ERWACHT
Beim Erwachen stelle ich fest, dass ich in meinem Bett liege. Verwirrt setze ich mich auf. Gleichzeitig frage ich mich, warum ich das Gefühl habe, dass ich wo anders sein müsste. Ich runzele die Stirn und lasse meinen Blick durch den vertrauten Raum schweifen - die in sonnengelb gestrichenen Wände die Gardienen vor dem Fenster mit Rosenmuster, der Schreibtisch gegenüber vom Bett an der Wand mit dem alten PC und einem Stapel Taschenbüchern neben der Tastatur, der imposante Kleiderschrank links im Zimmer und die beiden Sitzsäcke, die so gut wie nie benutzt werden. Sie sind dazu gedacht, damit es genug Sitzmöglichkeiten gibt, wenn ich Freunde einlade, sodass niemand auf dem Boden sitzen muss. Da ich aber keine Freunde habe, die ich einladen könnte, ist das Thema wohl ohnehin erledigt.
Mein Magen zieht sich fast schmerzhaft zusammen und ich unterdrücke ein Stöhnen, lege meine Hand auf die protestierende Stelle und merke, wie mir leicht schwindelig wird. Ich blinzele, bis das Gefühl wieder verschwunden ist.
In dem Moment geht die Tür auf und meine Tante kommt ins Zimmer. Als sie sieht, dass ich wach bin, bleibt sie abrupt stehen. "Rose", sagt sie. Dann eilt sie mit großen Schritten zu mir über. "Oh, bin ich froh, dass du wieder wach bist. Ich hab mir solche Sorgen gemacht." Sie legt mir eine Hand auf die Stirn, wahrscheinlich um meine Temperatur zu befühlen, aber ich schüttele sie ab.
"Warum hast du dir denn Sorgen gemacht?", frage ich verwirrt. Meine Worte werden von einem lauten Knurren begleitet und Hitze steigt mir ins Gesicht.
Tante Ebony lächelt. Doch noch immer sehe ich leise Besorgnis in ihren Augen. "Mir scheint, du hast Hunger, aber das wundert mich überhaupt nicht. Gott, Kindchen, du hast mir einen Riesenschrecken eingejagt, weißt du das? Ach, was rede ich denn da. Natürlich weißt du das nicht." Sie richtet sich auf und wendet sich ab. Über die Schulter hinweg sagt sie noch: "Ich bring dir erst mal etwas zu essen, danach können wir darüber reden, was passiert ist."
Sie will gerade das Zimmer verlassen, als ich sie zurückhalte. "Warte", rufe ich. "Was meinst du damit?" Was ist denn passiert? Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern. "Was ist geschehen, Tante Ebony?"
Als sie sich nun zu mir umdreht ist ihr sonst so fröhliches und junges Gesicht ernst und weiße Linien der Anspannungen ziehen sich seitlich um ihren Mund. "Du warst drei Tage bewusstelos", sagt sie nun. "Der Arzt meinte, du lägest im Koma. Ich habe ihn überreden können, dich noch für ein paar Tage hier zu lassen, für den Fall dass du erwachen solltest, wollte ich, dass du in einer dir vertrauten Umgebung bist. Aber heute war ich schon so weit, dich ins Krankenhaus zu bringen. Du ahnst gar nicht, was ich deinetwegen durchgemacht habe, Rosewyn. Tu mir einen Gefallen - mach das nie wieder."
Damit verließ sie mein Zimmer und ließ mich sprachlos zurück.
Der Arzt befiel mir noch eine ganze Woche das Bett zu hüten, bevor ich endlich wieder in die Schule konnte. Noch nie habe ich mich so sehr nach dem langweiligen Unterricht gesehnt, wie in den vergangenen Tagen und ich glaube, wenn mir noch einmal jemand sagt, ich solle mich ausruhen, mich hinsetzen, hinlegen oder ein wenig schlafen, schreie ich.
Die Lake View High School liegt zwischen den Stadtteilen North Center, Buena Park und Sheridan Park und befindet sich westlich vom Graceland Cemetry. Ich wohne mit Tante Ebony in North Broadway, darum nehme ich jedes Mal auf dem Schulweg die Abkürzung durch den Friedhof.
Oft sind Touristen da, die Fotos machen und sich die berühmten Gräber ansehen, insbesondere die Statue im Glaskasten der kleinen Inez Clarke und das Dexter-Denkmal "Eternal Silence", welches von dem Künstler Lorado Taft gebildet wurde. Um beide, Inez und dem Denkmal, kreisen noch heute verschiedene Geistergeschichten. Aber ich kann nicht behaupten, auch nur eine davon bestätigen zu können. Ich verbringe oft meine Freizeit im Friedhof - nicht, weil ich hoffe, auf ein Gespenst zu stoßen, sondern weil mir der Ort einfach gefällt. Er ist von einer innigen Ruhe umhüllt und voller Erinnerungen und Gefühle. Meistens denken die Menschen, dass eine Grabstätte von den Geistern und verlorenen Seelen heimgesucht wird und deswegen ein Ort ist, der einem Unwohlsein bereitet. Aber ich finde die Atmsphäre überhaupt nicht erdrücken. Im Gegenteil, ich fühle mich sehr wohl hier, mehr noch als bei Tante Ebony, in der Schule oder sonst wo, seit dem Tod meiner Eltern.
Vielleicht ist ja gerade das der Punkt. Vielleicht empfinde ich diesen Ort als so angenehm, weil ich unter den Toten mich meinen Eltern so viel näher fühle, obgleich sie noch nicht einmal in Chicago beerdigt wurden, sondern in Cleveland, Ohio, meiner Heimatstadt.
Meine Freizeitbeschäftigung hat sich allerdings schnell auf meiner neuen Schule als Skandal verbreitet und ich habe schnell den Ruf des Freaks bekommen, der auf Friedehöfen abhängt. Manche der Goth-Kids haben mich sogar zu einer ihrer "Schwarzen Messen" eingeladen und als ich , höflich aber bestimmt, absagte, strichen sie mich von ihrer Liste. Seit dem bin ich immer alleine. Ich habe keine Freunde, hänge während den Pausen mit niemandem außer meiner eigenen Wenigkeit ab und halte mich stets von den anderen fern.
Trotzdem entgeht mir nicht, wie sie hinter meinem Rücken über mich herziehen. "Die Schlampe, die mit Toten redet", "das Geistermädchen", "der Freak, der auf dem Friedhof abhängt". Sie erfinden immer neue Namen für mich und gestalten aus ihrer Fantasie heraus neue Gerüchte und Geschichten, was ich so treibe, über meine "Lasterhaftigkeit" und Dergleichen. Sie nennen mich sogar Hexe. Hätten wir noch im 19. Jahrhundert gelebt hätten sie mich wahrscheinlich verfolgt und schließlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und das hauptsächlich einfach nur aus Langeweile. Aber ich muss zugeben, ihr Einfallsreichtum ist erstaunlich - "die letzte Hexe von Salem" und "Seelenjägerin im Auftrag vom Dämonenfürst". Wirklich, sehr originell. Hätten sie das Zeug dazu, würde ich ihnen raten, einen Roman zu schreiben, aus ihren Geschichten könnte man bestimmt ganz gute Fantasy machen.
Aber es ist mir egal. Sollen sie doch nur reden, sich über mich lustig machen. Es macht mir nichts aus.
Und hätten sie mich tatsächlich als Hexe verbrennen wollen, wäre auch das nicht von Bedeutung.
Das Leben hat mir so wieso nichts zu bieten.