Flucht
Ich sehe Lave, den Jungen der mich mehr oder weniger gerettet hat, stumm an. Dann sehe ich zu den VERTRAG in seinen Händen. Schließlich tue ich einen Schritt auf ihn zu und versuche ihm den Wisch aus der Hand zu reißen. Er bringt ihn rasch aus meiner Reichweite und befiehlt mir wie einem Hund: „Nein!“
Ein paar Sekunden noch sehe ich den Vertrag an, dann ihn. Schließlich lege ich ihm die Hände auf die Brust und versuche ihn davon zu schieben. „Du musst hier weg!“, zische ich wütend „schnell!“ „Wieso denn?“, er nimmt meine Hand die auf seiner Brust liegt und hält sie fest. „Findest du dass das hier etwa nach Problemen aussieht?“ Ich sehe mich in der Cafeteria um, Dutzende Augenpaare sehen uns an. Jeder einzelne Schüler starrt uns schon seit dem Kampf an, im Eingang sammeln sich bereits die Wachen und mein Vater ist wahrscheinlich schon auf den Weg hierher. Oder noch schlimmer: Dredd.
Nein… sieht überhaupt nicht nach Problemen aus.
„Bitte!“, flehe ich leise. „Gib mir einfach den Vertrag zurück und verschwinde von hier! Ich würde es nicht aushalten wenn wegen mir noch ein Junge sterben muss. Es sind doch schon jetzt zu viele!“ Lave sieht mich ernst an und kurz blitzt etwas in seinen Augen auf das ich bisher noch nicht dort gesehen habe, aber dann verschwindet es schon wieder und ich glaube fast dass ich es mir eingebildet habe. Was soll es denn gewesen sein? Mitleid?
„Ich glaube auch dass dein Vater schon hierher kommt. Er wird wieder die Kontrolle über dich übernehmen“, stellt er ruhig fest.
„Meinetwegen. Aber wenn du mir meinen VERTRAG jetzt schon zurück gibst wird er dich vielleicht verschonen!“ Mein Vater wahrscheinlich nicht, aber wenn er Dredd hierher geschickt hat, dann hat Lave noch gute Chancen. Dredd verehrt den Kampf und er respektiert jeden der kämpfen kann. Vielleicht genügt das um ihm das Leben zu retten.
„Fühlst du es nicht?“, fragt Lave mich jetzt. „Das wunderbare Gefühl Herr über den eigenen Körper zu sein? Warum willst du das wieder wegwerfen?“
„Ich will es nicht wegwerfen!“, knurre ich, einen Seitenblick zu den mehr und mehr werdenden Wachen werfend. „Ich will bloß dass DU DEIN LEBEN nicht wegwirfst!“
Lave mustert mich noch ein paar Sekunden, dann legt er mir eine Hand auf die Schulter und beugt sich zu mir, so dass seine Lippen mein Ohr streifen. „Und was“, fragt er „wenn ich uns beide hier herausbringen kann?“
Ich erstarre wie vorher und kann nicht verhindern dass ich vor Aufregung leicht zu zittern beginne. Kalte Schauer jagen mir über den Rücken.
Ich drehe das Gesicht so dass ich den Elf ansehen kann. „Das würdest du tun?“, frage ich leise. „Kannst du das überhaupt?“
Er nickt.
„Aber die Wachen…“
„Du musst nur tun was ich dir sage“, verlangt Lave.
„Das werde ich“, verspreche ich.
„Gut.“ Lave beugt sich wieder zurück und grinst mich ein letztes Mal an. Dann dreht er sich um und schreitet, mich noch immer an der Hand haltend hinterher ziehend, auf den Ausgang der Cafeteria zu.
Alle Augenpaare im Raum folgen uns.
Vor den Wachen bleiben wir, Hand in Hand, stehen. „Ich muss gehen“, verlangt Lave gelassen. „Ihr müsst mich durchlassen.“
Ein Wachmann tritt vor und schüttelt den Kopf. „Es tut mir sehr leid, aber das ist nicht möglich. Sie haben das Schulgebäude unbefugt betreten und sie dürfen es nicht verlassen. Schon gar nicht mit… diesem Mädchen.“ Lave lässt meinte Hand los. „Seid ihr euch sicher?“, fragt er.
Der Wachmann beobachtet ihn ohne Angst. „Ja. Du kommst hier nicht durch.“ Zwei weitere Wachen treten direkt neben ihn und ziehen ihre Eisenschwerter.
Eisen, ein Metall dessen bloße Berührung für fast alle Elfen tödlich ist. Für meinen Vater natürlich nicht. Und für mich… wer weiß?
Für Lave ist es auf jedenfalls gefährlich.
Ich trete neben ihn und flüstere so leise wie möglich: „Du musst das nicht tun!“ Er lächelt mich beruhigend an: „Ich weiß. Aber ich will.“
Und dann zieht er unvermittelt aus seinem Gürtel zwei Eisendolche. Ich erschaudere. Für einen herkömmlichen Elf ist es sehr schmerzhaft Eisen so nah am Körper zu tragen, deswegen bestehen die Scheiden für unsere Schwerter auch aus einem speziellen Holz das die Wirkung ein wenig dämpft. Aber aus diesem Holz besteht Laves Gürtel bestimmt nicht.
„Du rennst raus solange die Wachen beschäftigt sind“, zischt er mir so leise zu dass nur ich es hören kann. „Warte draußen, ich komme nach.“ Ich nicke und fixiere dann die Wachen vor mir.
„Na, seid ihr bereit?“, fordert Lave sie heraus.
„Du kommst hier nicht durch…“, fängt ein Wachmann von neuem an. „Versuch es doch erst gar ni…“ Er wird durch Laves Schrei unterbrochen. Der junge Elf stürmt mit zwei erhobenen Dolchen auf sie zu. Die Wachen schreien erschrocken auf und springen schnell in Kampfstellung, ihre Schwerter abwehrend vor sich haltend.
Ich beobachte stirnrunzelnd wie Lave versucht auf die Wachen einzustechen, jedoch nicht nahe genug an sie herankommt. Dafür weicht er allen ihren Attacken mit Leichtigkeit aus, selbst wenn sie sie im Teamwork ausführen. Weitere Wachen werfen sich in das Getümmel, aber niemand beachtet mehr mich. Mich indessen beherrscht nur ein einziger Gedanke, und zwar, hier rauszukommen bevor mein Vater kommt und mich wieder an den verdammten VERTRAG bindet. Ich atme ein paar Mal tief durch, dann marschiere ich einfach so, erhobenen Hauptes, an den kämpfenden Elfen vorbei, hinaus ins Freie.
Aus meiner Schule draußen spaziere ich sofort in die Gartenanlagen und stelle mich dort neben einen Busch um hier auf Lave zu warten. Ich weiß dass ich in „freier Wildbahn“ ohne ihn keine zwei Sekunden überleben würde. Obwohl andererseits… bevor mir etwas passieren würde, hätte mein Vater mich schon längst wieder aufgesammelt.
Ich verziehe das Gesicht bei diesem Gedanken und blicke erwartungsvoll zur Tür. Je schneller wir hier wegkommen, desto besser. Aber wo bleibt Lave?
Soll ich vielleicht alleine vorgehen? Aber nein, er hat ausdrücklich gesagt ich solle hier warten. Ich werde immer nervöser und beginne unruhig von einem Fuß auf den anderen zu steigen, in diesem Moment verdüstert sich auch noch der Himmel. Dunkle Wolken ziehen auf und verdecken das klare blau. Ich beginne langsam richtig nervös zu werden und spiele sogar mit dem Gedanken wieder hinein zu gehen als die weite, braune Doppeltür zu unsere Schule mit einem Knall aufspringt und Lave heraus gestürmt kommt. Er zögert zwei Sekunden im Eingang, dann erblickt er mich und kommt auf mich zugestürmt. Ohne auch nur zu bremsen nimmt er im Vorbeilaufen wie selbstverständlich meine Hand und zieht mich mit sich.
„Warte!“, schreie ich erschrocken während ich ihm hinterher stolpere, doch Lave schüttelt den Kopf. „Keine Zeit!“, ruft er über die Schulter. „Ich fürchte wenn die mich jetzt erwischen schneiden sie mir die Kehle auf und hängen mich kopfüber an die Decke.“
Ich frage mich kurz was Lave getan haben könnte, das sie so wütend auf ihn machen könnte, aber dann wird mir klar dass schon alleine die Tatsache dass er mich „entführt“ reicht um sie wütend zu machen. Meinen Vater auch. Besonders meinen Vater.
Instinktiv renne ich noch ein bisschen schneller.
Wir durchlaufen die Stadt Fraternita, eine der drei großen Elfenmetropolen. Sie ist genauso gehalten wie eine Sterblichenstadt, mit hohen Häusern die bis in den Himmel zu ragen scheinen und geschäftigen Elfen mit Aktenkoffern und Brillen. Dieses Theater ist einfach lächerlich. Die Augen einer Elfe können niemals so schlecht werden dass wir eine Brille brauchen, so funktioniert unser Stoffwechsel nicht.
Trotzdem führen wir dieses Trara auf. Manche Elfen tauschen sogar ihre Kinder gegen das von Sterblichen weil sie so unbedingt mehr von diesen seltsamen Wesen nachahmen wollen dass sie dafür sogar ihre eigenen Kinder hergeben. Das nennt man dann Wechselbalg.
Aber Lave zieht mich unbarmherzig weiter bis wir die Stadt verlassen und in „elfischeres“ Gebiet laufen. Meine bloßen Füße berühren plötzlich warme Erde und ehe wir uns versehen laufen wir durch einen Wald und die Sonne und der blaue Himmel über uns verschwinden, verdeckt von den gewaltigen grünen Blättern der Bäume. „Wir müssen aufpassen!“, rufe ich Lave zu. „Damit wir nicht in der Sterblichenwelt landen!“ Es gibt, wie gesagt, drei große Elfenmetropolen und darum herum nichts als Wald und ein paar kleine Dörfer die noch nicht im sterblichen-Stil leben. Läuft man zu tief ins Niemandsland an dem sich zu wenige Elfen befinden gleitet man wie von selbst in die Menschenwelt über. Das bedeutet dass wir von da an in verletzlicheren (natürlich lang nicht so verletzlich, oder so sterblich, wie die Sterblichen) herumlaufen, kein geweihtes Wasser mehr benutzen können und für jeden Sichtbar sind. Elfenzauber, zumindest die der schwachen Elfen, verlieren in der Sterblichenwelt ihre Wirkung. Und wenn man Pech hat, findet man niemals den Weg zurück.
„Keine Sorge!“, ruft Lave zurück. „Ich bin hier schon zu oft gelaufen um mich zu verirren!“ Kurz bin ich skeptisch, aber als er mich in vollem Tempo weiterzerrt beschließe ich ihm einfach zu vertrauen und meine ganze Energie ins Laufen zu stecken.
