Prolog
„Hast du alles?“
Ich blicke auf das Brot in meinen Händen, es sieht irgendwie matschig aus, dann in die schlammig-braunen Augen meiner Mutter die dem Brot meiner Meinung nach viel zu ähnlich sehen und nicke verdrossen. „Jaja…“ „Ich meine es ernst“, droht mir meine Mutter und streicht mir ein Haar aus dem Gesicht. „Wenn ich irgendetwas vergessen habe wird dein Vater mich dich wieder für viele Jahre nicht sehen lassen…“
„Jaja“, seufze ich wieder und denke augenverdrehend an meinen Vater. Ich bin wahrscheinlich die einzige Person im ganzen Land die keine schreckliche Angst vor ihm hat.
Und trotzdem mache ich meistens genau das was er mir sagt.
„Steck das Brot jetzt ein“, rät mir meine Mutter nachdem sie einmal tief Luft geholt hat. „Und beeil dich, ansonsten kommst du noch zu spät!“
Was für sie mit Sicherheit schrecklicher enden würde als für mich. Das ist nicht mein erstes Jahr an der Schule und die Lehrer kennen meinen Vater inzwischen schon. Sie wissen das man mich lieber nicht bestraft, wenn man nicht selbst bestraft werden will. Und in mein Zeugnis bekomme ich sowieso nur Einser. Ich schnaube und überlege wie es wohl wäre wenn ich für meine Noten wirklich arbeiten müsste, was für Noten ich dann wohl bekommen würde? Wäre ich gut oder schlecht? Wie erfolgreich würde ich werden? Wie würde ich mein Leben führen wenn mein Vater es nicht im Vorhinein für mich bestimmt hätte? Nutzlose Gedanken, fruchtlose Gedanken.
Mein Vater wir immer da sein und über mein Leben bestimmen, er wird selbst dann noch da sein wenn meine Mutter unter der Erde liegt, und er wird auch dann noch über mich bestimmen, wird mein Leben richten wie es ihm gefällt, wird mich kontrollieren und tun lassen was er will.
„Es wird Zeit“, meint meine Mutter leise als sie meinen traurigen Blick sieht. „Tut mir leid mein Schatz, aber du musst jetzt gehen.“ Und mit diesen Worten fischt sie den VERTRAG aus ihrer Tasche und betrachtet ihn mit einem verzweifelten Blick. „Ich wünschte ich hätte das Verfahren damals gewonnen“, murmelt sie und ich nicke. Niemand wünscht sich mehr dass sie gewonnen hätte als ich.
Dann würde mein Vater mich jetzt nicht besitzen.
Aber sie hat verloren, wie hätte es auch anders sein können? Gegen meinen Vater kann man nur verlieren. Ich schließe die Augen und schlucke.
Denke ein letztes Mal darüber nach wie das Leben der anderen wohl ist, der anderen die ohne einen VERTRAG leben, die leben können ohne dass ihr Vater jeden ihrer Schritte kontrolliert.
„Danke“, flüstere ich leise, aber in brünstig. Und dieser Dank ist an meine Mutter gerichtet, für meine wenigen freien Stunden für die sie immer alles gibt.
„Du solltest mir nicht danken“, antwortet meine Mutter. „Ich konnte dich nicht beschützen.“ Und mit diesen Worten steckt sie den VERTRAG, diesen unseligen Wisch Papier, in die Brustasche meiner Schuluniform wo er gut sichtbar heraus steht. Doch jetzt bin ich nicht mehr in der Lage mich darüber zu beschweren, denn durch den dünnen Stoff der Tasche berührt der VERTRAG meine nackte Haus und ich verliere die Kontrolle über meinen Körper. Mein Vater macht sein Recht auf mich wieder geltend und plötzlich kann ich mit keinem Muskel mehr zucken.
Mir bleibt keine andere Wahl als mich selbst dabei zu beobachten wie ich meinen Körper straffe und starr vor meiner traurig blickenden Mutter stehe. Dann drehe ich mich, zu ruckartig für eine echte Bewegung um und verabschiede mich förmlich: „Auf Wiedersehen. Vielen Dank für deine Gastfreundschaft.“
Meine Stimme klingt so gar nicht nach mir… oder tut sie das vielleicht doch? Ich weiß nicht mehr was ich bin. Das ich dass ich die wenigen Tage im Monat bei meiner Mutter bin wenn ich nicht an den Vertrag gebunden bin, oder das ich als das ich die restliche Zeit herumlaufe.
Mit gleichmäßigen, festen Stimmen die mich eher an einen militärischen Marsch erinnern bahne ich, oder besser gesagt mein Vater der mich steuert, mir den Weg zu meiner Schule. Alle meine Körperfunktionen verlaufen gleichmäßig und reibungslos, ich bin mehr Maschine als Lebewesen. Maschine mit einem einzigen Zweck: Meinem Vater zu geben was er will. Genau wie alle anderen.
Meine gleichmäßigen Schritte bringen mich schnell voran und bald erstreckt sich das weite Schulgelände unter meinen Füßen und vor mir türmt riesig und bedrohlich meine Schule, mehr Schloss als Lehranstalt. Die großen Steine aus denen sie erbaut ist sind ausnahmslos schwarz. Wie passend für meinen Vater mich auf eine solche Schule zu schicken. Angeblich hat er selbst dort gelernt, einst, vor Jahrmillionen Jahren. Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, auch wenn ich es so, so, so verdammt gerne tun würde, laufe ich mit erhobenem Kopf und durchgedrückten Rücken an den anderen Schülern vorbei. Manche folgen mir mit ihrem Blick, aber niemand wagt es über mich zu tuscheln, oder mich gar anzusprechen. Jeder kennt mich.
Und doch bin ich immer alleine.
Ich marschiere in meine Klasse hinein und setze mich dort stumm auf meinen Sessel. Außer mir ist noch niemand da, kein Wunder, der Unterricht beginnt erst in 15 Minuten, aber so wie ich meinen Vater kenne wird er mich in der Zeit einfach still hier sitzen und nichts tun lassen. Aus Langeweile beginne ich mich im altbekannten Klassenraum umzuschauen, zumindest soweit es geht. Selbst meine Augen beherrscht mein Vater, und demensprechend ist Blickfeld ziemlich eingeschränkt. Knapp vor mir prang eine dunkelgrüne Tafel, natürlich hat er mich wieder in die erste Reihe gesetzte, und natürlich auch direkt vor das Lehrerpult. Es besteht, im Gegensatz zu den Tischen der 14 Schüler meiner Klasse aus edlem, dunklen Holz. Ein Becken mit magischem Wasser steht darauf. Wenn die Lehrer ihre Finger in dieses Wasser stecken können sie Illusionen entstehen lassen um den Schülern Dinge visuelle vorstellen zu können und sie können sich auch mit anderen Lehrkräften die ebenfalls gerade das Wasser berühren sprechen. Gegen uns Schüler ist dieses magische Wasser mit einem leichten Schutzzauber geschützt.
Ich betrachte nun die Wände die mit dunkelrotem Stoff verhängt sind. Schon in meinem ersten Schuljahr hier habe ich nicht verstanden wie jene, die eigene Kontrolle über ihren Körper haben bei dieser Farbe nicht aggressiv werden.
Damit habe ich die Betrachtung des Klassenraums auch schon abgeschlossen und beginne gelangweilt meine Gedanken schweifen zu lassen, bis plötzlich eine fremde Stimme hinter mir ertönt. „Hey! Du! Du da!“ Ich drehe mich um, oder besser gesagt mein Vater dreht mich um und wir erblicken eine Gruppe Burschen. Vier der Fünf kenne ich, sie gehen schon seit meinen Anfängen hier mit mir in die Klasse. Doch das letzte Gesicht ist mir unbekannt. Es gehört einem fröhlich grinsenden Jungen mit dunkelblonden Locken der mich interessiert mustert und dann anerkennend pfeift. „Nicht schlecht. Nicht schlecht.“ Er wendet sich seinen Freunden zu: „Warum habt ihr mir nicht erzählt dass es ins unserer Klasse eine solche Schönheit gibt?“
„Sie ist nicht…“, beginnt einer seiner Freunde, ich glaube er hieß Talin, doch der dunkelblonde Junge unterbricht ihn einfach mit einen unwirschen Handbewegung. Selbstbewusst kommt er auf mich zu, legt mir eine warme Hand auf den Oberarm und beugt sich zu mir herunter um mir in die Augen sehen zu können. Ich sitze ganz erstarrt da – noch.
So wie ich meinen Vater kenne muss ich mir das nicht mehr lange gefallen lassen. Wobei ich es eigentlich gar nicht so schlecht finde. Ich finde die Aufmerksamkeit dieses Jungens sogar überaus schmeichelhaft.
„Na Süße, willst du mir nicht deinen Namen verraten?“, fragt er mich. Ich würde es nur allzu gern, aber mein Vater lässt nicht zu dass ich auch nur den Mund bewege. Solange ich den Vertrag in meiner Brusttasche mit mir herumtrage hat er mich absolut unter Kontrolle. „Hey, spielst wohl eine auf Coole, was?“, grinst er und legt mir nun auch seine andere Hand auf den anderen Oberarm, so als wolle er mich festhalten sollte ich versuchen davon zu laufen. Ich will nicht davon laufen, mein Vater der mich kontrolliert nicht. Er will zuschlagen. Und er tut es auch.
Schneller als ich mich versehe springe ich auf die Beine, schlage die beiden Arme des Jungen weg und bringe ihn mit zwei gezielten Stößen gegen die Brust und gegen den Bauch zu Fall. Ich kann gar nichts dagegen tun, da liegt der Junge schon vor mir auf dem Boden und sieht mich mit schreckgeweiteten Augen an. Ich sehe kalt und reglos zu ihm herab während ich innerlich vor Wut auf meinen Vater der meinen Körper so einfach als wäre es sein eigener kontrolliert koche.
Irgendwo vor mir, mein Vater erachtet es nicht einmal als nötig mich einen Blick auf sie werfen zu lassen, fangen die anderen Jungen an unsicher zu lachen. „Wir haben es dir doch gesagt, Talin“, meint einer. „Die ist nicht normal! Die wird von ihrem Vater kontrolliert, das hat das Gericht so beschlossen.“ Ich lasse reglos zu dass sie ihrem Freund aufhelfen und kränke mich nicht einmal sonderlich über diese Aussage.
Ist ja nur allzu wahr.
Ich sehe den Jungen nach wie sie so schnell wie möglich aus der Klasse verschwinden, keinen Blick mehr auf mich verschwendend. Dabei wünsche ich mir das hier wäre alles gewesen. Wünsche mir da würde nicht noch mehr kommen.
Aber es wird kommen. Mein Vater wird diesen Talin nicht einfach so ziehen lassen. Es würde mich wundern wenn der Junge es morgen überhaupt noch in die Schule schafft.
Sinnlosen Widerstand vermeidend lasse ich einfach zu dass mein Vater mich wieder hinsetzen lässt. Der Rest der Schule verfliegt wie im Flug, Talin sehe ich nicht mehr wieder.
Und ich ahne, dass ich ihn nie wieder sehen werde.