Romane & Erzählungen
Aleika

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"Aleika"
Veröffentlicht am 12. Oktober 2012, 60 Seiten
Kategorie Romane & Erzählungen
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Über den Autor:

Naja - was wohl? Ich schreibe schon sehr lange. Ich glaube, mein erstes Buch - naja, Geschichte - habe ich im Kindergarten geschrieben, bzw. schreiben lassen. Da ich hier und in der Umgebung kaum Zuhörer fand, habe ich es über's Internet probiert. Und ich hoffe, dass ich hier den einen oder anderen finden kann, der meine Geschichten gerne liest. Ich schreibe fast immer Fantasy, weil ich schon zu sehr in der Realität lebe ;-)
Aleika

Aleika

Beschreibung

Alem war ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, der abgeschieden von der Außerwelt ein kleines Haus mit einem angebauten Stall und einem Schuppen bewohnte. Dieses kleine Häuschen lag auf einer großen Wiese, umgeben von Laub-und Nadelwäldern. Er hatte einige Ziegen, ein paar Schafe, ja sogar ein Pferd. Er war glücklich mit dem, was er hatte. Nachdem seine Eltern gestorben waren, erbte er all dies. Er hatte keine Verwandten mehr und entschied, sein Leben alleine und für sich zu fristen, vorallem als seine Geliebten ihn verließen. Er wusste kaum noch ihre Namen und hielt sich daran auch nicht länger auf. Die Frauen waren in die Stadt gezogen oder hatten sich ein Dorf gesucht. Hier hatte es ihnen nicht gefallen, so im Wald, ohne den Schutz von starken Mauern, umgeben von wilden Tieren und Wegelagerern. Alem beherrschte einige Arten von Kampfkunst, er konnte mit Säbeln, Speeren und Bögen umgehen, auch mit Schwertern, aber das beruhigte die Frauen nicht. Sie alle forderten ihn auf, mit ihnen in die Stadt zu ziehen um dort eine Familie zu haben. Vielleicht hätte Alem ja Kinder gehabt, doch so weit kam es nicht. Er weigerte sich, seine Heimat zu verlassen und so verließen sie ihn. Alem kümmerte sich seitdem um seinen alten Ackergaul, dessen graues Fell dem Grau von Asche glich. Er kümmerte sich um seine drei Hühner, um seinen Falken, um seine sieben Ziegen und seine zehn Schafe. Eines Tages gesellte sich auf eine rot-weiße Katze zu ihm, die zu seinem Entsetzen auch noch trächtig war. Bald darauf hatte er also auch noch drei Katzen und einen Kater zu versorgen. Er besaß auch noch zwei Hunde, einer goldgelb und einer schwarz. Er lebte von der Milch der Ziegen und Schafe, vom Fleisch der Ziegen und Hühner, von den Eiern der Hühner und von der Wolle der Schafe. Er bedauerte nicht einen der Augenblicke. Hier gab es niemanden, der ihn rechtlich verfolgte, niemanden, der ihn falsch beschuldigen würde, niemand, der ihm Vorschriften machte. Ein bisschen schade war es vielleicht schon. Niemals wieder würde er lieben. Niemals würde er Kinder haben. Oder etwa doch?

 

Kapitel I

 

Als es zaghaft an der Tür klopfte, sah Alem irritiert auf. Was war das? Banditen, die sich einen Scherz erlaubten? Wanderer? Obdachlose? Mörder? Diebe? Oder war es gar eine seiner ehemaligen Geliebten, die ihm jetzt ihren Bastard – seinen Sohn – brachte? Er verspürte nicht die geringste Lust, aufzustehen, seinen Dolch zu nehmen, die Tür zu öffnen und den Banditen oder wer in aller Götter Namen auch sonst vor der Tür stand, abzustechen oder davonzujagen. Vielleicht war es auch nur eine der Katzen, die versuchte, die Tür zu öffnen. Vielleicht war es einer seiner Hunde. Vielleicht ein Schaf, eine Ziege. Er seufzte und stand auf. Er griff nach dem Dolch, der immer griffbereit auf dem Tisch lag, und ging zur Tür. Er sollte wirklich ein Loch in die Türe brechen oder sägen um sehen zu können, was da vor seinem Haus stand. So öffnete er die Tür, ohne zu wissen, wer oder was auf ihn 

 

wartete. Umso überraschter war er, als er ein kleines Mädchen vor sich sah. Sie konnte nicht sehr alt sein, vielleicht vier Jahre alt. Sie sah mit großen Augen zu ihm hoch. „Wer bist denn du?“, fragte Alem. „Weiß ich nicht“, sagte das Mädchen. „Du weißt es nicht? Hast du keinen Namen?“, fragte Alem. Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Was machst du denn so alleine hier draußen?“, fragte Alem. Er ging in die Hocke und betrachtete das Mädchen aus der Nähe. Die Ehrfurcht wich aus ihrem Gesicht, vermutlich, weil Alem jetzt nicht ganz so groß und bedrohlich war. „Frieren. Und Hunger haben“, antwortete das Mädchen. Alem sah sie aufmerksam an. „Darf ich zu dir rein?“, fragte das Mädchen. Alem sah sie perplex an. „Du, das geht nicht, Kleine“, sagte er, nachdem er sich wieder gefangen hatte. „Warum?“, fragte sie. „Weil … weil …“ Er seufzte. „Na gut. Komm rein.“ Er brachte es nicht über’s Herz, die Kleine wieder vor die Tür zu setzen, in die Kälte der Nacht, in der es von Raubtieren nur so wimmelte. „Hast du Feuer?“, fragte das Mädchen. Alem erstarrte. War das 

 

alles?  Wollte sie Feuer? Nun gut, im Prinzip konnte sie welches haben und dann konnte sie gehen, alles wäre wieder wie zuvor. Und doch … war es Enttäuschung, die er da fühlte? Er musste sich irren. Er zuckte mit den Schultern und nickte. „Und was machst du damit?“, fragte die Kleine. Alem runzelte die Stirn. „Kochen, braten, das Haus heizen, Licht …“ „Zündest du keine Menschen an?“ „Wie bitte? Natürlich nicht!“, rief Alem. Das Mädchen sah auf ihre Füße. „Und hast du ein Messer?“, fragte sie undeutlich. „Ja“, antwortete Alem vorsichtig. „Und was machst du damit?“, fragte sie. Alem ging sicherheitshalber ein paar Schritte zurück. „Keine Ahnung. Ich schneide damit Ziegen-oder Hühnerfleisch und Gemüse“, antwortete er. „Schneidest du den Menschen keine Kehlen durch?“ Alem riss die Augen auf. Dieses Mädchen machte ihm langsam Angst. „Nein“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Hast du Nägel?“, fragte das Mädchen. „Ja…“ „Was machst du damit?“ Alem wurde langsam sauer. „Was weiß ich. Ich nagele die Zäune zusammen oder 

 

Fensterläden.“ „Keine  Menschen an Wände?“ „Nein, keine Menschen an Wände.“ Allein die Gedanken des Mädchens machten ihm Angst. „Hast du Stoff?“, fragte  sie weiter. „Ja, ich habe Stoff und damit mache ich Kleidung und Vorhänge!“, antwortete Alem barsch. „Ziehst du es keinen Menschen über die Köpfe, sodass sie nichts mehr sehen?“, fragte sie. „Nein, das tue ich nicht.“ „Hast du ein Seil?“, fragte das Mädchen. „Ja, ich habe ein Seil. Damit führe ich Schafe und Ziegen in den Stall und auf die Weide.“ „Hängst du niemanden daran auf?“ „Hör mal, Kleine – wenn da draußen irgendwer ist und gerade meine Tiere stiehlt, kannst du damit rechnen, dass du bald irgendwo hier hängst.“ Sie sah wieder auf. „Da draußen ist niemand mehr. Alle tot“, flüsterte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Alem trat näher und kniete sich vor ihr hin. „Was sagst du da?“, fragte er. „Niemand ist da. Niemand. Alle tot.“ „Wer, alle?“, fragte Alem. „Meine Eltern. Meine Schwester. Mein Bruder. Alle.“ Er dachte daran, sie in den Arm zu nehmen, doch irgendwie 

 

wagte er das nicht. „Was ist  passiert?“, wollte er wissen. „Böse Leute. Haben uns gefangen. Haben gelacht. Böse gelacht. Haben Mama den Bauch aufgeschnitten mit Messer und haben ganz kleinen Bruder getötet. Und dann haben sie Mama die Kehle durchgeschnitten. Haben meinen Vater am Seil aufgehängt, konnte nicht mehr atmen. Haben dem Mann meiner Schwester Nägel durch Hände und Füße getrieben und an die Wand genagelt. Haben meinen Bruder verbrannt. Haben meiner Schwester schwarzen Stoff über den Kopf gezogen und sie in einen Pferch mit vielen anderen jungen Frauen getrieben.“ Alem schluckte. „Und du hast das alles gesehen?“, fragte er. Die Kleine nickte. Vorsichtig umarmte er sie und stand auf, er hob sie hoch. Um ein Haar hätte er das Gleichgewicht verloren, seine Beine waren auf einmal weich wie Schneematsch. Sie drückte ihr Gesicht auf seine Schulter, dann sah sie auf. „Schick mich nicht weg“, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. „Das werde ich nicht“, erwiderte Alem und drückte sie ein wenig fester an sich. „Was machst du jetzt mit

 

mir?“, fragte sie voller Angst. In ihren Augen stand eine Mischung aus Angst und Hoffnung. Angst vor einem Fremden, Hoffnung von einem Fremden. „Ich werde für dich sorgen“, antwortete er mit belegter Stimme. „Tust du mir weh?“, fragte sie. „Nein, nein, bestimmt nicht.“ „Kann ich dir vertrauen?“, fragte sie. Er sah sie lange an und nickte dann. Sie fand ein Lächeln und auch er lächelte. Dann machte er sich daran, einen Schlafplatz für das entkräftete Mädchen zu suchen.

 

Kapitel II

 

Es war nicht einfach, Platz für eine weitere Person zu schaffen. Alem hatte in Papier, Stoff, Müll und Einsamkeit gelebt. Vermutlich etwas, was auch seine Beziehungen hatte scheitern lassen. Das kleine Mädchen schlief rasch ein und schien zu Kräften zu kommen. Er hatte sie kurzerhand in sein eigenes Bett gelegt. Nun ging er hinaus in seinen Schuppen, der an das Haus angebaut war. Dort zimmerte er etwas, was vielleicht so etwas Ähnliches wie ein Bett war. Aus Stoffen nähte er mehr schlecht als recht ein Kissen, eine Decke würde sich schon irgendwo finden. Er fragte sich, warum er das alles tat. War es Hoffnung? Hoffnung, endlich nicht mehr alleine zu sein, vielleicht sogar eine Art Tochter zu haben, jemanden lieben zu können? War es Mitgefühl? Mitgefühl mit dem kleinen Mädchen, dass gesehen hatte, wie seine Familie ermordet wurde, das 

 

weggelaufen war durch die Nacht, bis es schließlich zu seinem Haus gelangt war? Er wusste es nicht. Tatsache war aber, dass er sich alle Mühe gab, auch wenn seine Arbeit weder makellos noch schön war. Mit der Zeit würde sich etwas Besseres finden, bis dahin würde sie mit seinen Arbeiten eben zurechtkommen müssen. Er kramte nach Nägeln, um das Bett zusammenzuzimmern, als er auf einen uralten, verstaubten Spiegel stieß. Er war einfach gemacht, in Holz gearbeitet. Alem sah hinein und war von dem, was er sah, kaum überrascht. Seine hellbraunen Haare standen in alle Richtungen, seine grün-braunen Augen funkelten. Er versuchte zu lächeln und seit Jahren gelang ihm das wieder. So gefiel er sich schon viel besser. Er sah an sich herab. Zum ersten Mal seit Jahren fiel ihm auf, dass seine Kleidung dreckig und ungepflegt war. Seine Schuhe waren schon vor Jahren auseinandergefallen und seitdem lief er wohl barfuß durch die Gegend. Alem nahm sich vor, dem Mädchen ein Vorbild zu sein. Als allererstes würde er ihr einen Namen geben. Dann würde er ihr neue und vorallem gute 

 

und warme Kleidung nähen. Beim Gedanken daran verzog er allerdings das Gesicht. Er konnte miserabel nähen. Na gut. Dann würde er ihr eben als erstes Lederschuhe machen. Das war weniger schwer. Er würde die Ziegen mehr melken müssen, er würde weniger Eier essen können und er musste das Getreide vermutlich besser pflegen, damit der Ertrag auch für sie beide reichte. Er musste die zwei Hunde an sie gewöhnen, damit sie nicht jedes Mal Alarm schlugen, wenn sie aus dem Haus trat oder ins Haus ging. Er würde sie lehren, das uralte Spinnrad zu benutzen und den verstaubten Webstuhl, beides Überbleibsel von seiner Mutter, die er nicht mehr gebraucht hatte, seit er seine jahrealte Kleidung trug und die Wände mit Stoff behangen hatte, damit die Kälte draußen blieb. Sie würde lernen, Ziegen zu melken und Schafe zu scheren. Was sie allerdings niemals tun sollte, war das Schlachten von Hühnern und Ziegen, denn dieses Mädchen hatte schon viel zu viel Blut gesehen. Er überlegte. Würde sich irgendein geeigneter Name finden? Diesen Gedanken 

 

verwarf  er. Es gab so viele Namen auf dieser Welt. Mindestens fünf davon würden ihm bekannt vorkommen, wenn man seine Mutter mitzählte, vielleicht auch sechs. Er ging zurück ins Haus, wo die Kleine schon wieder wach war und ihn aus neugierigen Augen ansah. „Kleine, meinst du nicht, dass du einen Namen brauchst?“, fragte er sie. Sie nickte begeistert. „Hast du irgendwelche Vorstellungen?“, fragte er. „Nein, normalerweise benennen die Eltern ihre Kinder“, antwortete sie. „Das weiß ich selber, aber du hast ja keine Eltern mehr …“ Er bereute es sofort. Den Finger in eine blutige Wunde der Seele zu legen, war wohl das schlimmste, was man tun konnte. Noch dazu bei einem Kind. Sie sah auf den Boden. „Das heißt, ich bleibe namenslos oder ich bekomme Eltern“, bemerkte sie. Alem merkte sofort, dass sie ziemlich klug war. Ziemlich klug für ihr Alter. „Ich kann dein Vater sein“, meinte Alem schließlich. „Kannst du nicht. Mein Vater wurde aufgehängt, mit einem Strick um den Hals“, flüsterte die Kleine. Alem schluckte. „Kleine, es tut mir leid. Wirklich. Ich  

 

wollte nicht … Hör zu, ich habe keine Ahnung von Kindern. Du bist das erste Kind, das mir über den Weg läuft. Gib mir noch eine Chance.“ Sie reagierte nicht. „Bitte“, fügte er hinzu und setzte sich vor sein Bett und sah sie an. Dann sah sie ihn an. „Na gut“, sagte sie. „Vielleicht kannst du mein Vater sein. Oder mein Stiefvater. Und du kannst mir einen Namen geben und ich werde ihn mit Stolz tragen“, sagte sie schließlich. „Dann werde ich dich Aleika nennen“, sagte er und lächelte. Das Mädchen erwiderte sein Lächeln und nickte.

 

Kapitel III

 

Rasch gingen drei Jahre ins Land. Aleika war inzwischen ein Mädchen von sieben Jahren. Alem rutschte überraschend gut in seine Vaterrolle und kümmerte sich gut um Aleika. Er hatte seine Hütte aufgeräumt, seine Schuhe geflickt und geputzt, er hatte saubere Kleidung genäht und wusch nun auch sein Gemüse gründlicher. Er kämmte sich die Haare jeden Morgen und putzte sich sogar regelmäßig die Zähne, er wusch sich seine Hände. Jetzt, wo ein Kind bei ihm war, wollte er auf alle Fälle vermeiden, krank zu werden oder Aleika gar krank zu machen. Jetzt, wo seine Haare sauber und gekämmt waren, fiel ihm die rote Strähne auf, die dort war, wo nun Haare ein bisschen ins Gesicht hingen. Er erinnerte sich nicht daran, sie jemals besessen zu haben. Er fragte sich, ob er diese Strähne schon immer hatte. Er kam zu dem Schluss, dass er sie schon immer haben musste, sonst wäre 

 

es ihm ja aufgefallen. Aleika hatte langes rotbraunes Haar und grüne Augen, die abenteuerlustig funkelten, sie trug ein blaues Kleid mit einer weißen Schürze. Alem fühlte sich manchmal alt und ausgelaugt, aber er war glücklich. „Alem, ich glaube, Fleck ist trächtig“, meinte Aleika eines Abends, als sie gerade den Salat aus dem Garten aßen. „Ach ja? Wieso?“ „Sie ist total dick geworden“, sagte Aleika. „Die war schon immer dick“, meinte Alem. Fleck war eine immer dicke Ziege mit großen Hörnern, vor denen Aleika am Anfang Angst gehabt hatte. Doch dann hatte sie sich mit ihr angefreundet und ihr den Namen Fleck gegeben, wegen dem weißen Fleck auf ihrer Stirn, über den Augen. Alem war nicht begeistert gewesen, denn nun bestand Aleika ebenfalls darauf, dass er sie Fleck nannte. Er nannte seine sieben Ziegen nach ihrer Fellfarbe. Die Braune, die Schwarze, die Weiße, die Weiße mit der schwarzen Musterung und so weiter. Aleika war aber stur und so musste Alem damit leben, dass seine Ziegen von nun an Namen hatten. Echte Namen, wie Aleika 

 

betonte. „Aber jetzt ist sie noch dicker“, beharrte Aleika. „Sie ist nicht trächtig. Das wüsste ich.“ „Alem, hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Aleika beleidigt. Alem nickte. Aleika nannte Alem beim Vornamen, sie sagte, dass ihr Vater gehängt worden war und Alem war nicht tot. Alem lebte und war ihr wie ein Vater, gewiss, aber er war es dennoch nicht. Und sie würde ihn nie als solchen anerkennen. Doch die Wunde in Aleikas Seele heilte langsam, sie dachte nur noch selten an ihre Familie und lebte sich immer mehr bei Alem ein. Sie lernte das Melken von Ziegen, das Füttern, das Scheren von Schafen, das Ernten und Dreschen von Getreide. Sie konnte sogar die Wolle spinnen, mit viel Ausprobieren hatten sie und Alem die Funktion eines Spinnrads erforscht. Was dabei kaputt gegangen war, hatte Alem wieder repariert. Es gab auch nervenzerreißende Zeiten. Als Alem anfing, viel Wert auf Hygiene und Aussehen zu legen, bemängelte er es auch, als Aleika einmal ungekämmt zum Frühstück erschien. „Wie siehst du denn aus?“, fragte er. „Wieso, wie seh ich aus?“, 

 

fragte Aleika zurück.  „Geh dich kämmen“, befahl er ihr. Sanft, aber bestimmt. „Ich will nicht“, murrte Aleika. „Wenn du so aussiehst, kriegst du keinen Prinzen ab“, drohte er ihr. „Ich will keinen dummen Prinzen“, maulte Aleika. „Und was willst du dann machen?“, erkundigte Alem sich. „Na, ich werde dich heiraten!“, rief Aleika. Alem erstarrte. „Mich?“, fragte er. „Ja“, bestätigte Aleika. Sie sah ihn aus großen Augen an. „Oder willst du mich nicht?“, fragte sie mit Hundeaugen. „Doch, aber das geht doch nicht!“, versuchte Alem, sie umzustimmen. „Wieso?“, wollte Aleika wissen. „Ich bin viel zu alt!“, meinte Alem. „Wieso, wie alt bist du denn?“, verlangte Aleika zu wissen. „Achtundzwanzig.“ „Das geht doch noch“, meinte Aleika. „Ja, aber wenn du heiraten kannst, bin ich längst über dreißig“, erwiderte Alem. „Weißt du was? Das finde ich nicht schlimm!“, meinte Aleika und strahlte. Alem seufzte. Na gut, dachte er sich. Es war sicher nur eine kindliche Fantasie, im Alter von sechs bis zehn Jahren verkündeten alle, dass sie den nächsten Idioten, der ihnen über den Weg 

 

lief,  später heiraten wollten. „Natürlich heiratest du mich“, meinte er und versuchte zu lächeln. Aleika strahlte und war glücklich.

 

Kapitel IV

 

Die Jahre ließen sich nicht aufhalten und bald war Aleika elf Jahre alt. Es war stressig und Alem glaubte, erste graue Haare bei sich zu entdecken. Aber er hatte auch viel Spaß mit ihr und jeden Tag fanden sie etwas Neues, womit sie sich beschäftigen konnten. „Du, Alem, wann kann ich denn heiraten?“, fragte sie ihn eines Tages. „Wenn du achtzehn bist“, erwiderte er, ohne sich dabei etwas zu denken. Er schnitt weiterhin Karotten für die Gemüsesuppe. „Hm“, machte sie. „Dann bist du … neununddreißig“, rechnete sie. Er fuhr herum. Das Messer fiel auf den Boden und verfehlte nur um Millimeter seine Füße. „Wie bitte?“ „Na, ich will dich heiraten, schon vergessen?“ Alem hätte weinen können. „Kind, du verstehst es nicht. Ich bin zweiundzwanzig Jahre älter als du, wir können nicht heiraten!“ „Aber du hast doch gesagt…“ „Ja, ich habe gesagt. Das habe ich gesagt, als du sieben 

 

warst, um dich nicht zu verletzen. Hör zu, ich liebe dich wie eine Tochter, ja mehr sogar. Aber um nichts in der Welt können wir heiraten!“ Sie sah ihn lange an. Die Stille, die entstand, war schier unerträglich. Doch keiner rührte sich. Aleika sah in seine Augen und sah Schmerz und Verzweiflung. Alem sah in ihre Augen und sah dort Schmerz und unglaubliche Enttäuschung, wie nur Kinder sie aufbringen können. „Und ich dachte, du würdest mich wirklich lieben“, flüsterte sie. Alems Geduldsfaden riss. Ja, er wunderte sich sogar, dass er so lang gewesen war. „Ich liebe dich, verdammtnochmal!“, brüllte er. Aleika zuckte zusammen. Es war das erste Mal, dass Alem laut geworden war. Das erste Mal, dass Aleika ihn wütend erlebte. „Ich liebe dich, mehr als alles andere auf dieser verdammten Welt! Aber wir können nicht heiraten, verstehst du?“ Aleika schüttelte zaghaft den Kopf. In ihren Augen sammelten sich Tränen. Alem hob das Messer auf, vermutlich, um ihr nicht weiter in die Augen blicken zu müssen. „Ich liebe dich“, begann er 

 

wieder. "Es mag wenig glaubwürdig sein, aber ich habe noch soviel Anstand, dass ich kein Kind lieben werde. Nicht so, wie es eine gleichaltrige Frau erleben würde. Hör zu, dass zwischen uns so viele Jahre liegen, ist ein schlechter Scherz des Schicksals. Auf dieser Welt gibt es noch so viele andere Männer, die dich lieben würden – ehrlich lieben!“ „Ich will keine anderen Männer!“, rief Aleika. „Ich liebe nur dich.“ Alem traten ebenfalls Tränen in die Augen. Er wusste, dass Aleika aufgrund ihrer anfangs schrecklichen Kindheit sehr frühreif war und dass ihr Gerede vom Heiraten kein Hirngespinst gewesen war. Damals, als sie sieben Jahre alt gewesen war, hatte sie tatsächlich geglaubt, er meine es ernst. Und was alles noch viel schlimmer machte, war, dass Alem begriff, dass Aleika tief in ihrer Seele wusste, dass er zu alt für sie war. Sie hatte es schon immer gewusst. Sie hatte sich krampfhaft an einer Hoffnung festgehalten, die sie nun ins Verderben riss. „Oh ihr Götter“, stöhnte Alem schließlich. „Warum ausgerechnet ich?“ „Jeder Mensch ist einzigartig“, meinte 

 

Aleika  schließlich leise. „Und ich werde niemals wieder jemanden finden, mit dem ich genauso gut lachen, weinen und sprechen kann wie mit dir. Keiner von ihnen wird jemals dein hellbraunes Haar mit der roten Strähne haben. Keiner von ihnen wird grün-braune Augen haben. Keiner von ihnen wird so sein wie du.“ Nun flossen ihre Tränen über ihre Wangen. Sie verzog jedoch keine Miene. Alem trat an sie heran und nahm sie in den Arm. Aleika legte ihren Kopf auf seine Schulter und ließ ihre Tränen fließen.

 

Kapitel V

 

Aleika wuchs zu einer jungen Frau von siebzehn Jahren heran. Sie sprachen weniger als sonst. Aleika ging still ihren Arbeiten am Spinnrad und am Webstuhl nach. Für diese beiden Geräte hatte sie einen eigenen Raum bekommen. Ansonsten schlief sie auf dem Boden in einem mit Stoffen abgegrenzten Zimmer auf einer Matratze. Alems Herz musste inzwischen völlig vernarbt sein, so oft blutete es für sie, wenn er nachts aus ihrem Zimmer ihr unglückliches Weinen hörte. Doch nun schien sie endlich darüber hinweggekommen zu sein und man hörte kaum noch etwas. Wenn Aleika doch nur wüsste, wie sehr ihn das alles schmerzte! Doch sie musste denken, er wäre gefühlskalt, würde sich nicht um sie kümmern. Dieser Gedanke stach Alem ins Herz.

  

 

Eines Abends saßen sie wieder schweigend beim Essen, als es an der Tür klopfte, recht zaghaft. Einen Augenblick fühlte Alem sich in der Zeit zurückversetzt, wie er nun aufstand, seinen Dolch griff und zur Tür ging. Und natürlich hatte er noch kein Loch in die Tür gesägt. Er würde es wohl auch nicht mehr tun. Er öffnete die Tür und fand niemanden vor. Er zog die Augenbrauen zusammen und ging nach rechts, um das Haus herum, wo der Stall an das Haus grenzte. Dort sah er einen vermummten Mann, der sich an der weißen Ziege zu schaffen machte. „Hey, du da! Verschwinde!“, rief Alem und zückte seinen Dolch. Der Mann sah auf und grinste. Plötzlich nahm Alem eine Bewegung hinter sich wahr und spürte einen eiskalten Dolch, der ihm in die Rippen gerammt wurde. Er verlor den Halt und schlug auf dem Boden auf, er fühlte Schmerz und warmes Blut. Die zwei Banditen, die ihn überfallen hatten, lachten und nahmen ihm den Dolch ab. Dann stahlen sie ihm seinen Schmuck und verschwanden. Und plötzlich war Aleika da. „Oh ihr Götter!“, rief sie, 

 

als sie sich neben ihn kniete. In ihren Augen standen Tränen. „Lauf“, sagte Alem. „Aber…“ „Lauf!“, sagte Alem energisch, so energisch, wie es einem Sterbenden möglich ist. Ihm wurde schwindelig und seine Sinne schwanden. „Ich liebe dich, Alem“, sagte Aleika und eine Träne fiel auf seine Brust. „Ich liebe dich auch, Aleika“, flüsterte Alem. Dann schloss er die Augen und gab sich den Schatten hin.

 

Kapitel VI

 

Aleika hustete. Sie zog den Rotz hoch und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie war gelaufen. So schnell sie konnte. Weg.

Alem ist tot.

Alem ist tot.

Alem ist tot!

Dieser Satz prallte immer wieder gegen sie und brachte sie beinahe zu Fall.

Nie wieder würde sie seine liebevolle, markante Stimme hören.

Nie wieder würde sie seine Muskeln unter ihren Händen fühlen.
Nie wieder würden sie gemeinsam lachen.
Nie wieder würde sie mit ihm sprechen.

Nie wieder würde sie seine Nähe fühlen.

 

 

Nie wieder würde sie neben ihm aufwachen.

Nie wieder würde er ihre Alpträume vertreiben.

Nie wieder würde sie ihn küssen.

Nie wieder würde sie ihn atmen hören.

Nie wieder.

Nie wieder.

Nie wieder!

Aleika stolperte und fiel, landete im nassen Unterholz. Sie hatte die Ebene hinter sich gelassen und war in den Nadelwald getreten. Sie rappelte sich wieder auf und lief weiter. Sie wusste nicht wohin, nur fort. Fort von Alem und seinem Haus. Fort von Alem und seinen Überresten. Sie hatte ihn allein gelassen, aber er war tot gewesen. Konnte er sie sehen? Konnte er ihr helfen? Als Aleika abermals über eine Wurzel fiel, blieb sie weinend im Unterholz liegen und flehte die Götter um Gnade an. Sie flehte, dass sie sterben möge, um 

 

tot zu sein. Um bei Alem zu sein. Um all das hier zu vergessen. Um fort zu sein. Eine Seele, weit entfernt von Schmerz und Trauer. Es dämmerte, es wurde Abend, es wurde Nacht. Es wurde bitterkalt. Aleika rappelte sich auf und setzte sich hin. Ihre Tränen war versiegt. Sie konnte nicht mehr. Sie fühlte sich wie ein ausgewundener Waschlappen. Sie erschrak fürchterlich, als sie plötzlich eine Stimme hörte. „Wer bist du?“ Sie sah herum und sah nichts. „Hier, hier oben“, sagte die Stimme. Aleika suchte die Baumkronen ab. „Hier drüben“, sagte die Stimme. Sie entdeckte einen kleinen Hügel, in dem sich eine Höhle befand. Ein junger Mann sah daraus hervor. Durch ihre Tränen nahm sie nur verschwommene Umrisse wahr. „Was geht dich das an?“, fragte sie patzig. Der Junge antwortete nicht. Er zog sich in seine Höhle zurück. Aleika blieb sitzen und versank in ihren Tränen. Ihr Fuß schmerzte, sie hatte sich wohl den Knöchel verstaucht. Bald betäubte die Kälte den Schmerz und bald taten ihr die Füße davon weh. Und dann fühlte sie ihre Füße überhaupt nicht mehr. Die  

 

Kälte kroch ihr in die Kleidung und füllte sie ganz aus. Da tauchte er wieder auf, der Junge. Er trug kaum Kleidung, nur Fetzen um die Hüften. „Willst du nicht reinkommen?“, fragte er. Aleika schüttelte trotzig den Kopf. So weit kam es noch, dass sie zu irgendeinem Deppen ins Haus – oder in die Höhle – kam. Er verschwand wieder. Aleika fror ganz erbärmlich. Sie zitterte, bis sie völlig erschöpft war. Der Junge tauchte abermals auf. „Willst du wirklich nicht reinkommen?“, fragte er wieder. Stur schüttelte Aleika den Kopf. „Na gut, aber nimm wenigstens diese Decke“, sagte er und warf ihr eine dicke Wolldecke zu. Aleika fing sie auf und kuschelte sich hinein. Der Junge verschwand wieder in der Höhle. Doch die Decke hielt nicht lange warm. Der Mond ging auf und Nebel hing über dem Boden. Die Kälte und die Feuchtigkeit gab Aleika fast den Rest. „Wirklich nicht?“, fragte der Junge abermals. Aleika überwand sich. Wenn sie draußen blieb, würde sie erfrieren. Reif bildete sich auf dem Boden und auf Blättern. Sie kroch hinauf zu der Höhle. Mit letzter Kraft schaffte sie es

 

bis zur Höhle. Der Junge drehte sich auch schon wieder weg, zu seinem Lager aus Bärenfellen und legte sich hin. In der Höhle brannte ein warmes Feuer, an das Aleika sich ganz nah heransetzte. „Leg dich hin“, sagte der Junge. Er lag mit dem Gesicht von Aleika abgewandt. Aleika sah in der Höhle herum. Neben dem Feuer war ein weiteres Lager aus Bärenfellen. Zögernd legte Aleika sich schlafen.

 

Kapitel VII

 

Alea sah nachdenklich auf das schlafende Mädchen herab. Sie war fremd, gewiss. Aber sie war in Not gewesen. Und offenbar war ihre Psyche seit kurzem sehr verletzt. Sie redete undeutlich im Schlaf und weinte, sie schien Alpträume zu haben. Die Sonne war aufgegangen und hatte den Reif in Tau verwandelt. Die Vögel sangen wieder und Eichhörnchen huschten keckernd über die Bäume und stritten sich um Nüsse. Das Feuer war erloschen. Er fragte sich, ob er sie wecken sollte. Als sie wieder in Tränen ausbrach, hielt Alea es nicht mehr aus. Er weckte sie. Sie schreckte auf und sah ihn entsetzt an. „Alem?“ „Was?“, fragte Alea irritiert. Sie sah verwirrt auf den Boden. Dann sah sie ihn wieder an. „Wo bin ich?“, fragte sie. „In meiner Höhle“, antwortete Alea. Sie blinzelte. „Wer bist du?“, fragte sie. „Alea“, antwortete er. „Alea? Aber … wieso … ich versteh das alles nicht.“ „Ich

 

habe dich gestern Nacht hierher geholt, damit du draußen nicht erfrierst. Erinnerst du dich?“ Sie nickte langsam. Dann brach sie wieder in Tränen aus.

War es nicht schon schlimm genug, dass Alem tot war? Dass ihr Vater tot war? Ihr bester Freund? Ihr Geliebter? Eine Liebe, die nicht erwidert worden war? Musste sie jetzt auch noch diesem Jungen begegnen? Seine Haare standen in alle Richtungen, es war hellbraun. Seine Augen waren grün-braun und seine Haut wirkte im Schein des Feuers unnatürlich gelb. Auch fehlte die rote Strähne in seinem Haar. Und doch sah sie ihren geliebten Vater, ihren besten Freund, ihren Retter in diesem Höhlenkind. Wut kochte in Aleika hoch. Sie fühlte sich veralbert, verspottet, verletzt und ausgelaugt. Alea hatte ihr frisches Wasser gegeben. Er hatte ihr etwas zu Essen gegeben. Einen warmen Schlafplatz. „Warum tust du das alles für mich?“, fragte sie, als sie ihre Stimme wiederfand. „Ich kann ein Mädchen, das in Not ist, nicht einfach im

 

Stich lassen. Aber – was hast du hier zu suchen? Was ist passiert?“, fragte Alea. „Ich will nicht darüber sprechen“, erwiderte Aleika hart. „Sprechen kann Probleme lösen“, meinte Alea. „Meine nicht“, sagte Aleika. „Na gut.“

Sie saß still in sich selbst versunken da, ohne zu weinen, ohne zu lachen, ohne irgendeine Regung zu zeigen. Es war ganz klar, dass sie versuchte, mit einem schlimmen Erlebnis fertigzuwerden. Als er ihr Wasser und Essen geben wollte, reagierte sie nicht. „Hör mal, vielleicht solltest du doch reden…“, begann er. Auf einmal löste sich ihre Starre. „Hör mal, wenn ich mit jemandem nicht reden werde, dann mit dir!“, schrie sie und ihre Stimme überschlug sich fast. Alea zuckte zurück. War das der Dank? War das ihr Dank für alles, was er getan hatte? Er hatte sie vor der Kälte gerettet. Er hatte ihr Wasser gegeben. Er hatte ihr Essen gegeben. War das alles, was sie für ihn übrighatte? Harte Worte? Traurigkeit legte sich auf sein Gesicht. Dann zog er sich zurück.

 

Aleika dachte nach. Zumindest versuchte sie das. Doch alles, woran sie denken konnte, war Alea. Oder Alem. Wieso sahen sie sich so ähnlich? Aleika dachte daran zurück, als Alem noch jünger gewesen war, als er noch wild aussah. Damals sah er Alea verdammt ähnlich. Und auch so: Wie aus dem Gesicht geschnitten. Er hatte das selbe Gesicht, die selben Knochen, die selben Muskeln. Die selben Hände, den selben breiten Rücken. Das selbe Lächeln, welches jetzt, wo Aleika ihn so angeschrien hatte, erloschen war. Aleika bereute das alles. Sie bereute es so sehr. Alles. Sie sah zu ihm. Was hatte sie einst gesagt? Niemals würde sie jemanden finden, der Alem ähnlich war? War dem so? Hatte sie denn nicht hier jemanden, der Alem ähnlich war? Vielleicht sogar verdammt ähnlich? Vielleicht sogar genauso? Nur jünger.

 

Kapitel VIII

 

„Alea?“, fragte Aleika zaghaft. Er drehte sich nicht um. „Was gibt es?“, fragte er. „Es … es tut mir leid“, sagte sie leise. „Dass ich dich angeschrien habe. Das war nicht richtig. Du kannst ja nichts dafür, dass du …“ Sie stockte. Alea drehte sich um. „Dass ich was?“, fragte er. „Dass du … jemandem, den ich sehr liebte, sehr ähnlich siehst“, beendete sie. „Deshalb wolltest du nicht mit mir reden?“, fragte er. Aleika nickte. Er seufzte und sah sie an. „Darf man fragen, wem genau ich so ähnlich sehe?“, fragte er dann. „Meinem … meinem Vater. Meinem … besten Freund.“ Sie biss sich auf die Lippe. „Meinem Geliebten“, fügte sie dann hinzu. „Was denn jetzt?“, fragte Alea verwirrt. Sie setzte sich auf den Boden und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. „Ich weiß es nicht“, sagte sie unter Tränen. „Willst du vielleicht jetzt reden?“, fragte Alea. „Ich rede doch schon“, erwiderte Aleika. „Na gut. 

 

Dann  rede weiter. Wer ist er oder es denn jetzt genau?“ „Er hat mich aufgezogen. Als ich noch ganz klein war. Er ist nicht mein leiblicher Vater, aber er sah sich für mich als solcher. Aber ich … ich habe ihn geliebt, als jemand anderen.“ „Und er hieß Alem?“, fragte Alea. Aleika nickte. „Und du siehst ihm zum Verwechseln ähnlich. Es war ein unheimlicher Schock für mich. Ich dachte zuerst, alles wäre ein böser Traum gewesen. Dann dachte ich, ich seie auch tot und wieder bei ihm. Und jetzt … jetzt bin ich hier und er ist fort.“ Alea setzte sich vor sie und sah sie aufmerksam an. „Das war’s“, sagte sie. „Aber nun zu dir – was tust du hier?“ „Ich wohne hier“, antwortete er. „Wieso in einer Höhle? Wieso wohnst du nicht in einem Dorf oder in der Stadt?“, fragte sie. „Ich werde dort verfolgt“, sagte Alea. „Weshalb?“, bohrte Aleika weiter. „Als Sohn einer Hexe. Meine Mutter wurde wahrscheinlich verbrannt und ich habe sie im Stich gelassen.“ Seine Augen füllten sich mit Traurigkeit. Aleika wünschte, irgendetwas sagen zu können. In ihr stieg ein seltsames Gefühl auf. Eine Mischung aus  

 

Mitleid und Zärtlichkeit. „Als die Soldaten unser Haus stürmten, sagte sie zu mir: ,Lauf‘.“ „Wohin?“, wollte Aleika wissen. „Ich weiß es nicht. Fort eben. Weit weg. Weg von allen, die mir Böses wollen, anscheinend. Und so bin ich hier.“ „Wie lange bist du hier schon?“, fragte Aleika. „Etwa drei Jahre“, meinte Alea. „Als sie unser Haus stürmten, war ich sechszehn, glaube ich.“ Aleika lächelte. Gerne hätte sie seine Hand genommen, doch das wagte sie nicht. Nicht nach dem, was sie sich schon geleistet hatte. „Wo wolltest du hin, wenn ich fragen darf?“, brach Alea die Stille. „Ich weiß es nicht. Vielleicht in irgendein Dorf, wo ich mich als Magd verdingen kann“, meinte sie. „Soll ich dich begleiten?“, fragte Alea. „Aber … du wirst doch gesucht!“, rief Aleika. „Das ist es mir wert“, sagte er und lächelte.

 

Kapitel IX

 

Am nächsten Morgen sah Aleika, wie Alea einige Dinge zusammenkramte. „Wieso nimmst du alle deine Sachen mit?“, fragte Aleika. „Keine Ahnung. Wer weiß, wann ich sie brauche?“ „Aber ich will doch nur in die Stadt!“ „Aber auf mich wartet dort der Henker.“ „Wieso kommst du denn überhaupt mit?“, fragte Aleika. „Das ist viel zu gefährlich.“ „Ich weiß, was ich will.“ Er nahm einen kleinen Beutel und drückte ihn Aleika in die Hand. „Das wirst du brauchen“, sagte er. Aleika ertastete mittelgroße Münzen. „Aber…“ „Kein aber“, unterbrach Alea sie und lächelte. Aleika lächelte dankbar zurück. Sie liebte sein Lächeln. Und der Gedanke, ihn irgendwann zu verlassen, schmerzte sie. Und doch wollte sie weg. Sie war zerrissen. Zerrissen zwischen zwei Möglichkeiten, zwischen zwei Entscheidungen. Sie könnte hierbleiben, wenn Alea das wollte. Sie wollte fort,  

 

um ihn nicht mehr sehen zu müssen. Er glich ihrem Ziehvater bis auf das Alter – und auf die rote Strähne, die Alea nicht hatte. Sie atmete tief durch. Dann trat sie nach draußen. Alea folgte ihr. Er sah noch einmal zurück. „Wenn du hierbleiben willst, kannst du das. Ich schaffe das alleine“, versicherte sie ihm. „Daran möchte ich nicht zweifeln. Aber ich will dich nicht alleine gehen lassen“, erwiderte er. Sie gingen lange durch den Wald, bis sie eine Wiese erreichten. Einen Augenblick fürchtete Aleika, wieder an Alems Haus zu sein. Doch dahinter erhob sich ein Bergland, noch davor ein Sumpf. Sie wateten durch das schlammige, seichte Wasser und erreichten die Mauern eines Dorfes. Es sah wenig einladend aus, jedoch würde man hier wohl eine Herberge finden. Es sah ein wenig so aus, als könnte man zwar einfach hinein – aber nicht hinaus. Aleika schluckte jeden Kommentar hinunter. Sie traten näher. Am Eingang standen zwei Wachen mit gefährlich aussehenden Lanzen. Doch sie begrüßten sie freundlich und ließen sie ein. Zwei, drei Häuser standen dort. Aleika fühlte 

 

sich zunehmend unwohl. Die Häuser waren leer, genauso wie die Straßen. Was war das für ein seltsamer Ort? Aleika sah sich um. Sie fühlte sich in der Zeit zurückversetzt. Die hohen Mauern. Die leeren Häuser. Die beiden Wachen. All das kam ihr erschreckend bekannt vor. Noch bevor sie Alea ihre schreckliche Entdeckung mitteilen konnte, spürte sie, wie ihr ein schwarzer Stoff über den Kopf gezogen wurde.

 

Kapitel X

 

Sie fand sich in einer Ecke auf schmutzigem Stroh wieder. Sie sah sich um und erblickte viele Eindrücke auf einmal. Einen schlammigen Pferch, Steintröge und viele junge Frauen. Sie saßen alle am Boden, einige lehnten an der Wand des Schuppens, der nur etwa der Hälfte der Frauen Schutz vor Wind und Wetter bot. „Ah, du bist wach“, hörte Aleika und plötzlich war eine der Frauen an ihrer Seite und tupfte ihr die Schürfwunde an der Stirn mit einem nassen Lappen ab. Sie hatte blondes Haar und graue Augen, sie war etwas älter als Aleika. „Wo bin ich?“, fragte Aleika verwirrt. Das Gesicht der jungen Frau veränderte sich in eine Miene des Mitleids. „An der letzten Station deines Lebens, wie ich fürchte“, antwortete sie. „Was?“, rief Aleika entsetzt. „Bleib ruhig, bitte.“ „Ruhig bleiben? Wie soll ich denn ruhig bleiben?“, fragte Aleika. „Hör zu, Mädchen. 

 

Hieraus gibt es keine Rettung“, sagte die Frau. „Hieraus? Wo ist Alea?“, fragte Aleika. „Wer ist Alea?“, fragte die Frau. „Mein … mein Mann.“ „Dein Mann? Oh, Schätzchen. Ihm wird es nicht gut ergehen, fürchte ich“, sagte die Frau. „Warum, was passiert mit ihm?“, fragte Aleika. „Wie alt ist er?“, fragte die Frau statt einer Antwort. „Wie alt? Zwanzig“, antwortete Aleika. „Er wird an eine Wand genagelt werden, bis er dort elend sein Leben aushaucht“, verkündete die Frau. „Was?“ Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Aleika war alles klar. Sie war am Anfang ihres Lebens angelangt. Hier schloss sich der Kreis. Vor dreizehn Jahren war sie schon einmal hier gewesen. „Wer tut uns das an?“, fragte sie mit erstickter Stimme. „Eine besonders schlimme Art der Barbaren, würde ich sagen. Sie töten alle nach einer bestimmten Ordnung. Kinder, die über zehn und unter zwanzig sind, werden verbrannt. Männer, die über zwanzig und unter dreißig sind, werden an Wände genagelt. Und alle darüber werden gehängt. Schwangere Frauen und Frauen über dreißig werden 

 

gemessert“, schilderte die junge Frau. Aleika sah sie entsetzt an. „Was passiert mit kleinen Kindern?“, wollte sie wissen. „Die werden ertränkt“, sagte die Frau. „Und was passiert hier mit uns?“, fragte Aleika mit Tränen in den Augen. Das Gesicht der jungen Frau wurde traurig, verzweifelt. „Wir sind dazu da, Neue von ihnen auszutragen.“ „Du meinst…“ Die Frau nickte. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. „Auch ich trage einen von ihnen unter meinem Herzen“, sagte sie. Aleika sah auf den Boden. „Und warum wollen sie weitere?“, fragte sie. „Sie wollen die Stadt im Gebirge einnehmen. Dazu brauchen sie viele Soldaten. Die Stadt wird schon seit Jahren belagert, doch man munkelt, dass es eine Quelle gibt, von der die Stadt lebt. Solange diese Quelle nicht ausgemacht und gestoppt wurde, wird weiterhin Elend hier herrschen.“ „Das kann doch alles nicht wahr sein…“, flüsterte Aleika unhörbar. Sie wünschte, damals nicht weggelaufen zu sein. Dann wäre sie schon längst ertränkt worden. Sie hätte niemals Alem getroffen und verloren. Sie hätte 

 

niemals Alea getroffen. Und auch ihn drohte  sie nun zu verlieren. Bittere Tränen benetzten ihre Wangen. „Wenn wir ein Alter von dreißig Jahren erreichen, werden auch wir erstochen“, holte die Frau Aleika in die Wirklichkeit zurück. „Wir alle müssen uns damit abfinden“, schloss sie. Aleika schüttelte fassungslos den Kopf. „Das kann doch alles nicht wahr sein“, wiederholte sie. Wenn sie damals hatte fliehen können … Musste das jetzt nicht auch möglich sein? Dann stand sie unsicher auf. „Und es wird auch nicht wahr sein“, sagte sie fest. „Ich werde nicht zulassen, dass uns so ein Schicksal erwartet.“ „Mädchen, was hast du vor?“ „Ich werde fliehen. Ich werde Alea retten. Euch alle!“ „Kind, das wirst du nicht. Du kannst es nicht“, beharrte die Frau. „Ich weiß, verdammtnochmal“, schluchzte Aleika und glitt wieder auf den Boden, das Gesicht in den Händen vergraben.

 

Kapitel XI

 

Alea starrte auf die graue Wand vor sich. Seit er wieder bei Bewusstsein war, zogen tausende Fragen an ihm vorbei. Die Wichtigste von allen war: „Wo ist Aleika?“ Was hatten sie mit ihr gemacht? Man hatte ihn in einen Kerker gebracht. Zum Glück war er wenigstens nicht angekettet. Er atmete tief durch. Er musste fort von hier. Das Dorf war eine Falle gewesen. In Wirklichkeit war es eine Falle, die darin bestand, Familien auseinander zu reißen und die, denen so etwas gefiel, zu erheitern. Die Zellen waren klein. Links und recht waren Mauern, vorne war ein Gitter. Draußen war ein Gang, schwach von Fackeln erhellt. Alea konnte nichts tun. Das Gitter war zu stark und er war zu schwach. Die Mauern waren solide. Der Boden aus Stein. Er fühlte sich wie ein Versager. Er hatte Aleika in eine Gefahr begleitet. Er wünschte, er hätte sie niemals gehen lassen. Aber dazu war es zu spät.

 

Aleika betrachtete nachdenklich den Ast, den sie gefunden hatte und den Stein. „Hat jemand von euch Stoff?“, fragte sie in die Runde. Lange herrschte Schweigen, dann zog eine junge Frau ihr Kopftuch von ihrem schwarzen Haar. „Danke“, sagte Aleika und lächelte. Sie band das Tuch zwischen die Astgabel. Es war eine perfekte Schleuder. Damit konnte man doch bestimmt die Wachen außer Gefecht setzen. Die Wachen, die den Pferch bewachten, trugen keine Rüstung, sie hatten lediglich Schwerter. „Aber ich kann mit einer Schleuder nicht umgehen“, bemerkte Aleika. Plötzlich trat eine rothaarige Frau hervor. „Ich, ich kann damit umgehen“, verkündete sie schüchtern. „Ich… mein Vater war Jäger und hat mich manchmal mit auf die Jagd genommen“, setzte sie hinzu. Aleika reichte ihr lächelnd Schleuder und Stein. „Versuch dein Glück“, meinte sie. Die junge Frau sah Aleika an und nickte. Sie schleuderte den Stein der Wache an den Hinterkopf. Sofort reichte ihr eine weitere, hochschwangere Frau einen neuen Stein. Bevor die andere Wache reagieren konnte, 

 

wurde sie ebenfalls niedergestreckt. „Los“, rief Aleika und erklomm den hohen Zaun, der sie umgab. Die anderen Frauen folgten ihr. „Du“, sagte Aleika und trat zu der Rothaarigen. „Du leitest sie. Bring sie fort hier. Ich komme auch. Irgendwann. Vielleicht.“ Die Rothaarige nickte und sammelte hastig einige Steine vom Boden auf. „Ich danke dir“, sagte sie und drehte sich dann zu den anderen um. Aleika sah sich um. Sie lief zu einer der betäubten Wachen und nahm ihm sein Schwert ab. Sie zögerte. Dann köpfte sie die beiden Wachen. Sie lief zu einem der Häuser, die zur Zierde hier aufgebaut waren. Dort drinnen musste ein Zugang zu den Verliesen sein. Zumindest hatte die blonde Frau – Miriam – das gesagt. Sie musste Miriam vertrauen. Sie öffnete vorsichtig die Tür. Niemand war da. Sie entdeckte eine Treppe, die unter die Erde führte. Sie lief hinunter und stand vor einer Tür. Sie öffnete die Tür und trat hindurch – und versenkte blitzschnell ihr Schwert in der Brust des Wachpostens. Aleika blinzelte. Das Blut tropfte und verteilte sich auf dem Boden. Aleika folgte eilig 

 

dem dunklen Gang und suchte die Zellen nach Alea ab. Sie durften ihm nichts angetan haben … sie durften ihn noch nicht getötet haben … Sie blieb stehen. „Alea!“, rief sie erfreut. Alea hob überrascht seinen Kopf. „Aleika!“, rief er und sprang auf. Sofort war er bei ihr, am Gitter. Aleika sah ihn erschrocken an. Ãœber sein Gesicht lief Blut. Es tropfte aus seinen Haaren. „Was haben sie dir angetan?“, fragte sie. Alea strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Nichts“, sagte er. „Ich weiß auch nicht.“ Er fuhr sich über das Gesicht und verwischte das Blut. Er leckte seine Hand ab und verzog das Gesicht. „Aber du blutest“, sagte Aleika. „Ich weiß. Aber alles, was mir bis jetzt wehtat, war meine Seele.“ Aleika sah ihn lange an. In seinem Haar hatte sich eine rote Strähne gebildet. „Deine … deine Seele blutet“, sagte Aleika langsam. „Jetzt nicht mehr ganz so stark“, meinte Alea. Aleika lächelte. Nun sah er Alem sehr, sehr ähnlich. „Sag, hast du einen Vater?“, fragte Aleika. „Muss wohl, sonst wäre ich wohl nicht hier“, meinte Alea. Aleika grinste. „Nein, aber … kennst du ihn?“, 

 

fragte sie. Alea schüttelte den Kopf. „Meine Mutter sagte, er wäre ein Narr gewesen. Sie hat ihn verlassen, ehe sie wusste, dass sie mich unter dem Herzen trug“, erzählte Alea. Aleika sah ihn nachdenklich an. „Ich glaube, langsam fügt sich alles“, meinte sie. Alem hatte einst erzählt, dass er viele Frauen gehabt hätte. Und er hatte sie alle geliebt. Aber noch mehr hatte er seine Heimat geliebt. Seine rote Strähne musste entstanden sein, als seine Seele das erste Mal schlimm blutete. Das war, als seine Geliebte ihn verließ. Und diese Geliebte trug zu diesem Zeitpunkt schon Alea unter ihrem Herzen. „Alem ist dein Vater“, flüsterte Aleika. „Aber … er ist dein Vater!“, berichtigte Alea. Aleika schüttelte den Kopf. „Ein Freund. Ein guter Freund. Ein verdammt guter Freund sogar.“ Sie lächelte. „Endlich verstehe ich alles. Du bist sein Sohn. Man sieht es doch. Darauf hätte ich auch früher kommen können“, meinte sie dann. Sie sah sich um. „Jetzt sorge ich dafür, dass du hier rauskommst“, meinte sie. Sie ging ein Stück den Gang entlang, dann entdeckte sie eine Haken mit 

 

einem riesigen Schlüssel daran. Sie streckte sich und holte ihn herunter. Das war ja fast zu einfach gewesen. Dann lief sie zu Alea zurück. „Und dann nichts wie weg“, meinte sie, als sie den Schlüssel in das Schloss steckte. Sie erstarrte. „Passt nicht“, bemerkte sie tonlos. „Verdammt“, meinte Alea. Das wäre auch wirklich zu einfach gewesen. „Das ist der Schlüssel zu meiner Zelle!“, meldete sich eine Stimme aus der Zelle nebenan. Aleika sah in die Nebenzelle. Dort hockte ein ausgemergelter junger Mann, der nun zu ihr ans Gitter kroch. „Ich weiß, wo der Schlüssel zu der Zelle deines Freundes ist“, fügte er hinzu, als er sie ansah. Aleika zog die Augenbrauen zusammen. „Wo?“, fragte sie. „Hör mal, Kleine – so läuft das nicht. Ich sage dir, wo der Schlüssel ist, wenn du meine Zelle aufschließt“, sagte er. Aleika rührte sich nicht. „Was ist?“, fragte Alea. „Lass ihn schon raus!“ Aleika wusste nicht so recht. Plötzlich fiel ihr Blick auf die Kette, die er trug. Es war eine hölzerne Kette, in die ein Smaragd eingearbeitet war. Es war Alems Kette. „Gauner!“, rief sie. „Mörder!“ „Das ist die Kette meines 

 

Vaters!“, sagte sie und griff durch das Gitter dem Mann an den Hals. „Du hast meinen Vater ermordet“, zischte sie. Der junge Mann wurde blass. „Ich kenne deine Vater nicht“, beteuerte er. „Und ob. Du hast ihm einen Dolch ins Herz gerammt“, fauchte sie. In Aleika wurden plötzlich ungeahnte Kräfte frei. Sie drückte dem Mann den Hals zusammen. Sie verspürte eine ungeheure Wut. „Bitte, lasst mich am Leben!“, flehte der Mann. „Am Leben“, meldete sich Alea spöttisch aus der Nebenzelle. „Du darfst in ein paar Tagen zusammen mit mir dein Leben mit Nägeln in Händen und Füßen aushauchen. Glaub mir, das, was sie gerade tut, ist angenehmer.“ Doch dann verschwand der Spott aus seiner Stimme. „Aleika, lass ihn am Leben. Wenn er wirklich weiß, wo der Schlüssel ist, haben wir vielleicht noch Chancen.“ Aleika schluckte. Dann ließ sie los. Der Mann sank auf den Boden und schnappte nach Luft. Aleikas Gedanken rasten. Der Mörder ihres Vaters … ihre Rettung? So hatten sie zumindest eine fünfzigprozentige Chance, lebend zu entkommen, 

 

oder etwa nicht? Nun gut, in Betracht gezogen, dass es sich hierbei um einen Dieb, einen Mörder handelte, stufte Aleika auf fünfundzwanzig Prozent runter. Aber dennoch mussten sie es wagen. Langsam drehte sie den Schlüssel um. Nach einem Klick sprang das Schloss auf. Der Mann trat neben Aleika. „Hör zu, Süße – der Schlüssel befindet sich oben im Haus“, sagte der Dieb. „Gut. Wartet hier, ich komme gleich wieder“, sagte Aleika und rannte den Gang zurück ins Haus. Dort durchsuchte sie allerlei Schubladen und Schränke, bis sie den Schlüssel unter einem Stuhl hängend fand. Eilig lief sie zurück und schloss Aleas Zelle auf. Aleika wünschte, sie wären jetzt allein, aber das waren sie eben nicht. Und außerdem waren sie nicht außer Gefahr. Aleika zog Alea hinter sich her und aus dem Gang. Sie liefen auf den Hof zurück und entdeckten einige Wachen mit tödlichen Verletzungen, die alle verteilt da lagen. Die Frauen hatten gute Arbeit geleistet. Sie liefen auf das Tor zu und konnten ohne Weiteres fliehen. Sie durchquerten den Sumpf, wo sie dann die vielen 

 

Frauen antrafen. Viele von ihnen waren schwanger, andere waren noch fast Kinder. „Und was macht ihr jetzt?“, fragte der Dieb. Aleika sah auf die Frauen herab. „Tja. Ich glaube, ich werde zurück zu meinem zu Hause gehen“, meinte sie. „Soll ich dich begleiten?“, fragte Alea und grinste. Aleika sah ihn überrascht an. Sie lächelte. Aleas Grinsen war so breit, dass es wortwörtlich von einem Ohr zum anderen reichte. „Und wenn ich dich wieder fast umbringe?“, fragte sie. „Du mich? Ich dachte, ich hätte dich fast umgebracht!“, erwiderte Alea. Aleika lachte. „In Ordnung. Wir leben ja noch. Niemand hat hier irgendwen fast umgebracht.“ Alea nickte zufrieden. „Heißt das, ich darf mitkommen?“, fragte er wieder. „Mitkommen oder mich begleiten?“, fragte Aleika zurück. „Mitkommen. Und da bleiben“, antwortete Alea. „Hm. In Ordnung.“

 

Kapitel XIII

 

Viele von ihnen zogen aus, um in der Stadt zu leben, die unweit von hier lag. Viele von den Frauen hatten ihre ermordeten Männer zu betrauern. Der Dieb, der sich als Florian vorstellte, wollte auch in die Stadt. „Und was wirst du dort machen?“, fragte Aleika ihn. Er sah sie verschmitzt grinsend an. Dann wurde er ernst. „Ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Ich werde nie wieder morden und stehlen“, versprach er ihr. Aleika sah ihn prüfend an. Dann nickte sie und schlug ihm annerkennend auf die Schulter. Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Damals … also, als du meinen … Vater ermordet hast … da habe ich zwei Männer davonlaufen sehen. Was ist aus dem anderen geworden?“, fragte Aleika. „Man hat ihn sofort gehängt“, antwortete Florian. Er griff an die hölzerne Kette mit dem Smaragd und hielt sie Aleika hin. "Ich glaube, das hier gehört dir", meinte

 

er. Aleika lächelte. "Ich danke dir", sagte sie. „Ach ja … und … Aleika – nicht ich habe deinen Vater getötet. Es war mein … nun ja, Freund – er hat ihn erstochen. Ich habe deinen Vater lediglich weggelockt. Ich weiß, ich bin Mittäter, aber ich will nicht, dass du schlechter von mir denkst, als ich verdient habe“, stammelte Florian. Aleika schluckte ein paar Tränen runter. „Gut zu wissen“, sagte sie dann leise.

Als sie an ihrer Hütte, die sie mit Alem geteilt hatte, ankam, erwarteten sie dort die zwei Hunde, die treu an den Ãœberresten ihres Herren gewacht hatten. Aleika vergoss viele Tränen, als sie Alem begrub. Alea stellte einen großen Stein auf und befestigte ein Schild, auf dem sie ihrem Vater gedachten. Dann zogen sie sich in die Hütte zurück. Es sah noch alles so aus, wie vor einigen Tagen. Aber Alem war fort. Und Alea war da. Sie wischte sich die Tränen mit ihrem dreckigen Ärmel vom Gesicht. „Wie soll ich hier nur jemals aufräumen?“, fragte sie verzweifelt. „Das schaffen wir schon“,  

 

meinte Alea. Er nahm sie in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Aleika sah ihn lange an und verlor sich fast in den Weiten seiner grün- braunen Augen. Dann gab sie ihm auch einen Kuss. Noch immer klebte das Blut mit der rätselhaften Herkunft, in seinem Gesicht. Aleika schmeckte den salzigen und metallischen Geschmack auf ihrer Zunge. Dann atmete sie tief durch. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und atmete seinen Duft ein. „Ich liebe dich“, sagte sie leise. „Ich dich auch“, flüsterte Alea. Sie brach wieder in Tränen aus. Sie weinte, um wieder Platz in ihrer Seele zu schaffen. Sie beweinte Alem und all die Toten, die dieser Tag heute gesehen hatte. Sie beweinte ihre Familie, die vor Jahren ermordet worden war. Und sie weinte aus Glück. Sie hatte den Mann gefunden, von dem sie glaubte, dass er tot sei. Endlich zog Frieden in ihre Seele ein. Innerhalb weniger Sekunden war sie eingeschlafen.

 

 

 

Danke an alle, die das hier gelesen haben!

 

 

 

Ich freue mich ganz doll über

Kommentare!

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Über den Autor

Selene
Naja - was wohl? Ich schreibe schon sehr lange. Ich glaube, mein erstes Buch - naja, Geschichte - habe ich im Kindergarten geschrieben, bzw. schreiben lassen. Da ich hier und in der Umgebung kaum Zuhörer fand, habe ich es über's Internet probiert. Und ich hoffe, dass ich hier den einen oder anderen finden kann, der meine Geschichten gerne liest.
Ich schreibe fast immer Fantasy, weil ich schon zu sehr in der Realität lebe ;-)

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Selene Re: Tolle Geschichte! :) -
Zitat: (Original von Kekziix3 am 13.10.2012 - 20:15 Uhr) Ich muss sagen die Geschichte fand ich sehr spannend und ich hab sie mit begeisterung durch gelesen. :)
Von mir ein großes Kompliment und das mag was heißen, weil ich eigentlich nicht so gerne Bücher lese aber das was du geschrieben hast fand ich super. :D

Mfg
Kekziix3
(Sabrina)



Freut mich :)
Vielen Dank für deinen Kommentar, hab mich wirklich gefreut (und freue mich noch immer :D)

LG
Selene
Vor langer Zeit - Antworten
Kekziix3 Tolle Geschichte! :) - Ich muss sagen die Geschichte fand ich sehr spannend und ich hab sie mit begeisterung durch gelesen. :)
Von mir ein großes Kompliment und das mag was heißen, weil ich eigentlich nicht so gerne Bücher lese aber das was du geschrieben hast fand ich super. :D

Mfg
Kekziix3
(Sabrina)
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