Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze)
In Galor herrschte an diesem Morgen helle Aufregung, denn die Nachricht, am Horizont seien Schiffe gesichtet worden, hatte sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt gebrannt, in der man bereits den orkischen Entscheidungsangriff von der Seeseite fürchtete.
Niemanden hatte es mehr in seinem Haus gehalten, alle Leute schienen plötzlich auf den Straßen zu sein, gingen hinter ihren Barrikaden in Stellung, warfen prüfende Blicke auf ihre oftmals improvisierten Waffen oder standen einfach nur in den Eingängen ihrer Häuser und schwangen Reden über das Ende aller Tage.
So geschäftig waren sie und doch so tatenlos, da es niemand wagte, von seinem angestammten Platz zu weichen. Die Neugier drängte die Menschen zum Hafen, doch die Furcht kettete sie noch auf der Schwelle ihres Hauses fest. Dass sei schließlich Sache der Soldaten, sagte man sich und machte sogleich Platz, als mal wieder eine Staffel durch die Straßen preschte.
Darunter auch Raham, der wie viele Offiziere zum Hafenviertel beordert worden war und nun unverständlich in die Mienen seiner Kameraden starrte, die abweisend wirkten, als hätten sie gerade dem Tod selbst ins Antlitz geblickt.
Noch bevor sie den Hafen erreichten, brannten seine Lungen vom scharfen Marschtempo. Während er noch die Hände auf die Knie stemmte einen flüchtigen Blick auf die etlichen Kohorten warf, die bereits auf der Promenade Stellung bezogen hatten, bahnte sich eine ihm wohl bekannte Person ihren Weg zu ihm. Sekunden später stand Vigard vor ihm, der ihn augenblicklich in eine aufrechte Position zerrte.
„Kommt mit zum Pier!“, rief dieser und schon sah Raham sich über den halben Weg geschleift. Seine Beine leisteten widerwillig Folge, sodass sein Herz noch bedeutend stärker schlug, als sie endlich das Ende eines steinernen Piers erreicht hatten, vor dem sich die weite, blaue See erstreckte. Dort hatten sich bereits einige Offiziere versammelt, um die beiden Schiffe zu beobachteten, die mit vollen Segeln in Richtung Galor trieben. Eines davon war riesig.
„Wir sollten sofort den Rat informieren und mehr Kanonen aufstellen lassen“, meinte irgendwer.
„Pah, als ob die Orks von der Seeseite angreifen…mit zwei Schiffen“, höhnte ein anderer.
„Haben wir nicht all ihre Schiffe zerstört?“
„Selbst wenn, der Hafen ist vollkommen schutzlos. Wenn die Orks von der Seeseite angreifen, reichen zwei Schiffe vollkommen.“
„Die Orks“, begann Vigard, der zuvor unentwegt durch sein Fernrohr gestarrt hatte, „segeln nicht unter den Flaggen der Alten Königreiche.“
Es wurde still, denn seine Worte hatten alle anderen erschlagen, dass ihm nur noch ausdruckslose Mienen entgegenstarrten, zu tiefst erschüttert von einer Wahrheit, an die niemand mehr hatte glauben wollen.
Eine Sekunde später war der Moment verflogen und hastig griffen alle nach ihren eigenen Fernrohren. Wer keines hatte, versuchte angestrengt, mit der Kraft seiner eigenen Augen in die Ferne zu starren, oder lieh sich eine Sehhilfe, und so erkannten sie schließlich alle das Doppelwappen der alten Königreiche, ein schwarzer Grund, auf dem in Silber Lilie und Schlange prangerten.
„Das kann nicht wahr sein“, keuchte ein Elipfer, wobei er auf die Knie fiel, um die Mondgöttin zu preisen.
„Ich wusste es, ich habe es immer gewusst“, flüsterte Vigard, der nun ohne das Rohr entgeistert in die Ferne starrte.
„Ihr wusstet es?“, wandte sich Raham verwundert an ihn.
„Die Iurionisten hatten gar keine andere Wahl, als nach uns zu suchen. Wenn diese Schiffe nicht angekommen wären, hätten sie eine ganze Flotte geschickt“, seufzte er, „Was wäre das nur für eine Welt, in der es sie nicht gäbe?“
„Ich…“, begann der Delioner, dessen Worte vom Ruf eines anderen Offiziers erstickt wurden:
„Da ist ein Boot!“
Tatsächlich hatte man auf den Schiffen mittlerweile die Segel gestrichen und ein längliches Ruderboot zu Wasser gelassen, das sich schnell in ihre Richtung bewegte. Während es näher kam, legte sich Stille über den Pier, wohingegen auf der Promenade laut gejubelt wurde, da man auch dort von der Sichtung der Flagge erfahren hatte.
Von der Promenade aus brannte sich die Nachricht durch alle Straßen und Gassen der Stadt, wo sie jeden, den sie erreichte, mit überwältigtem Gesichtsausdruck und wortlos zurückließ.
Erst danach brach der Jubel aus.
Als Asbel seinen Blick von der See abwandte, in die er gerade den letzten Rest seines Mageninhalts vergossen hatte, und sich den Mund abwischte, flog ihm das Blütenblatt einer weißen Lilie entgegen, welches an seiner schweißnassen Stirn kleben blieb. Während die Matrosen in den vorderen Reihen im strengen Takt des Trommlers ihre Ruder schlugen, strich er mit seinen Finger über das sanfte Blatt.
„Die scheinen sich aber sehr zu freuen“, lachte Kaito, der zu der jubelnden Menschenmasse hinüberstarrte, die sich jetzt bis zum äußersten Rand des Piers drängte, „Das nenne ich mal einen guten Empfang.“
„Etwas zu gut für meinen Geschmack“, murrte Asbel, wobei er das Blatt in die Wellen schleuderte, „Wenn sie so froh darüber sind, uns zu sehen, kann etwas nicht stimmen.“
„Chevalier“, der Nogroner zog spöttisch eine Augenbraue hoch, „Der Kontakt mit Fiondral war über ein Jahr abgeschnitten. Hattet Ihr wirklich erwartet, hier alles in bester Ordnung vorzufinden?“
„Nein, ich…aber jetzt frage ich mich, ob ich je wissen wollte, was hier passiert ist“, entgegnete er stumpf.
„Darüber würde ich mir nicht den Kopf zerbrechen, jetzt ist es eh zu spät“, lachte Kaito, der mit ausgestrecktem Arm auf den Pier deutete, der gerade links an ihnen vorbeizog.
Sie hatten es geschafft, sie waren in Galor.
Sofort reckten sich ihnen etliche Hände entgegen, um ihnen vom Boot an Land zu helfen, während im Hintergrund einige ledrianische Soldaten damit beschäftigt waren, schaulustige Zivilisten zurückzudrängen.
Asbel ergriff dankbar, die erste Hand, die in seine Nähe kam, und kaum einen Augenblick später hatte man ihn auch schon auf den steinernen Pier gezogen, wo er sich sofort reckte.
„Kein Wackeln mehr, endlich fester Boden“, frohlockte sein Herz, während neben ihm Kaito ebenfalls das Boot verließ. Sogleich eilte Vigard an ihre Seite, wo er sich sofort verbeugte.
„Edle Herren“, grüßte er, „Ich, Vigard, Leutnant des Marquis‘ Lucian de Nord, heiße euch in der Stadt Galor willkommen.“
„Ein Untergebener de Nords…das ehrt Euch. Seid ebenfalls gegrüßt“, gab Kaito zurück, was Asbel mit einem Nicken bestätigte, „Das ist hier ist Chevalier Asbel von Windhang und ich bin Kaito Mikuzu, Hauptmann im Dienste des Generals Toulessé. Wir wurden von den hochgeehrten Herrschern der Alten Königreiche entsandt, um die Lage in Fiondral zu untersuchen. Sagt uns, Leutnant: Was ist hier vorgefallen?“
„Das ist eine lange Geschichte“, murrte Vigard, dessen Miene sich sogleich verfinstert hatte, „Aber zum Anfang nur so viel: Der gesamte Kontinent wurde von Orks und Thanatoikern überrannt. Galor ist die letzte Stadt, die von den kalatarischen Nationen gehalten wird.“
Seine Worte knallten wie Peitschenschläge in die Ohren der Neuankömmlinge, deren Gesichter vom einen Moment auf den anderen dem seinen an Bitterkeit und Verfinsterung um nichts nachstanden.
„Das kann nicht sein. Die Orks? Die…gibt es doch gar nicht“, stotterte Asbel.
„All die Verwandten derer, die sie niedergemetzelt haben, werden Euch etwas anderes erzählen, Chevalier“, dementierte der Leutnant, „Aber es ist wohl am besten, wenn man euch im Stadtpalast vollständig über die Situation unterrichtet. Wo ist eigentlich euer General?“
„Lasst…ähm…zwei Mal Salut schießen…so wird er… wissen, dass die Lage hier nicht…nicht bedrohlich ist und…übersetzten“, erklärte Kaito, der ebenfalls um Fassung rang.
So geschah es. Während von der Hydra ein weiteres Boot zu Wasser gelassen wurde, in dem sich Toulessé, Taena und Aleandro befanden, bereiteten die Ratsmitglieder im Stadtpalast den feierlichen Empfang der Ankömmlinge vor.
Als sie wenig später an Land waren, unterrichtete man auch sie kurz über die derzeitige Lage in Fiondral.
„Oh, das ist…schlecht“, seufzte der Kapitän, wobei er weiterhin an seinem Dreispitz zupfte. Taena schlug gar wortlos die Hand vor den Mund und sah sich auch im Folgenden außer Stande, auch nur einen Laut von sich zu geben, wohingegen der General lediglich eine Augenbraue hob.
Anschließend bestiegen sie die für sie bereitgestellten Pferde und ritten unter der Führung Vigards und Rahams zum Stadtpalast, wo sie wenig später eintrafen.
In der Eingangshalle, von deren Rängen lauter Jubel und unzählige Rosenblätter auf sie herabprasselten, wurden sie zunächst von der xendorischen Prinzessin empfangen. Vor der sie sich allesamt verbeugten. Aleandro wagte gar, ihre Hand zu küssen, bevor sie die Ankömmlinge in den Audienzsaal geleitete, wo bereits Montierre und Farruk warteten. Auf der Miene des letzteren prangerte ein unverschämt breites Grinsen, wie es Kinder bei reicher Bescherung zeigten.
Als sich die Tür hinter ihnen schloss, wandte sich Vigard im Vorzimmer an Raham: „Jetzt wird sich in dieser Stadt einiges ändern.“
War der Nebel auf der Westseite Fiondrals längst verflogen, lag er doch immer noch wie ein Totenschleier über den Landstrichen der Ostküste, sodass Baraj nur in eine milchig weiße Wand starrte, während er über seine ruhenden Gefährten wachte. Den Speer in den morastigen Boden neben sich gestoßen, presste er die Finger seiner Rechten auf den linken Oberarm, wo ihn im vergangenen Kampf der Schlägel eines Thanatoikers erwischt hatte.
Zwei Tage waren nun schon vergangen, seit sie es mit Tymaleaux und seinen Untergeben aufgenommen hatten, und doch saßen die Wunden immer noch tief. Sie sprachen wenig, denn obgleich sich Ferren und Ariona gut erholten, hielt der Tod Janus‘ sie in stiller Trauer gefangen. So ziemlich jeder hatte den Mönch gemocht, besonders nachdem Ariona in den vergangenen Tagen unzählige Male die Geschichte ihrer Rettung zum Besten gegeben hatte, bestürzt darüber, dass sie nichts für ihn hatte tun können.
Zugleich lastete jedes ihrer Worte Truzos die Schuld am Tod des Geistlichen auf.
„Nein“, dachte Baraj, „Er hat richtig gehandelt. Im Krieg müssen Opfer gebracht werden. Truzos wusste das und Janus auch. Als er die Chance hatte, Tymaleaux aufzuhalten, musste er handeln. Tymaleaux…“
Mit Schrecken starrten sie alle in die Erinnerung an den Verräter, an die abartige und dennoch so ungeheure Macht, die er besaß, die jeder Klinge zu trotzen schien. Keiner sprach davon, doch jeder schien zu wissen, dass Truzos‘ Zauber ihn nicht getötet hatte.
Baraj lehnte sich gegen den Felsbrocken hinter ihm, starrte in den Nebel und gedachte seiner gefallenen Kameraden, die das Schicksal hinweggeweht hatte, wie der Wind es vor seinen Augen mit den milchigen Schwaden tat.
Renault, Dimitri, Kalira und die anderen, die beim ersten Angriff der Orks gefallen waren, dann Olaf und zuletzt Janus.
Erst in diesem Moment wurde ihm klar, wie viel Leid seit ihrer Abreise aus Galor verursacht worden war, dass Krieg eben kein Geschäft war, dass ihre Feinde ebenso über Verluste trauerten wie sie, dass am Ende der feindlichen Klinge auch nur ein fühlender Mensch stand, oder eben ein Ork.
Die jähe Frage keimte in ihm auf, ob Krieg jemals gerecht oder notwendig sein konnte.
„Schwachsinn!“, peitschte er sie hinweg, „Dieser Krieg ist notwendig! Mit ihrem Verstoß gegen alle Gerechtigkeit, alle Menschlichkeit, haben unsere Feinde nur nach dem Leid, nach der Strafe gefordert, die wir ihnen erteilen. Nichts daran ist falsch, all unsere Feinde haben den Tod verdient und unsere Verbündeten sterben in der Gewissheit, ihr Leben für das Richtige zu geben.“
So wandte er seine Gedanken ab von den Zweifeln und fragte sich, was den anderen beiden Trupps unter Jarred und Dragan widerfahren war, ob man sie auch verraten und ihnen unbesiegbare Bestien wie Tymaleaux entgegengeschickt hatte, ob sie alle tot waren oder bereits auf ihren Schiffen zurück nach Galor segelten.
Vielleicht, wurde ihm klar, würde er das niemals erfahren, würde er niemals den Sieg oder die Niederlage Galors sehen, ebenso wie Renault, Kalira, Olaf und Janus.
Etwas riss ihn jäh aus seinen Gedanken, ein Knistern im Unterholz, ein fernes Geräusch, das lediglich vom Luftzug zu ihm getragen wurde. Sofort sprang er auf und riss seinen Speer mit einigen matschigen Erdklumpen aus dem Boden, sein Blick bohrte sich in den Nebel, doch erkennen konnte er nichts. Er drehte sich um, aber auch dort war nichts zu sehen als die Felsbrocken, die Lager seiner schlafenden Kameraden, das morastige Dickicht und die Silhouetten der Bäume hinter der Wand des Nebels.
Erneut lauschte er, doch das Knistern war verschwunden, ohne eine Spur davon zu hinterlassen, dass es je dagewesen war. Baraj betrachtete den Speer, den er kampfbereit, fast schon verkrampft in seiner kräftigen Rechten hielt, und es kostete ihn wahrlich Mühe seinen Griff um das Holz zu lösen, es sinken zu lassen.
„Der Krieg macht einen kaputt“, stellte er fest, „Wenn es nicht die Waffen tun, dann die Bilder.“
Mürrisch warf er einen Blick auf das silberne Stundenglas, welches noch Janus‘ Besitz entstammte, womit er gerade noch wahrnehmen konnte, wie die letzten Sandkörner die obere Kammer verließen und somit das Ende ihrer ungewöhnlich langen Ruhe einläuteten.
„Die hatten wir auch nötig“, machte Truzos unter einem tiefen Gähnen deutlich, nachdem Baraj ihn geweckt hatte. Auch die anderen hatte er schnell aus dem Schlaf befördert, sodass sie sich alsbald um das erloschene Lagerfeuer sammelten, welches sich in der Mitte des vom Nebel verschlungenen Lagers befand.
Man sprach ein wenig, tauschte ein paar Scherze und Spott aus, schwieg, starrte in das milchig weiße Leichentuch, gedachte der Toten, lauschte Truzos, der ein kurzes Gebet für diese sprach. Er war in der Gruppe der letzte, der noch Gebete kannte, doch da er dem Iurionismus angehörte, beschränkte sich sein Wissen auf diesen und so war mit Janus‘ Tod die Stimme des Erlösers für immer verstummt.
Nachdem der Magier seine Heilswünsche zum Gerechten Fürsten gesandt hatte, wandte man sich wieder den weltlichen Dingen zu, allen voran Neluet, der im Gegensatz zu den anderen eine detaillierte Karte Fiondrals besaß. Zusammen mit Ferren tüftelte er schnell eine neue geeignete Rute aus, um zur nächstgelegenen Landezone zu gelangen, die tatsächlich kaum noch sieben Tagesmärsche von ihnen entfernt war.
„Kameraden!“, rief der Leutnant schließlich, „Packt euer Zeug zusammen, wir marschieren weiter! Ich weiß, dass uns der letzte Angriff hart getroffen hat, aber wir haben wieder einmal bewiesen, dass wir uns zur Wehr setzten können. Selbst gegen die Schwarze Macht! Wir leben noch und nur eine Woche trennt uns noch von unserem Ziel! Wir sind zu nah dran, um uns noch aufhalten zu lassen. Zeigen wir’s ihnen! Für Renault, für Dimitri, für Kalira, für Olaf, für Janus, für unsere Waffenbrüder, die für diesen Sieg fielen und die Menschen in Galor, die alle Hoffnung in uns setzten! Wir werden nicht versagen.“
So machten sie sich auf den Weg und ihr Marsch durchschnitt den Nebel, trug sie hinein in die verwüsteten Weiten Aurevils, des heiligen Königreichs.
Das dämmrige Licht ruhte ebenso schwer wie der Weingeruch und der blasse Tabakqualm über der massiven Tafel, die sich in Mitten des großen, ovalen Raumes befand. Kaito lag fast in seinem dunkelbraunen Ledersessel, atmete den Tabak aus und ließ seinen Blick über die etlichen grünen, dunklen Flaschen schweifen, die mittlerweile leer und verstreut auf dem Tisch herumlagen.
Irgendwo über der strategischen Karte Fiondrals, die dessen Mitte zierte und mit rotem Wein befleckt war, thronte Aleandros Dreispitz. Der Kapitän hatte Galor vor etwa einer Stunde verlassen und war auf die Hydra zurückgekehrte, seinen Hut hatte er jedoch dort gelassen. Dem Hauptmann gegenüber saß Asbel, der, verschanzt hinter einer Barriere aus Keramikschüsseln und Silbertellern, die noch letzte Essensreste zierten, ebenfalls rauchte.
„So gut habe ich seit Monaten nicht mehr gegessen“, ließ er verlauten, wobei er sich den geblähten Bauch unter dem ledrianischen Wappenrock rieb.
„Du meinst wohl eher, dass du zuletzt vor Monaten eine derartige Menge an Essen in deinem Magen behalten hast“, lachte Toulessé, wobei er sein kristallenes Glas erneut mit trockenem, rotem Wein füllte.
„Pah, Seekrankheit“, höhnte Kaito mit lallender Stimme, während er versuchte, einer leeren Flasche noch ein paar letzte Tropfen zu entlocken. Als er endlich merkte, dass er keinen Erfolg mehr haben würde und sein Hals sich langsam zu versteifen begann, ließ er das Behältnis jedoch wieder auf den Tisch zurückrollen.
„Die Orks also…“, sinnierte er, „Hätte nicht gedacht, dass es die gibt.“
„Da sagt Ihr was“, stimmte Asbel zu, „Aber der Rat glaubt nicht, dass sie alleine dahinterstecken.“
„Der Rat“, zum ersten Mal triefte Spott aus Toulessés Stimme, „Unsere Landsleute beschuldigen die Demokraten und die Demokraten beschuldigen uns, aber alle scheinen sich darin einig zu sein, dass zumindest die Thanatoiker etwas damit zu tun haben müssen.“
„Darauf verwette ich meinen Schädel“, lachte Mikuzu.
„Aber den Dunklen Kult gibt es nicht mehr. Unsere Vorfahren haben ihn zerschlagen!“, entgegnete Asbel.
„Dunkler Kult…als ob es auf den ankäme. Die normalen Thanatoiker sind genauso schlimm. Ich sage euch, wir hätten sie alle abschlachten sollen!“
„Kaito, Ihr solltet Euch mäßigen, wenn…“, begann Toulessé bedauernd, bevor der Nogroner selbst wieder das Wort ergriff.
„Ja natürlich…tut mir leid, Herr General“, er seufzte, „Aber es war doch klar, dass sie sich wieder gegen uns, ach was sag ich, gegen die ganze Welt und alles Lebens stellen würden, und…“
„Dafür gibt es keine Bewiese“, erwiderte der Chevalier.
„Noch nicht, aber ich sage euch: Wartet nur ab. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis…“, doch weiter kam er in seiner Rede nicht, da das Quietschen einer schweren Holztür ihn je verstummen ließ. Einen Augenblick später glitt Taena, die einige Bücher in Händen hielt, gefolgt von zwei Matrosen, die schwere Kisten stemmten, in den Saal, wobei ihr Blick sofort auf den verstummten Hauptmann fiel.
„Oh, ich…lasst euch von mir nicht stören, werte Offiziere. Ich meine, ich bin gleich wieder weg. Bringe nur ein paar Bücher in mein neues Quartier“, erklärte sie und machte sich mit Texten beladen, schwerfällig daran, eine weitere Tür zu öffnen.
Schon war Asbel aufgesprungen, herbeigeeilt und hatte den Durchgang für sie geöffnet. Sie bedankte sich kurz, um anschließend mit ihrer Begleitung im angrenzenden Zimmer zu verschwinden, worauf Asbel wieder an den Tisch zurückkehrte.
Während die Magierin und die Matrosen sich auch schon wieder auf den Rückweg machten, wandte sich der Chevalier an Toulessé:
„Du lässt sie hier einziehen. Das heißt, wir bleiben hier?“
„Was sollten wir sonst tun?“, blaffte Kaito.
„Ich meine ja nur“, begann Asbel, „Wir könnten ein Schiff nach Kalatar zurückschicken und weitere Hilfe anfordern. Wenn uns wirklich ein derart großes Heer entgegensteht, wie der Rat sagt, dann helfen unsere Truppen Galor auch nicht weiter.“
„Die Gabrielle nach Kalatar zurückzuschicken ist keine Option“, dementierte Toulessé, „Die Wahrscheinlichkeit ist zu groß, dass sie vor ihrer Rückkehr von Piraten oder einem weiteren Drachen abgefangen wird. Irgendwer scheint sich reichlich Mühe damit zu geben, das Schicksal Fiondrals geheim zu halten, und wenn er sich dazu sogar der Drachen bedienen kann, dann steckt sicherlich mehr dahinter als nur eine orkische Invasion.“
Der Chevalier ließ sich nachdenklich in seinen Sessel zurücksinken, während Kaito feststellte, dass tatsächlich kein Wein mehr da war, was ihn zu dem Entschluss führte, sich in sein neues Gemach zurückzuziehen. Dieses befand sich, ebenso wie der Saal, den er gerade verließ, in der obersten Etage des Stattpalasts, die der Rat eigens für Toulessé und seinen Offiziersstab geräumt hatte.
Nachdem ihm bewusst geworden war, dass er begann, im Sitzen einzunicken, zog sich auch Asbel zurück, sodass Toulessé alleine im Saal zurückblieb.
Langsam nahm er den letzten Schluck aus seinem Weinglas, wobei er den Dreispitz von der Karte schob und den weiten, säuberlich kartographierten Kontinent betrachtete, der nun dem Feind gehörte.
„War es das, was du erwartet hast?“, fragte er sich, während sein Geist über das verwüstete Land hinwegfegte, bestellt mit Leichen und Sklaven, ein Meer des Grauens, aus dem geschleifte Städte wie letzte trotzige Felsen ragten, danach gierend befreit, erlöst, zu werden. So tief versank er in seinen Gedanken, dass er gar nicht bemerkte, wie Taena in den Saal zurückkehrte, wobei sie unsicher einen gewaltigen Bücherstapel balancierte.
Erst ihr angestrengtes Schnauben machte den General auf sie aufmerksam und brachte ihn dazu, aufzuspringen, um ihr zur Hilfe zu eilen. Sofort ergriff er das obere Drittel des Stapels, welches er abtrug, damit sie entlastet wurde.
„Danke…Herr General“, gab sie zurück, während sie beide das neue Quartier der Magierin betraten, wo sich vor leeren Holzregalen etliche Kisten stapelten, aus denen Pergamentrollen, Papierseiten und Bücher quollen.
„Ihr habt also vor, hier zu bleiben? Ich meine, Ihr hättet mich doch hier nicht einquartiert, wenn Ihr wieder zurücksegeln wolltet, oder?“, begann sie, nachdem sie ihre Bücher auf einem überfüllten Tisch abgelegt hatte, „Also nicht dass…dass ich zurück nach Kalatar fliehen wollte, aber ich meine…“
„Ihr wollt wissen, was ich für die Zukunft plane?“, unterbrach der General freundlich, „Wisst Ihr, das heilige Gesetz Iurions lässt mir keine Wahl. Ich bin verpflichtet, vor mir selbst mehr noch als vor dem Herrn, diese Stadt in ihrem Kampf zu unterstützten. Wir werden hier bleiben, bis diese Stadt fällt oder Marquis de Nord mit seinen Schiffen zurückkehrt. Sollte letzteres der Fall sein, so müssen wir sie sicher nach Kalatar zurückbringen. Ich fürchte, ohne unsere Eskorte würden sie niemals dort ankommen.“
„Ihr glaubt, es lauern noch mehr Drachen und Piraten vor der kalatarischen Küste, um Schiffe abzufangen?“, keuchte Taena.
„Davon gehe ich aus. Seht, die Macht, die hinter all dem steht, hat es geschafft, einen ganzen Kontinent zu überrennen und dies über Monate in Kalatar geheim zu halten, außerdem befehligt sie die Orks und selbst die Drachen stehen auf ihrer Seite, was mich zu dem Schluss kommen lässt, dass sie alle Mittel verwenden wird, um ihr Ziel, welches auch immer dies sein mag, zu erreichen.“
„Ja, das leuchtet ein“, stimmte sie zu, „So schlimm es auch ist“, sie verharrte mit glasigen Augen, bevor sie bedauernd und mitleidig fortfuhr, „Der ganze Kontinent… Wer tut nur so etwas?“
„Das gilt es herauszufinden“, sprach der General, dessen Stimme plötzlich nur noch ein eisiger Hauch war, „Und ich schwöre beim gerechten Herrn, dass ich die Verantwortlichen persönlich Iurions heiligem Urteil überstellen werde.“
„Ich denke, sie haben nichts anderes verdient“, murmelte Taena.
„Möglicherweise sollte ihnen schlimmeres wiederfahren, doch derartiger Mittel bedienen wir uns nicht“, zischte Toulessé, bevor seine Stimmlage wieder in die gewohnte Freundlichkeit zurückfand, „Ich sollte nun gehen, wünsche demnach noch eine angenehme Nachtruhe, Madam.“
„Gute Nacht, Herr General“, gab Taena zurück, worauf sich beide voreinander verbeugten, „Ach und danke.“
„Danke?“, der General hob fragend eine Augenbraue.
„Das Zimmer hat ein Fenster. Ich meine, die Kammer im Schiff hatte keins. Ich kann die Nachtvögel hören, das ist schön.“
„Freut mich, dass es Euch gefällt“, flüsterte er, „Vielleicht solltet Ihr mir dennoch nicht danken, wo ich Euch doch in eine Stadt geschleppt habe, die von Orks belagert wird.“
Mit diesen Worten verließ er ihr Quartier und schloss leise die Tür hinter sich.