet, sondern mich versteht, mich in meinem Innersten versteht und genau dafür respektiert dass ich bin was ich bin, und nicht das, was mein Vater jahrelang allen Menschen in meiner Umgebung vorgespielt hat.
Dieser eine, kurze Blick gibt mir so viel Kraft und Mut dass ich für einen Moment das Gefühl Berge versetzen und Ozeane trennen zu können. Doch dann wendet Lave sich ab, unterbricht unsere Verbindung und es ist vorbei. Ich bin wieder bloß Leilina, das kleine Mädchen das nichts erreicht hat im Leben, das alles was sie hat, Gutes und Schlechtes, nur ihrem Vater zu verdanken hat und nichts selbst bieten kann.
Ich versinke wieder voll und ganz in meinen trübsinnigen Gedanken bis mich eine Bewegung aus den Gedanken reißt. Lave, der mir seine Hand hinhält um mir aufzuhelfen, aber ohne mich anzusehen. Ich bin darüber fast erleichtert, ergreife seine Hand und lasse mich auf die Beine ziehen. „Wir gehen jetzt weiter, bevor sie uns womöglich noch einholen“, meint er. „Wenn du meine Hand halten willst damit du dich nicht selbst sosehr anstrengen muss kannst du das tun.“
Eine weitere Fähigkeit die die stärkeren Elfen haben ist der Kräftefluss. Solange man in Verbindung steht kann man seine eigenen Kräfte einer anderen Elfe leihen. Die mächtigsten schaffen dass auch ohne sich körperlich berühren zu müssen, aber in dieser Liga spielen weder ich noch Lave. Ich nicke, und er bemerkt es obwohl er mich nicht ansieht und drückt meine Hand.
Dann laufen wir gemeinsam los.
Die Tage ziehen an uns vorbei wie die Gegenden bei diesem Lauf. Ich bleibe immer artig beim Feuer und habe zum Glück keine unheimlichen Begegnungen mit dem Alptraum mehr. Lave bleibt fürsorglich und schweigsam. Wenn wir nachts unser Lager aufschlagen verschwindet er meistens noch irgendwohin und nimmt meinen VERTRAG mit sich. Einmal bin ich ihm aus Neugierde gefolgt, doch alles was er getan hat, war, schweigend am Boden zu sitzen, irgendeinen dunklen Stein den ich nicht näher identifizieren konnte und, seinem schmerzverzerrten Gesicht nach, über etwas Trauriges oder Schreckliches nachgrübeln. Vielleicht macht er sich Sorgen in was er da eigentlich hinein gerattert ist bloß weil er mir geholfen hat. Was mich zu der Frage bringt wieso er mir eigentlich geholfen hat.
Lave regt sich wieder und ich husche schnell zurück zum Feuer, nehme mein Brot und tue so als würde ich schon die ganze Zeit daran herum knabbern. Er tritt wenige Minuten später ins Licht und wirft mir und dem Brot nicht mehr als einen kurzen Blick zu. „Ab morgen werden wir etwas anderes für dich suchen müssen“, meint er dann. „Hm?“, ich blicke verwirrt auf. Er lässt sich auf der anderen Seite des Feuers nieder und vermeidet es tunlichst mich anzusehen. „Wir sind weiter gekommen als ich jemals zuvor. Unsere Verfolger haben wir wahrscheinlich abgehängt. Jetzt müssen wir aufpassen dass wir nicht in die Menschenwelt geraten, uns von Alpträumen fernhalten. Und unser Essen müssen wir in Zukunft selber jagen…“, er wirft mir einen nachsichtigen Blick zu „oder pflücken.“ Ich nicke stumm und sehe mich um. Nichts als Wald und lauter stummer Bäume. Heißt dass hier bin ich in Sicherheit? „Werden wir… hier bleiben?“, frage ich leise mit einem mulmigen Gefühl. So schön das Reisen mit Lave ist, so wenig behagt mir doch der Gedanke für immer hier im Wald bleiben zu müssen.
„Für eine Weile vielleicht“, meint er nachdenklich. „Aber es ist doch zu unsicher zu lange an einem Ort zu bleiben… ich werde…“, unser Feuer flackert „…sichergehen dass hier alles in Ordnung ist, und dann…“, ein leises Knurren ertönt „…überlege ich mir in aller Ruhe wie lange wir…“ „…Lave?“ „hier bleiben… was ist los?“
Ich sehe mich unbehaglich um und kann diese vertraute, schauderhafte Aura um mich spüren. „Es ist wieder da!“, wispere ich so leise wie möglich. Er sieht mir ernst in die Augen und fragt dann: „Der Alptraum?“ Ich nicke stumm und kann beobachten wie er sich, entgegen seiner Worte: „Es ist alles in Ordnung, beim Feuer sind wir sicher.“, anspannt. „Du bist dir ganz sicher dass es nicht hierherkommen kann?“, frage ich ängstlich. Lave wirkt ein wenig unsicher. „Ich… ja… eigentlich nicht… es sei denn…“ „Was?!“, unterbreche ich panisch.
Die dunkle Aura um mich wird immer stärker und schließt düster und eiskalt mein Herz ein. Ich sehe mit weit aufgerissenen Augen zu Lave und frage mich ob er es auch so intensiv spürt. Wenn ja, dann kann er damit um einiges besser umgehen als ich. „Nichts“, meint Lave leise und senkt den Blick, gleichzeitig zieht er seine Eisendolche, sorgfältig darauf achtend nicht selbst mir ihren Klingen in Berührung zu kommen. Ich zittere vor Angst, trotzdem fasse ich mir ein Herz und frage wispernd: „Was kann ich tun?“ Der Elf wendet mir den Blick zu und sieht ein wenig unschlüssig aus. „Pass einfach auf dass dir nichts passiert. Wenn, dann wird… es… sowieso auf mich losgehen. Sollte es dich doch bemerken verhalte dich einfach so still wie möglich. Vor seinen Alpträumen kann man nicht davon laufen.“
Ich ringe mir ein schwaches Lächeln für diese doppeldeutige Bemerkung ab und stehe gleichzeitig auf; ob es nun klug ist davon zu laufen oder nicht, ich fühle mich jedenfalls sicherer wenn ich zumindest die Möglichkeit habe.
Einige Sekunden stehen wir beide einfach nur angespannt da, das bedrohliche Atmen um uns, dann verklingt es auf einmal und Lave entspannt sich ein wenig, obwohl die gefährliche Aura nicht im geringsten verschwunden ist. „Sieht ganz so aus als…“, beginnt der Elf, doch weiter kommt er nicht. Ich will ihn warnen, aber für mehr als ein erschrockenes „Lave!“, ist es zu spät als plötzlich eine dunkle Gestalt die einfach das Licht des Feuer zu schlucken scheint aus den Büschen springt.
Es stürzt sich direkt auf Lave der gerade mal Zeit hat sich umzudrehen und Anstalten seine Dolche zu heben zu machen, da wird er auch schon von dem Teil umgerissen und verschwindet unter ihm. „Lave!“, kreische ich erschrocken, schon wieder.
Doch im nächsten Moment wird das schwarze Dinge, dass mich am ehesten an einen riesigen, nachtschwarzen Wolf erinnert, schon wieder davon und gegen einen Baum geschleudert. Lave springt auf die Beine und hechtet ihm gleich hinterher um auf es einzustechen, doch der Alptraum windet sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit zwischen seinen Angriffen hindurch. Dann greift es wieder an, schlägt mit seiner mächtigen Pranke so stark nach Lave dass dieser von den Füßen gefegt wird. Ich schreie entsetzt und will nach vorne stürzen um ihn irgendwie zu helfen, in diesem Moment ist es mir egal wenn ich damit mein eigenes Leben gefährde, doch ich kann mich nicht regen, ich bin wie erstarrt. Der Wolf stürzt sich auf Lave und schnappt nach ihm. Zum Glück kann der Elf sich gerade rechtzeitig wegrollen, doch das Ding erwischt ihn an einem Arm und reißt eine riesige, schmerzhaft aussehende Wunde hinein. Lave schreit vor Schmerz und dieser Schrei geht mir durch Mark und Bein, aber ich kann mich einfach nicht bewegen, mein Körper ist wie aus Eis. Lave lässt mit dem verletzten Arm seinen Dolch fallen, drischt aber mit dem anderen auf den Wolf ein und schafft es ihn soweit zurück zu drängen dass er sich mühsam wieder auf die Beine hieven kann. Er findet sogar Zeit kurz einen Blick zu mir herüber zu werfen und formt mit den Lippen, hören kann ich ihn nicht mehr, die Worte: „Renn.“
Aber ich bewege mir keinen Zentimeter und im nächsten Moment muss Lave sich wieder auf das Monster konzentrieren. Der Wolf stürz sich wieder nach vorne und versucht ihn wieder von den Beinen zu reißen, doch dieses Mal weicht der Elf gekonnt aus und sticht mit seinem Dolch mitten in seine Seite. Aber das Ding scheint die Wunde nicht einmal zu bemerken, wirbelt stattdessen zu Lave herum und schafft es doch wieder Lave zu Boden zu reißen. Ich schreie schon wieder, auch wenn ich weiß wie sinnlos das ist.
Da ist das Ding schon auf Lave drauf und beginnt mit seinen Krallenbesetzten Pfoten seine Kleidung und seine Haut zu zerfetzen. Ich kann Laves Stöhnen, zu mehr ist er nach dem Blutverlust offenbar nicht mehr in der Lage, so laut hören als hätte er geschrien. Mir dämmert jetzt dass er sterben muss… hingerichtet von einem Alptraum.
Ich weiß dass ich jetzt seinen Befehl befolgen, mich umdrehen und davonlaufen sollte, aber ich kann es nicht. Sicher, wenn ich stehen bleibe wird der Alptraum mich früher und später auch bemerken, und auch mich zerfleischen, aber das macht mir seltsam wenig aus. Weniger als die Gewissheit weggerannt und Lave zurückgelassen zu haben. Vielleicht habe ich ja noch die Chance zu entkommen, aber selbst wenn: Wo soll ich denn hin? Lave hat mich nicht nur gerettet indem er mich meinem Vater gestohlen hat, er hat auch mir etwas gestohlen.
Wie soll ich denn jetzt noch ohne ihn leben?
Er hat mir mein Herz gestohlen.
Und im selben Moment in dem ich zur dieser Erkenntnis gelange, erlange ich auch die Kontrolle über meinen Körper zurück, neue, warme Kraft fließ wieder durch meine Muskeln. Aber ich nutze sie nicht um davon zu rennen, sondern ich stürze mit einem Schrei nach vorne zu dem Alptraum hin.
Wenn Lave stirbt, dann muss auch ich sterben.
Aber solange ich lebe wird auch er leben.
Denn ich liebe ihn.