"Wer ist sie? Und was macht sie hier?"
"Scht. Sprich nicht so laut, sonst weckst du sie noch."
"Mir doch egal. Dann kann sie zumindest ein paar Fragen beantworten."
"Niall!"
"Was? Willst du diesen ... diesen Menschen etwa in Schutz nehmen?"
"Wenn es sein muss."
"Ich glaubs nicht!"
"Es wird einen Grund geben, warum sie hier ist. Und ehe wir ihn nicht kennen, bleibt das Mädchen hier."
Ein Geräusch, es hört sich an, wie ein Knurren. Dann Schritte die sich entfernen. Schritte - leichter, sanfter - die näher kommen. Eine Hand, die mein Haar streichelt. "Schlaf", flüstert eine weiche Stimme. "Du bist hier in Sicherheit."
Diese Stimme ist mir vertraut. Ich weiß nicht woher ich sie kenne. Aber ich glaube ihr.
Im nächsten Moment bin ich wieder eingeschlafen.
Plötzlich höre ich schwere Schritte. Sie kommen in diese Richtung und ich frage mich, wer das sein mag.
Er, denke ich soffort und Hoffnung keimt in mir auf. Ich wische sie weg, weil sie dumm ist. Da ertönt auch schon eine kräftige Stimme und ich höre, dass es nicht seine ist. Ich bin nicht enttäuscht. Zumindest rede ich mir das ein. Vielleicht bin ich wirklich dämlicher, als ich bislang gedacht habe.
Geißblatt mischt sich unter den Duft von Veilchen.
"Lia!" Die männliche Stimme ist tief. Etwas blitzt in meinem Unterbewusstsein auf, aber ich bekomme es nicht zu fassen. "Lia?" Einen Moment später erscheint eine große, kräftige Gestalt an der Tür. Schwarzes Haar, leuchtend blaue Augen und ein Gesicht so schön, dass es nicht echt sein kann.
Vielleicht ist das hier ja alles nur ein Traum? Vielleicht liege ich in Wahrheit Zuhause in meinem Bett und das alles hier geschiet nur in meinem Kopf.
Nur, dass es sich viel zu real anfühlt.
"Bist du schon wieder hier bei diesem Menschen." Seine Wortwahl irritieren mich - als wäre ich nicht schon verwirrt genug. Insbesondere verwirrt mich, dass er das Wort "Mensch" auf eine Art und Weise anspricht, die sich wie "Ungeziefer" anhört. Als wäre er etwas Besseres, etwas Erhabeneres. Dabei ist er doch selbst ein Mensch. Schön, aber nun wirklich nichts Besonderes.
Da treffen mich seine harten, blauen Augen und ich schnappe unwillkürlich nach Luft. Sie sind so blau, wie Saphire. Obgleich sie in diesem jungen Gesicht sind, sie sind alt. Erfahren. Und so kalt. Ich schaudere, aber ich weigere mich den Blick abzuwenden. Eine Sekunde sieht auch er mich überrascht an, als er meine Augen bemerkt. Langsam ärgert mich das ganze. Er macht mich wütend. Und dabei weiß ich noch nicht einmal, warum.
"Niall", sagt das Mädchen nun und ich horche auf. Niall. Den Namen habe ich schonmal gehört. Als ich bewusstlos war?
"Lia", sagt der Junge mit dem Namen Niall. "Was machst du hier? Ich sagte doch, du sollst nicht erkommen.Wir sollten den Menschen schleunugst loswerden." Bei seinen letzten Worten wandert sein Blick zu mir. Die geringschätzende, verachtende Art, wie er mich mustert, macht mich wütend. Okay, denke ich, jetzt ist es offiziell - diesen Jungen mag ich nicht. Ich verenge meine Augen zu Schlitzen und starre zurück. Er presst die Lippen missbilligend zusammen, ehe er sich wieder dem Mädchen zuwendet, dass er Lia genannt hat. "Sie könnte eine Gefahr sein."
Beinahe hätte ich laut losgelacht. Eine Gefahr? Wer? Ich? Der Typ hat sie nicht mehr alle. Ich stelle für niemanden eine Gefahr dar, außer für mich selbst. Na ja, und widerlichen, kleinen Krabbelviechern.
Im Gegensatz zu Niall scheint Lia mich nicht als Bedrohung zu sehen. Ohne Zögern setzt sie sich neben mich auf die Bettkante. Sie sieht mich freundlich lächelnd an. "Achte nicht, auf das, was er sagt. Er ist manchmal sehr ... übervorsichtig."
In mir blinken immer noch mehr Frage - als Ausrufezeichen. Aber solange ich keine Frage stelle, werde ich wohl auch keine Antwort bekommen. Ich räuspere mich und setze zum Sprechen an, dabei werfe ich noch einen Blick in Nialls Richtung.
Und bleibe an seinen Ohren haften.
Die Worte, die ich gerade habe sagen wollen, bleiben mir im Hals stecken und ich kann nicht von Nialls Ohren wegschauen.
Sie schauen unter schwarzen Strähnenhervor, die glatt und dicht sein Gesicht umrahmen. Und sie sind lang und laufen oben spitz zu.
Ich blinzele. Das rechte Ohr zuckt.
Ich vergesse, was ich sagen wollte und starre ihn mit offenem Mund an. Ich hab noch nie einen Menschen mit solchen Ohren gesehen. Nur Elfen haben spitze Ohren. Aber Elfen gibt es nicht. Nur in Märchen.
Haben wir etwa schon Halloween? Hat er deswegen diese Ohren? Sind sie Teil seiner Verkleidung. Jetzt erst wird mir klar, dass er nicht, wie ein normaler Junge gekleidet ist. Statt Jeans und T-Shirt trägt er eine engsitzende, hellbraune Lederhose, die seine langen, muskulösen Beine gut zur Geltung bringt und ein weißes Leinenhemd, welches seine harte Brust und seine Bizepse umschmeichelt. Ein dunkler, breiter Lederriehmen liegt quer über seiner Brust und über seiner Schulter hinweg erkenne ich den Griff eines Schwertes an seinem Rücken. Ein Dolch in einer Scheide ist um seine schmalen Hüften gebunden.
"Was glotzt du so, Mensch?", faucht er mich an, als ich nicht aufhöre zu starren.
Mensch. Schon wieder. Vielleicht nimmt der Kerl seine Verkleidung doch etwas zu ernst.
"Niall, hör auf, sie anzuschnauzen. Sie ist wahrscheinlich verwirrt und verängstigt. Und du machst es ihr gewiss nicht einfacherer."
Verwirrt bin, ja. Verängstigt, vielleicht ein bisschen. Aber mein wachsender Unmut gegenüber Niall lässt die leise Furcht in mir schnell verschwinden. Außerdem scheint Lia mir nichts antun zu wollen.
Ich wende mich wieder ihr zu. "Wo bin ich?"
"In Agliera Fea."
Hört sich nicht nach Chicago an. "Ähm, und wo genau liegt Agli..." Wie war das noch gleich?
"Sag einfach Feya. So nennen wir alle das Land", sagt sie und lächelt mir zu.
Das Land? Langsam merke ich, wie sieder die Panik in mir aufsteigt. "Wo ist Feya?"
"In Lavianna. Dem Königreich der Blüten."
Okay, als wir das in Erdkunde hatten, habe ich wohl die Stunde versäumt. Zumindest habe ich noch nie etwas von Lavianna gehört, geschweige denn von einem "Königreich der Blüten". ich wusste noch nichtmal, dass es überhaupt noch Königreiche gibt.
Lia hat mir wahrscheinlich meine Verwirrung angesehen, denn sie erkärt: "Lavinnia ist Teil des Lichtreiches. Du bist nicht mehr in der Menschenwelt."
"Was?", krächze ich.
"Du bist im Land der Feen und Elfen, Mensch", mischt sich nun Niall genervt ein und seine Stimme hat einen spöttischen Unterton angenommen. "Du bist in der Märchenwelt gelandet. Wilkommen im Wunderland, Alice."
Wunderland? Elfen? Feen? Ich schaue zu Lia. Sie macht keine Anstalten das was Niall gesagt hat zu berichtigen.
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder schreien soll. Entweder war das hier ein gemeiner Streich oder die beiden sind nicht mehr ganz dicht im Oberstübchen. Vielleicht verliere ich selbst den Verstand.
"Nur, damit das klar ist. Ich bin in ... einer anderen Welt gelandet? Ich bin nicht mehr auf der Erde? In Chicago? Und ihr seid ..." Ich schaue wieder auf Nialls Ohren. "Elfen?", beende ich kläglich.
"Du bist immer noch auf der Erde", sagt Lia und legt ihre Hand auf meine, die eisern das Laken festhält. "Und du bist nicht verrückt. Wir auch nicht." Ein Schnauben ertönt aus Nialls Richtung. Lia schenkt ihm einen verärgerten Blick und sieht dann wieder zu mir. "Es ist vielleicht etwas schwer für dich zu begreifen ..." - jetzt ist an mir, zu schnauben - "...aber anscheinend bist du irgendwie durch den Nebelzauber in unsere Welt gelandet."
"Nebelzauber", sage ich lahm.
Lia nickt. Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie Niall sich mit dem Rücken an die Wand neben der Tür lehnt und die Arme vor der Brust verschrenkt. "Ich habe dich nahe an der Grenze gefunden."
"Ja", meldet sich Niall von der Türe zu Wort. "Und anstatt sie wieder zurück in die Menschenwelt zu bringen, holst du sie HIER hin." Seinem Ton und der Grimasse, die er dabei zieht, nach zu beurteilen, hat ihm das nicht gefallen.
"Ich hätte sie doch nicht einfach so bewusstlos im Wald liegen lassen können!", empört Lia sich. "Das wäre zu gefährlich für sie."
"Und gefährlich ist es für UNS, dass du sie hergebracht hast. Wir hätten sie gleich loswerden sollen, aber stattdessen brichst du unsere Gesetze und gibst dem Menschen Zuflucht. In DEINEM HAUS!! Weißt du eigentlich, was dir blüht, wenn der Krone davon Wind bekommt?"
Obwhl ich immer noch nicht - noch lange nicht - davon überzeugt bin, dass es Elfen und Feen gibt, macht sich bei mir ein schlechtes Gewissen bemerkbar, weil Lia, die so freundlich und sanft ist, meinetwegen Schwierigkeiten bekommt. Und obwohl es ihr bewusst war, hat sie mir trotzdem geholfen. Diese Erkenntinis lässt auch die restliche Furcht in mir verfliegen. Jemand, der so gütig ist, kann doch niemandem etwas Böses antun. Na ja, was Niall angeht, über den werde ich mir später Gedanken machen.
"Sag, Menschenmädchen", sagt Lia, Nialls Worte ignorierend. "Wie ist dein Name? Das hab ich dich ja noch gar nicht gefragt."
"Äh, Rose. Rose Dawn." EIgentlich ist mein vollständiger Name Rosewyn, aber so nennt mich niemand, nicht einmal meine Mutter. Außerdem ist mir Rose lieber. Schlicht, kurz und zeitlos. Rosewyn hört sich irgendwie an, wie ein Großmuttername.
"Nun, Rose, ich bin Tialia. Aber nenn mich bitte einfach nur Lia. Und das", sagt sie und deutet auf den Miesepeter an der Tür, "ist Niall. Aber das hast du wahrscheinlich schon mitgekriegt."
"Ja", erwidere ich nur. Befangen, weil ich nicht weiß, was ich noch sagen soll, ohne unhöflich zu erscheinen, starre ich nach unten. Eine Hand legt sich federleicht auf meine Schulter.
"Rose. Ich weiß, dass das alles für dich wohl nicht sehr einfach ist. Aber kannst du uns sagen, wie du in unser Reich gelangt bist? Normalerweise können Menschen das nicht. Es sei denn, sie werden von einem Angehörigen unseres Volkes herüber geführt."
Fragend sehe ich sie an und sofort geht sie in die Defensive. Beschwichtigend hebt Lia die Hände. "Wir wollen niemanden verraten, der dich hier hergebracht hat. Das geht uns nichts an. Wir wollen es nur wissen, damit wir eine Erklärung für dich haben. Du brauchst uns keine Namen zu nennen."
Sie wollen eine Erklärung? Von mir? Ich will doch selbst eine! "Ich weiß nicht, wie ich hier her gekommen bin", sage ich wahrheitsgemäß. "Und ich kann auch keinen Namen nennen, weil ich keinen habe. Mich hat niemand "hergeführt". Bis eben wusste ich ja noch nicht einmal, dass ich überhaupt wo anders bin, als Chicago."
Lia wirft einen Blick in Nialls Richtung. Dann sieht sie mich an, in ihrem Gesicht sehe ich einen Anflug von Sorge und dieselbe Verwirrung, die in mir weilt. "In Ordnung", sagt sie. "Ich glaube dir."
"Sei nicht so naiv", meint Niall. "Die lügt doch nur. Das tun solche wie sie ständig."
Solche wie ich? Zorn flammt in mir auf, als hätte jemand mich mit Öl überschüttet und angezündet. "Ich weiß ja nicht, was du für ein Problem hast. Aber du gehst mir gewaltig auf die Nerven. Ich lüge nicht. Ich sage die Wahrheit. Wenn du mir nicht glaubst, bitte. Das ist deine Sache. Aber deine Feindseligkeit auf jemanden, den du gar nicht kennst, ist einfach nur kindisch. Echt lächerlich."
"Was hast du gesagt?", knurrt er mich an.
"Du hast schon verstanden. Du. Bist. Kindisch." Ich starre ihn an, unwillens, in diesem Blickduell nachzugeben und sehe, wie seine ätherische helle Haut sich langsam rot vor Wut färbt. Neben mir erklingt ein helles Lachen.
Lia sieht Niall grinsend an und ihre Augen glitzern fröhlich. "Sie hat dich gleich gut eingeschätzt."
Das macht ihn sprachlos. Er öffnet und schloss Mund, aber kein Ton kommt ihm über die Lippen. "Ihr seid doch bekloppt. Ihr beide", presst er schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Das bringt Lia nur noch mehr zum Lachen und unwillkürlich merke ich, wie meine Mundwinkel zucken. Niall wirft ihr einen bösen Blick zu und murmelt etwas unverständliches vor sich ihn. In einer mir unbekannten Sprache -Elfisch?- antwortet Lia ihm, dann wendet sie sich kopfschüttelnd mir zu. Niall sieht jetzt sogar noch finsterer drein, als zuvor, verstummt aber.
"nachdem wir das geklärt hätten", meint Lia. "Möchtest du etwas zu Trinken?"
"Äh, ja gerne." Erst jetzt fällt mir auf, wie trocken mein Hals ist. Lia steht auf und geht Richtung Tür. Nervös sehe ich ihr nach. Sie will mich doch nicht etwa allein mit Niall hier lassen! Aber zum Glück wirft er mir nur einen zornigen Blick zu - den ich ebnso wütend erwidere - und folgt ihr dann.
Ich bleibe auf dem Bett sitzen und sehe mich um, achte diesmal dabei auf jedes Detail. Der Fußboden ist aus dunklem Holz, passend zu den wenigen Möbeln. Viele Einrichtungsgegenstände gibt es hier nicht. Rechts von mir neben dem Kopfende des Bettes steht ein kleiner Nachttisch, das dunkle Braun hebt sich vor den cremefrabenen Wänden ab. Mein Blick schweift weiter. Helle, durchscheinende Gardienen hängen vor dem einzigen Fenster in diesem Zimmer, wo Lia zuvor die Blumen abgestellt hat. Links neben der Türe steht eine Kommode mit Spiegel, aus dem selben Holz, wie das Bettgestell und der Nachttisch. Ich schaue über die Schulter und sehe einen mittelgroßen Schrank. Ansonsten ist das Zimmer leer.
Eigentlich nichts ungewöhnliches, ein ganz normales Gästezimmer. Die Geschichte mit den Elfen und Agli-sowieso kaufe ich den beiden nicht ab. Schließlich weiß jeder vernünftige Mensch, dass es keine solchen Wesen gibt. Lia und Niall scheinen eigentlich nicht wie Freaks, aber sie wirken von der ganzen Sache recht überzeugt. Ich entschließe mich, bei der ganzen Sache mitzuspielen, wenn ich so nach Hause kommen kann.
Ein Stich in meiner Brust. Lia ist so nett. Schade, dass sie offenbar realitätsentfremdet ist.
Als die zwei "Elfen" wieder in den Raum kommen sehe ich zu ihnen auf und hoffe, mein Gefühle und Zweifel, sind mir nicht ins Gesicht geschrieben. Dankend nehme ich das Glas Wasser von Lia entgegen. Als ich einen Schluck nehme, setzt sie sich wieder neben mich, ihre Augen fest auf mich gerichtet. Niall bleibt wieder an der Tür gelehnt stehen.
Schweigen breitet sich aus.
Schließlich räuspert Lia sich. "Also, Rose, du weißt nicht, wie du hier her gelangt bist."
Ich schütele den Kopf und nehme abermals einen Schluck von dem köstlichen, kühlen Wasser, das mir herrlich die Kehle hinunterrinnt.
"An was kannst du dich denn noch erinnern?", fragt sie mich.
Ich zögere. Denke wieder an den fremden Jungen. Wenn er etwas mit der ganzen Sache zu tun hat, würden die beiden dann nicht weniger verwirrt sein, als ich? Wissen sie wirklich nichts von ihm? Steckt er vielleicht doch nicht hinter all dem? Habe ich mir ihn vielleicht überhaupt nur eingebildet? Existierte er am Ende gar nicht wirklich, sondern nur in meiner Fantasie?
Ich weiß nicht, was ich glauben soll - was ich glauben kann. Was ist Wahrheit, was nur Trug? Wer lügt? Diese beiden "Elfen"? Am Ende vielleicht sogar mein eigener Verstand.
Was habe ich für eine Wahl?
Ich starre vor mich hin, die Sekunden ziehen sich in die Länge, werden zu Minuten. Schließlich atme ich tief durch und verdränge alle Bedenken. Und erzähle ihnen alles, was ich weiß. Ob es nun real war oder nicht, ich sagen ihnen alles, woran ich mich erinnere.
Als ich geendet habe verbreitet sich wieder Stille im Raum aus. Die beiden sehen mich stumm an. Doch in ihrer Sprachlosigkeit liegt etwas, das ich nicht ganz begreifen kann.
Lia ist die erste, die wieder das Wort ergreift.
"Du glaubst, dieser Junge hat dich hier her gebracht? Nachdem er dir das Bewusstsein raubte?"
Mit einem Kuss, denke ich und jetzt wird mir deutlich wie bescheuert sich das ganze anhört. Am liebsten würde ich alles, was ich ihnen gesagt habe wieder zurücknehmen, doch dafür ist es zu spät.
Also nicke ich. Dann schütele ich den Kopf. "Ich weiß es nicht", gestehe ich. Klar. Ich war ja auch währenddessen im Reich der Träume, von wo ich prompt ins Land der Märchen gelangt bin.
"Und dieser Junge ... wie sah er aus?"
Ich beschreibe ihn. Groß. Muskulös. Schwarzes, glattes Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte, dunkle, funkelnde Augen. Die Farbe der Iris hatte ich nicht erkennen können. Die ganze Zeit über gibt Niall keinen Laut von sich, hört mir nur zu und lässt den Blick aus dem Fenster schweifen.
"Seine Augen", fragt Lia und ihre Stimme hat plötzlich etwas dringendes an sich. "Könnten sie vielleicht auch grün gewesen sein?"
Ich denke nach. "Wenn es ein ganz dunkles Grün wäre, smaragdfarben vielleicht. Möglich."
"Ist dir sonst etwas an ihm aufgefallen?" Sie klingt so aufgeregt.
Ich versuche mich zu erinnern, aber ich habe ihnen schon alles gesagt. "Nein. Er war überirdisch schön", gestehe ich dann und merke, wie ich rot werde. Ich sehe kurz zu Niall rüber, weil ich schon sicher bin, dass er sich über diese Äußerung lustig machen wird, doch in seinem Blick, der mich mit einer eindringlichen Intensität beobachtet, ist nicht ein Hauch von Spott.
"Er ist es", sagt Lia. Ich blicke sie an, verstehe nicht, was sie meint. Doch sie sieht mich überhaupt nicht an, sondern hat sich zu Niall gewandt. "Kieran." Ich bekomme eine Gänsehaut, als ich die Ehrfurcht in ihrer Stimme wahrnehme. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Niall langsam den Kopf schüttelt, als wäre er nicht davon überzeugt, sich gleichzeitig aber nicht sicher. "Nein", sagt er. "Das kann nicht sein. Kieran ist tot. Und überhaupt passt ihre Beschreibung ja wohl auf eine halbe Millionen Menschen und zig Dutzend Elfen und Feen. Sie hat noch nicht mal gesagt, dass er elfische Ohren hätte."
"Tut mir leid", sage ich sarkastisch, "aber ich hatte andere Dinge im Kopf, als dass ich sonderlich auf seine OHREN geachtet hätte. Aber ich werd es mir für das nächste Mal merken, wenn mich jemand nachts überfällt, küsst und mir das Bewusstsein raubt!"
Niall ignoriert mich nur. "Und überhaupt", sagt er, "selbst WENN Kieran wirklich noch leben sollte. Warum im Namen aller Götter sollter SIE hier her bringen? Warum sollte er so etwas tun?" Das Wort "sie" spricht er aus wie eine Verwünschung und zeigt dabei auf mich.
Du mich auch, Kumpel. Aber ich sage nichts.
"Ich weiß es nicht", erwidert Lia. "Aber er wird seine Gründe haben."
"Du vertraust ihm und das obwohl er noch nicht einmal mehr LEBT."
"Doch, er lebt!", brüllt Lia plötzlich und springt rasend vor Wut vom Bett auf. Erstaunt über diesen Wutausbruch starre ich sie an. "Mein Bruder ist nicht tot, Niall. Wennn er es wäre, würde ich es hier spüren." Mit einer Faust schlägt sie sich aufs Herz, ihre Stimme bebt, als sie weiterspricht. "Ich weiß, dass er noch lebt."
Der Kummer in ihrem Gesicht trifft mich tief im Inneren. Ich weiß, wie es ist, jemanden zu lieben und die Person zu verlieren.
Ich blinzele, ehe die Tränen aus mir ausbrechen können. Ich will nicht weinen. Nicht jetzt. Nicht, wenn jemand mir dabei zusieht.
Der Schmerz in meinem Herzen gehört mir, niemand sonst soll ihn sehen.
Als Lia sich ein wenig wieder beruhigt hat, setzt sie sich wieder neben mich. Ich höre ihr leises Flüstern, obwohl ich weiß, dass es nicht für meine Ohren gedacht war. "Er lebt." Es klingt nicht überzeugt. Eher, als würde sie sich selbst daran klammern wollen, an diese zwei Worte, obwohl sie doch weiß, dass sie nur eine Lüge sind.
Niall seufzt resigniert. Sein Gesicht wirkt leicht schmerzverzerrt, als würdrde Lias Kummer ihn selbst quälen. Dann reißt er sich zusammen und setzt wieder eine gefühlskarge Miene auf. Aber ich weiß jetzt, dass es nur eine Maske ist.
"Gut", sagt er. "Falls Kieran sie wirklich in unser Reich gebracht hat, bleibt immer noch die Frage: Warum?"
Ich mag Niall nicht besonders. Aber das ist eine gute Frage. Nur leider hat keiner von uns eine Antwort darauf.
Ich blicke auf den Boden hinunter, versuche eine logische Erklärung für alles zu finden - vorzugsweise eine Erklärung, die NICHT das Wort Elf beinhaltet - und versage kläglich. Ich seufze niedergeschlagen.
Im selben Moment spüre ich, wie Lia sich neben mir regt.
"Sag mal, Rose", sagt sie, etwas ist merkwürdig an ihrer Stimme. "Ich möchte nicht unhöflich oder aufdringlich oder so sein", beginnt sie und ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. "Aber deine Augen sind wirklich sehr schön ... darf ich sie mir noch einmal ansehen?"
Hä?
Verunsichert und verwirrt sehe ich auf, begegne ihrem eindringlichen Blick, der mich aufmerksam mustert. Plötzlich ist mir seltsam zu mute und ich rutsche unbehaglich hin und her.
"Du hast wirklich schöne Augen", sagt Lia. Ich winde mich unter ihrem Blick und unter dem Wort "schön". Ich weiß, dass meine Augen ungewöhnlich sind. Ich leide unter Iris-heterochromie. Meine Augen haben zwei unterschiedliche Fraben - links ist die Regenbogenhaut von einem leuchtendem Gold, fast schon topasfarben. Während mein rechtes Auge dunkelviolett ist, in der Farbe von Flieder. Gewöhnumngsbedürftig, vielleicht sogar unnormal. Aber schön? Meine eltern waren die Einzigen, die meine Anomalie als schön bezeichnet haben.
Jeder andere findet meinen Makel einfach nur sonderbar. Nun ja, die Leute finden mich überhaupt sonderbar. Und es gab eine Zeit, da hatte mich das sehr getroffen. Jetzt aber ist es mir ziemlich egal, was die anderen von mir denken. Es bedeutet mir nichts.
"Ich weiß, dass diese Frage dir vielleicht etwas ungewöhnlich erscheint" - ach wirklich? Immerhin rede ich grad mit "Elfen"! - "aber, wie ist der Name deiner Mutter?"
Ich blinzele. Einmal. Zweimal. Doch die Frage hat sich nicht verändert.
Was zum Henker hat denn meine Mutter jetzt hier zu suchen???
"Warum willst du das wissen", frage ich Lia argwöhnisch.
Sie zuckt die schmalen Schultern. "Das ist bei uns so üblich. Wenn wir jemanden kennenlernen, fragen wir immer nach den Eltern."
Lüge. Ich weiß, dass sie lügt. Wenn es doch so üblich ist, warum hat sie mich denn nicht VORHER gefragt? Warum will sie das erst jetzt wissen? Und außerdem, wenn es doch "üblich" ist nach den Eltern zu fragen, warum will sie den Namen von meiner Mutter wissen und NICHT AUCH den Namen von meinem Vater?
Ich versteh das nicht. Aber ich sehe auch keinen Grund, warum ich nicht antworten sollte. Vielleicht ist aus Neugier darauf, wie sie reagieren wird, oder schlicht Dummheit, aber ich antworte ihr ehrlich. "Meine Mom hieß Ever Dawn."
"Ever, schöner Name." Dann stockt sie. "Moment - hieß? Ist sie etwa ... Ich meine ..."
"Sie ist tot", sage ich, um ihr die Frage zu beantworten, die sie nicht über die Lippen kann, und merke dabei selbst, wie hohl meine Stimme klingt. Ich räuspere mich, bemüht um einen neutraleren Tonfall. "Sie und Dad starben vor drei Monaten bei einem Flugzeugabsturz." Es ist nicht ganz die Wahrheit. Sie sind nicht bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Aber ich bringe es nicht über mich, ihnen zu sagen, wie sie WIRKLICH gestorben sind. Ich weiß, dass ich es nicht verkraften kann, es laut auszusprechen, ohne zusammenzubrechen. Es zu WISSEN ist eine andere Sache, als es wirklich zu AKZEPTIEREN. Und ich kann es nicht akzeptieren. Noch nicht. Vielleicht auch niemals. Der Gedanke allein bringt mich innerlich schon fast um. Dieses Wissen, das ich nicht haben will.
Das Wissen, dass die beiden Menschen, die mich als Einzige auf der Welt so angenommen und geliebt haben, wie ich bin, ermordet wurden.
Schweigen legt sich über uns breit, schon wieder. Aber ich will die Stille nicht als erste durchbrechen.
"Ever", höre ich Niall murmeln und sehe zu ihm auf. Er hat eine nachdenkliche Miene aufgesetzt. Plötzlich scheint ihm etwas einzufallen und er reißt die Augen auf. "Mein Gott", flüstert er und sieht zu Lia.
Ich runzele die Stirn und schaue sie ebenfalls an. Sie erwidert Nialls Blick und ich sehe, wie Verstehen in ihren Augen aufleuchtet. "Ever", sagt auch sie, als wäre der Name meiner toten Mutter der Schlüssel für eine mir unsichtbare, verschlossene Tür.
Da dreht Lia sich zu mir um ein übermäßig freundliches Lächeln auf ihren Lippen. "Ich glaube, wir nerven dich hier ganz schön, was?", sagt sie. Ich verstehe sie nicht und sehe sie fragend an. Doch sie geht nicht darauf ein, sonder steht auf und drängt mich dazu, mich hinzulegen. "Du solltest dich besser noch ein wenig ausruhen."
Ich will mich wehren, fühle mich überhaupt nicht erschöpft und möchte mich auch nicht hinlegen. Aber wieder einmal scheint mein Körper mir nicht zu gehorchen und streckt sich wie befohlen auf der weichen, nachgiebigen Matratze aus. Lässt es zu, dass Lia die Laken über mich ausbreitet, wie eine Mutter, die ihr kleines Kind ins Bett bringt.
Ich will protestieren.
Aber kein Wort kommt aus meinem Mund.
Da legt Lia zärtlich eine Hand auf meine Stirn und streichelt mein Gesicht.
"Schlaf", sagt sie.
Und ich falle ins Nichts.
Als ich erwache, weiß ich nicht, wo ich bin. Blinzelnd öffne ich die Augen und sehe ein mir fremdes Zimmer, liege in einem mir fremden Bett. Wo bin ich? Wie bin ich hier her gekommen?
Ich weiß es nicht.
Langsam setze ich mich auf und lehne mich an das Hölzerne Kopfteil des Bettes, die Finger in die lavendelfarbenen Laken gekrallt. Ein Stich durchfährt meinen Kopf, doch der Schmerz ist so schnell vorbei, wie er aufgetaucht ist. Ich lasse meinen Blick durch den unbekannten Raum schweifen und versuche mich zu erinnern, wie ich hier her gelangt bin.
Trübe Bilder einer Nacht erscheinen vor meinem inneren Auge, werden langsam klarer, bis ich nicht mehr verschwommen sehe. Als das das schöne, fremde Gesicht des Jungen vor mir auftaucht, bin ich mir plötzlich wieder allem bewusst.
Ich war im Park, nachts, allein. Habe im Schnee gemalt. Der Junge. Die Angst.
Der Kuss.
Als die Bilder meinen Verstand überschwemmen, erzittert mein Körper unter kalten und heißen Schauern. Wieder macht sich Angst in mir bemerkbar. Gleichzeitig spüre ich, wie mein Gesicht zu glühen beginnt, als ich daran denke, wie sich seine Lippen auf meine gepresst haben. Ich schütel den Kopf und versuche, mich an das zu erinnern, was danach geschehen ist, nach dem Kuss. Aber da ist nur Schwärze. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, sehe ich nichts. Ich bin in Ohnmacht gefallen und erst jetzt wieder aufgewacht. Was im Zeitraum dazwischen passiert ist, weiß ich nicht.
Furcht steigt erneut in mir auf, aber ich verdränge sie. Schaue mich erneut im Zimmer um.
Nein, ganz sicher. Dieses Zimmer kenne ich nicht. Ich frage mich, ob der fremde Junge mich hier her gebracht hat. Ich wünsche, ich wüsste seinen Namen.
Sofort schalte ich mich selbst. Wahrscheinlich hat dieser Typ mich entführt. Erst jagt er mir eine Riesenangst ein, dann küsst er mich und anschließend verschleppt er mich hier hin - wo hier auch immer sein mag. Ich bin doch nicht wirklich so dämlich, romantische Gefühle für einen Kidnapper zu haben. Noch dazu für jemanden, den ich nicht im Geringsten kenne. Langsam spüre ich, wie ich sauer werde. Gut, denke ich. Wut ist besser, als hirnlose Träumereien. Wut ist besser, als Furcht.
Ich werfe das Laken von mir, dabei steigt mir ein blumiger Duft in die Nase, den ich bis jetzt nicht bemerkt habe. Es ist ein süßer Geruch, zart, liegt er in der Luft.
Duftveilchen. Ich erkenne die Note, weil meine Mutter in ihrem Garten welche angepflanzt hatte, zusammen mit den vielen, wunderschönen Rosen.
Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass der Duft immer stärker wird, bis er sanft wie Nebel im Raum schwebt, intensiv, aber nicht aufdringlich.
Und als ich den Kopf hebe, bin ich nicht mehr allein.
Ein wunderschönes Mädchen steht an der Tür, die langen schwarzen Haare fallen ihr in einer dunklen Kaskade bis zur Hüfte hinab und bilden einen unglaublichen Kontrast zu ihrer schneeweißen Haut, dass sie förmlich zu leuchten scheint. Ein Kleid aus lavendelfarbenem Taft umhüllt ihren großen, anmutigen Körper. Ihr Blick ist auf die Blumen gerichtet, die sie in einer Vase in den Händen hält, mit langen, schlanken Fingern ordnet sie die Stängel, bis sie mit dem optischen Ergebnis zufrieden ist. Dann wendet sie sich zum Fenster, durch das helles Sonnenlicht in den Raum fällt, und stellt die Blumen mit Vase auf dem Sims ab.
Ich kann sie nur mit offenem Mund beobachten, denn ihre Schönheit ist einfach nur atemberaubend. Schon fast unmenschlich.
"Hast du dich auch gut ausgeruht?" Ich bin so in ihren Anblick vertieft, dass ihre liebliche Stimme mich wie ein Blitz trifft und aus meiner Starre reißt. Wie alles an ihr ist sie sanft, wohltuend.
Ich blinzle und brauche einige Sekunden zum Antworten. Ich suche fieberhaft nach Worten, doch noch bevor ich etwas sagen kann, dreht sie sich zu mir um und sieht mich an. Der Blick ihrer Augen, die ebenso lavendelfarben sind, wie ihr Gewand, trifft meinen.
Und nur weil ich sie direkt anstarre, entgeht mir nicht, wie sie erschrocken die Augen aufreißt. Sofort senke ich die Lider. Aber ich weiß es ist zu spät, um sich zu verstecken.
Leichte, fast schwerelose Schritte wandeln über dem Linoleum auf mich zu. Zaghaft sehe ich wieder auf.
Auf ihrem Gesicht liegt ein Lächeln und in den Tiefen ihrer Augen sehe ich nur Güte und Wärme. Entweder, sie ist eine gute Schauspielerin, oder meine Augen bereiten ihr wirklich kein Unbehagen, so wie den meisten anderen Menschen, die mich zum ersten Mal sehen.
"Wie geht es dir?", fragt sie mich nun.
Nach einigem Zögern sage ich: "Gut." Ich bin mir nicht sicher, ob meine Antwort ehrlich ist. In mir sind zu viele Fragen, zu viele Gefühle. Ich bin verwirrt, habe Angst und verspüre eine leise Wut. Aber was ich am deutlichsten wahrnehme, ist eine tiefe, nagende Sehnsucht, die ich mir nicht erklären kann.
KathySherryl Re: - Zitat: (Original von BloodAngel am 05.11.2012 - 21:59 Uhr) Normalerweise mag ich nicht wirklich geschichten mit elfen oder feen ,aber die macht neugierig auf mehr :) Lg BloodAngel Echt? Freut mich, dass ich das geschafft habe! ;) Teil 3 & 4 sind auch schon raus und Nummero 5 erscheint irgendwann die nächsten Tage. Hoffe sie gefällt dir auch weiterhin^^ lg KT |
BloodAngel Normalerweise mag ich nicht wirklich geschichten mit elfen oder feen ,aber die macht neugierig auf mehr :) Lg BloodAngel |
KathySherryl Re: Erste ^-^ - Zitat: (Original von Chaoss am 02.11.2012 - 15:08 Uhr) Wow, du setzt den ersten Teil richtig spannend fort. Das ist so toll geschireben *-* Ich möchte auch so gut schreiben können! Ich hoffe es geht bald weiter... ^^ lg Chaoss Vielen lieben Dank! Ich freu mich, dass dir die Geschichte gefällt! Hoffe du hast auch weiterhin Spaß daran ;) Der dritte Teil sollte eigentlich nicht lange auf sich warten lassen, aber bei den vielen Projekten, die ich momentan am Laufen habe kann es ein paar Tage dauern^^ lg KT |