Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze)
Vigard stand auf der Terrasse der Villa im Hafenviertel, in der einst de Nord während der Besetzung residiert hatte, und reckte sich dem Sonnenaufgang entgegen, der sich durch ein fernes rotes Schimmern über der schwarzen See ankündigte. Obwohl die Dunkelheit die Stadt im eisernen Griff hielt, drang bereits Geschrei in seine Ohren, irgendwo in den über ihm liegenden Etagen stritten zwei Frauen um etwas Essbares, ihre Wortfetzten durchzogen von Kindergeheul. Nach dem Abzug der Ledrianer aus dem Hafenviertel hatten sich die übrigen Bewohner dieser überfüllten Stadt des Anwesens bemächtigt.
„Was einst für Herrscher und ihre treuen Vasallen erbaut wurde, rafft nun der Pöbel an sich. Wir stehen wahrlich vor unserem Ende“, höhnte er leise, während er dem rostbraunen Laub nachsah, das der salzige Küstenwind über die verdreckten Fliesen der Terrasse fegte, und für einen Moment fragte er sich, welchen Sinn die Verteidigung dieser Stadt noch haben sollte.
„Ein Geschwür ist sie, zum Bersten gefüllt mit Feiglingen, Verrätern, Unmut und Ehrlosigkeit. Warum sollte es nicht gerecht sein, dass sie vom Antlitz der Welt getilgt wird?“
Einen schweren Augenblick lang lastete die Frage auf seinem Gemüt, presste mit eisernen Ketten seinen Brustkorb zusammen, dass er kaum noch atmen konnte, bis er sich des Frevels entsann, der jäh durch seine Gedanken geronnen war.
„Nein“, sprach er, „Es gibt keine Frage, keine Wahl. Für mich steht fest, was zu tun ist: Das Richtige; auch wenn ich es nur für mich oder um seiner selbst, vor allem um seiner selbst willen, tue. Oder ich falle bei dem Versuch, dann muss ich diesem Elend wenigstens nicht mehr ins Auge blicken.“
„Es ist wirklich verdammt früh, Vigard“, erschallte eine Stimme hinter ihm und er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Raham war, der gerade ebenfalls die Terrasse betreten hatte.
„Wir haben viel zu tun“, murmelte er kalt.
„So…ach, Vigard ich fürchte…Ihr seid immer noch nicht hinweg über die Audienz…und so“, stammelt Raham.
„Hinweg? Soll ich etwa wegsehen? Soll ich etwa vergessen? Ich bin direkt vor meinen eigenen Augen verraten worden, Raham!“, rief er, wobei er einen Schritt in Richtung des Delioners setzte, „Wir sind verraten worden!“
„Ich fürchte, ich verstehe nicht. Der Herzog hat doch begründet entschieden.“
„Er hat sich mit falschen Argumenten für das Falsche entschieden! Ach was, dieser ekelhafte Speichellecker hatte überhaupt keine Argumente, für ihn zählt nur, was ihm gefällt, nicht was richtig ist, was logisch ist“, spottete Vigard.
„Wenn Ihr meint…“, aus Rahams Stimme sprach Zaghaftigkeit, während er an die Brüstung, somit ein Stück von Vigard weg, trat und ebenfalls in den sich ankündigenden Sonnenaufgang starrte.
„Es ist unerträglich“, fuhr der Leutnant indessen fort, „Es ist einfach nur der blanke Hohn, dass Farruk gegen Montierre und die Prinzessin stimmt, dass Farruk nun unser einziger Verbündeter sein soll.“
„Nun ja, Farruk hat gegen die Durchsuchung der Stadt gestimmt, weil sie, wie er meint, gegen die Freiheit der Bürger verstößt, nicht weil er Filiana und Montierre misstraut.“
„Freiheit“, äffte der Ledrianer, „Das ist es doch, der Fluch der Menschheit! Als de Nord ging, hatte Montierre die Freiheit, jeden Mist anzurichten, und genau das hat er getan.“
„De Nord? Hat Montierre nicht den höheren Titel?“
„Den hat er vielleicht, aber Ihr solltet wissen, dass Adel in Ledria nicht allein Erbrecht ist. Wer einen Titel tragen will, der muss dem Gesetz Iurions Treue schwören, und wenn er diese bricht, verliert er alle Macht und jedes Ansehen. Das gilt für den niedrigsten Junker ebenso wie den König selbst.“
„Warum haltet Ihr das Montierre nicht einfach vor?“, erkundigte sich Raham unter einem leichten Achselzucken.
„Weil es in dieser gottlosen Stadt keine Instanz mehr gibt, die über Montierre richten könnte. Es gibt kein Tribunal aus Paladinen Iurions, wie es in meiner Heimat der Fall ist. Hier tut er einfach, was er will.“
„Hm, vielleicht war der Rat Galors einfach nicht die beste Idee, um diese Stadt zu leiten.“
„Jede Regierungsform, in der sich die Träger der Verantwortung abhängig machen können, von ihrer eigenen Gier, von ihren eigenen Trieben, sei es der Macht, des Geldes oder nur der Lust wegen, ist eine schlechte, eine grottenschlechte Idee! Und wenn diese auch noch von dem gemeinen Fußvolk in ihr Amt erhoben werden, dümmlich, instinktgesteuert und nur auf sich selbst fixiert, dann herrschen feige Schwachköpfe wie Farruk, dann ist sowieso alles verloren!“
„Das mag sein“, murmelte Raham, wobei er die Ränder des Feuerballs betrachtete, der sich langsam über den blass violetten Horizont schob, „Aber das hilft uns nicht weiter.“
„Nein!“, fauchte Vigard, „Was sollte in einer solchen Situation auch noch weiterhelfen, in der man alleine dasteht, umgeben von Feigheit, Schwäche, Gier, Zwietracht und Lügen?“
„Wir könnten den Alchemisten immer noch auf eigene Faust jagen“, schlug der Hauptmann vor.
„Ha, und wo wollt Ihr damit anfangen?“, höhnte Vigard, „Die Durchsuchung der Stadt wäre schon fast unmöglich gewesen, wenn wir sie nur beaufsichtigt hätten. Wenn wir sie selbst ausführen müssten…undenkbar!“
„Tja, wir müssen das nicht alleine machen. Der Schwarzmagier wird sich wahrscheinlich im Untergrund aufhalten, also wird man dort am ehesten etwas über ihn wissen.“
„Meint Ihr?“
„Ja, hört zu: Als Ferren damals nach Ysil suchte, hat er in einer Kneipe namens Blut und Bier mit dem einarmigen Yarbart geredet, vielleicht kann der uns helfen.“
„Ich fürchte, mit diesen Leuten will ich nichts zu tun haben, und sie schon gar nicht mit mir“, wandte der Ledrianer ein.
„Ich könnte alleine gehen“, schlug Raham vor.
„Nein, so leicht werdet Ihr mich nicht los“, lachte Vigard, „Gehen wir!“
„Jetzt?“, ächzte der Delioner.
„So früh wie möglich. Die Zeit spielt gegen uns.“
Damit machten sie sich beide auf den Weg durch die staubigen Straßen Galors, die der Sonnenaufgang mittlerweile in ein sattes Blutrot getaucht hatte. Es dauerte einige Zeit, bis sie es vom Hafen in das delionische Viertel geschafft hatten, in dem die Kneipe stand, wo, wie anscheinend jeden Tag, der alte Einäugige Wache hielt.
Als die beiden Männer in ihren Wappenröcken den Eingang erreichten, erhob er sich aus seinem Korksessel und schielte sie ungläubig mit seinem verbleibenden Auge an.
„Was wollt ihr denn hier?“, knurrte er.
„Keine Sorge, wir wollen nur mit Yarbart sprechen“, erklärte Raham, dessen Worte kaum verklungen waren, als Vigard den betagten Wächter auch schon grob in dessen Sessel zurückstieß.
„Und dabei lassen wir uns sicher nicht vor Euch aufhalten!“, zischte er, „Einen schönen Tag noch, Monsieur.“
Mit diesen Worten betrat der Ledrianer den dämmrigen Schlund des Lokals, fand sich in dem Labyrinth aus Bastwänden wieder, welche die abgedunkelten Sitzgruppen voneinander trennten, hörte das unterschwellige, sinistere Flüstern und erkannte die verengten Augenschlitze, die ihn durch schmale Aussparungen in den Wänden anglotzen.
„Zur Bar“, sagte Raham, der ihm direkt gefolgt war, und deutete auf einen kaum erkennbaren Mittelgang zwischen den Bastwänden, welcher an der von zwei Pechfackeln flankierten Theke mündete. Vigard schritt voran durch die Kneipe, welche ungeachtet der frühen Stunde äußerst gut besucht war, handelte es sich bei den Gästen auch meist nur um jene, die nach einer durchzechten Nacht den Heimweg gar nicht erst angetreten hatten.
Als Vigard und Raham die Theke erreichten, wandte Pia, die dahinter einige Zinnbecher schrubbte, ihren glasigen, müden Blick von der Arbeit ab, worauf er sofort auf den Wappenrock des Ledrianer fiel.
„Ähm, womit kann ich dienen, Herr…Major?“, fragte sie so höflich, wie es ihr übermüdetes Gemüt nur zuließ.
„Tss, Pia“, lachte eine Gestalt aus den Schatten rechts der Theke höhnisch, „Der Bursche ist ein Leutnant, kein Hauptmann. Im Übrigen könnte ich noch einen Rum vertragen.“
Damit schob sich die Person aus der Dunkelheit, ein älterer Mann, der seinen noch verbleibenden Arm ausstreckte, in dessen Hand er ein leeres, kalktrübes Glas hielt.
„Yarbart, nehme ich an“, wandte sich Raham an ihn.
„Yo, das ist richtig“, bestätigte dieser, während Pia ihm ein grünliches Getränk einschenkte, das er angewidert betrachtete.
„Dann haben wir wohl gefunden, was wir suchen“, murmelte Vigard, wobei er den Alten eindringlich musterte.
Dieser leerte sein Glas in einem Zug, bevor er sich mit seiner rauen Stimme wieder an die Offiziere wandte:
„Hab ich was verbrochen?“
Seine Frage löste bei Pia jäh einen höhnischen Lachanfall aus, gegen dessen Lautstärke Rahams zarte Stimme nur schwerlich ankämpfen konnte.
„Wir dachten, Ihr könntet uns bei etwas helfen.“
„Tjo, wenn ich wüsste, warum ich euch helfen sollte. Ich mein, Leute wie ihr macht uns das Leben schon schwer genug.“
„Nun, wir…“, begann der Delioner, bevor Vigard ihn unterbrach:
„Ich gebe Euch einen aus.“
„Ich trinke hier eh aufs Haus, Herr Leutnant“, lachte Yarbart.
„Das mag sein“, erwiderte sein Gegenüber, „aber dann könnte Ihr jedem Eurer Freunde erzählen, dass Euch ein ledrianischer Offizier ein Bier ausgegeben hat. Welcher Ganove kann das schon von sich behaupten?“
„Welcher…na ja…das, das ist ein Angebot. Aber wir trinken Rum, das Bier hier ist ungenießbar“, lachte Alte langsam, was ihm zunächst einen scharfen Blick Pias einbrachtet, den Vigard jedoch vollkommen ignorierte, als er tat, was er versprochen hatte, und zwei Gläser Rum bestellte.
Nachdem er unter versteinerter Miene mit Yarbart angestoßen und dieser sein Glas erneut in einem Schluck geleert hatte, begann Raham damit, ihre Lage zu schildern, wobei er in der Frage endete, ob Yarbart etwas über den ominösen Alchemisten wisse.
„Ein dunkler Alchemist, hä?“, der Alte entblößte beim Lachen einige tabakgelbe Zahnstummel, „Gibt nicht mehr viele von denen, sag ich euch. Die meisten sind tot oder haben uns verraten, denk ich. Aber ja, einen kenn ich. Der war ein paar Mal hier, suchte Unterschlupf, oder so. Hat er aber nicht gekriegt. Ich sag euch, der Kerl stank nach Schwarzmagie.“
„Ja, er hatte diese gruseligen Dinger in den Augen. Zwar nicht viele, aber er hatte sie. War schwer zu sehen.“, stimmte Pia zu.
„Wisst ihr, mit denen wollen selbst wir nichts zu tun haben. Ein paar Jungs haben in rausgeschmissen. Tjo, was soll ich sagen? Zwei von denen waren kurz drauf tot.“
„Das heißt, es gibt den Alchemisten“, schloss Vigard, dessen Augen im Schein der Fackeln glühten, „Wisst Ihr, wo er jetzt ist?“
„Möglich, zumindest weiß ich, wo er hingegangen ist, nachdem wir ihn rausgeworfen haben. Ihr müsst nämlich wissen, dass einer der Kerle, die er umgebracht hat, der Freund unserer hübschen Pia hier war. Und die hat den alten Yarbart also gebeten, den Kerl zu finden. Das war auch nicht schwer.“
„Wieso das?“, ächzte Raham.
„Yo, seine Robe war zwar verdammt dreckig, aber die Xendorstickereien darauf hab ich trotzdem noch erkannt. Da hab ich mir gedacht, ich seh mich mal im Viertel von denen um. Hab nicht schlecht geguckt, als ich den Typen sah, wie er mit einer Wache von der Botschaft geredet hat, als wären sie beste Freunde. Sind gleich in die Botschaft von Xendoras reinmarschiert.“
„Die Xendor“, murmelte Raham, der sich des Berichts von Ferrens Flucht aus dem Anwesen der Thanatoiker entsann. Die Merkwürdigkeit, von der Ferren damals erzählt hatte, fiel ihm erst jetzt wieder ein. Einer der Verräter war ein Soldat aus Xendoras gewesen, obwohl es sich bei den übrigen Thanatoikern wie Verrätern dort um Nogroner und Delioner gehandelt hatte, „Das klingt verdammt vielversprechend.“
„Vielversprechend genug für mich“, bestätigte Vigard und auch sein Glas leerte sich rasch, bevor er es auf das furchige Holz der Theke zurückknallte, „Jetzt können wir mit Montierre reden. Danke, Yarbart.“
„Keine Ursache“, rief der Einarmigen ihm hinter her, wobei er bereits derart schnell aus dem Lokal eilte, dass Raham, dessen letzter Blick noch an Pia klebte, Mühe hatte, ihm zu folgen.
Der Baskat war schnell überschritten und so fanden sie sich vor der ledrianischen Botschaft wieder, wo Raham sich fragte, ob überhaupt Zeit vergangen war, seitdem sie sich auf den Weg gemacht hatten.
Vigard stürmte unterdessen in die Eingangshalle.
„Der Herzog! Ich muss ihn sprechen!“, verlangte er in einer Lautstärke, die auf dem Balkongang der zweiten Etage Türen aufschlagen ließ. Als Raham eintrat vernahm er nur das Klacken der hölzernen Schuhe Amelies, welche über die kunstvollen Marmorfliesen glitten. Der Herzog sei nicht da, erklärte sie. Er habe die Botschaft verlassen, um die Durchsuchung des Stadtpalastes zu beaufsichtigen. Ob sie wisse, wann die xendorische Botschaft durchsucht werde, fragte Vigard.
„Die xendorische Botschaft? Die wurde bereits heute Morgen durchsucht, ohne einen Fund“, war die Antwort und der Leutnant stand nur da, mit heruntergeklappter Kinnlade, kaum noch fähig zu atmen. Seine Mundwinkel zitterten, während er glaubte, sein Herz müsse jeden Augenblick durch seine Rippen brechen. Das Blut wallte blassblau in seinen Adern.
„Wissen sie eigentlich, was sie tun?“, schrie er, in die leere Halle, „Sie haben Galor verraten, sie haben Gott verraten! Aber ich nicht, ich verteidige Iurions Gesetz, auch wenn ich dafür in die Botschaft einbrechen muss!“
Dies waren die letzten Worte, die er sprach, bevor er unter lautem Scheppern seiner schweren Panzerstiefel aus der Botschaft eilte.
„Wo von redet er?“, wandte sich Amelie an Raham, nachdem sie Vigard kopfschüttelnd hinterher geblickt hatte.
„Keine Ahnung. Verzeihung, Madam“, log der Hauptmann und sprintete ebenfalls los.
„Soldaten…“, murmelte die Empfangsdame spöttisch, worauf sie sich zurück zu ihrer Arbeit begab.
Wie ein Wolf, ein schattenhaftes Tier, streifte Neluet durch die dichten Reihen der stolzen Bäume, wobei seine verdreckte Kleidung ganz mit der Umgebung verschmolz. Während er selbst fast unsichtbar war, gab sich die Person, der er folgte, wenig Mühe, sich zu verbergen. Sie eilte mit größter Hast durch den nächtlichen Wald, warf nur manchmal einen raschen Blick über die Schulter, bevor sie wieder für einen Moment hinter einem Baum verschwand. Ab und an verfing sie sich mit ihrer Robe im Gestrüpp, riss sie ruckartig wieder heraus, rannte weiter. Doch obwohl der Assassine die Silhouette des Gesichts schon oft gesehen hatte, war es stets zu finster gewesen, um mehr zu erkennen als ein paar leicht maskuline Züge. So wusste er lediglich, dass dieser Kerl, der sich vor gut einer Viertelstunde aus dem Lager Ferrens und seiner Gefährten entfernt hatte, ein robetragender Mann war.
Gespannt schlich er ihm nach, tiefer in den Wald hinein, weiter weg von der Villa auf dem Hügel, wo Ferren und die anderen an diesem Abend rasteten.
„Jetzt werde ich rausfinden, was dieser Schweinehund genau macht und vor allem wer er ist“, rann es durch Neluets Gedanken, während an seinem geistigen Auge Bilder schwarzer Beschwörungen mit ihren Ranken gespenstisch fahlen Lichtes vorbeiflogen. Doch es sollte anders kommen, als er es erwartete. Seine geschulten Augen erkannten, dass sich die Bäume ein Stück weiter vorne lichteten, wo sich ein morastiger Weg wie ein Bandwurm durch den Wald fraß. Er verlangsamte seine Schritte, sah er doch, dass die Person, der er folgte, am Wegesrand einhielt.
Auf sicherer Distanz stoppte auch er und verbarg sich im Dickicht, über das sich eine jähe Totenstille gelegt hatte. Es war kalt, finster und ruhig, während er den Flüchtigen beim Nichtstun beobachtete, bis er schließlich ein schwaches, gespenstisches Leuchten ausmachen konnte, das sich aus dem Waldstück auf der anderen Wegseite näherte. Die fahl grünen Strahlen offenbarten alsbald mehrere finstere Gestalten, die sich um die Lichtquelle gruppierten und sich langsam durch die Reihen der Bäume bewegten. Schließlich erreichten sie den Weg, eine große Gruppe, fast dreißig Männer, den Sanduhrsymbolen auf ihrer dunklen Kleidung nach größtenteils Thanatoiker, einige äußerst missgestaltet Orks und zuletzt ihr Anführer, Tymaleaux, dessen eingefallene Gesichtszüge im Licht seines diabolischen Schmuckstücks fahl glommen.
Als die Schar der Todesanbeter sich vor dem Unbekannten einfand, formierte sie sich augenblicklich und salutierte ehrerbietend, während die blasshäutigen, orkischen Entartungen wie angekettete Hunde in der nahen Umgebung umherstreiften.
„Kelrayass!“, schallte es zum Gruß aus dutzenden Kehlen, worauf Neluet ein leichtes, stolzes Nicken des Unbekannten vernahm.
Tymaleaux trat vor, gefolgt von einem schattenhaften Mann, gekleidet in eine schwarze Lederrüstung und dunkle Bandagen, der nicht von seiner Seite wich.
„Schön, dass ihr hier seid“, lobte Kelrayass, bevor seine Stimme in eine unmenschliche, grausame Kälte verfiel, die jedem, der sie hörte in Fleisch und Geist schnitt, „Ich hatte schon befürchtet, ihr würdet nicht mehr kommen.“
„Der Wald ist hier sehr dicht und der Regen der letzten Tage hat die meisten Wege unbrauchbar gemacht. Wir konnten nicht schneller vorankommen“, erklärte Tymaleaux‘ Begleiter untertänig, „Dennoch bitte ich zutiefst um Verzeihung, Meister.“
„Euch sei verziehen“, entgegnete der Schwarzmagier, „Noch ist nichts verloren.“
„Er ist also noch da?“, erkundigte sich Tymaleaux.
„Allerdings“, zischte sein Gegenüber missbilligend, „Schläft nichtsahnend in seinem gepolsterten Bett. Oh, ich kann es kaum noch erwarten, mich endlich für all das zu revanchieren, was er mir angetan hat, ohne überhaupt davon zu wissen. Sein Schmerz und sein Leid werden mir Entlohnung für all die Pein sein, die mein Weg von mir forderte, für all die Opfer, die ich brachte.“
„Weist mir den Weg!“, verlangte der entstellte Major.
„Der Herr gibt hier die Befehle!“, blaffte sein Begleiter, wobei er seine bandagierte Hand auf den Griff seines boshaft gezackten Schwertes legte.
„Wie Ihr meint“, entgegnete Tymaleaux, „Werde ich dennoch erfahren, wo er ist?“
„Oh ja, das werdet Ihr“, bestätigte Kelrayass, dessen grotesker Tonfall von makabrer Vorfreude kündete, „Sie befinden sich in einer Villa gleich östlich von hier auf einem Hügel. Wir werden ihn dort stellen und unser Werk zu Ende bringen.“
„Was ist mit den anderen?“, wollte einer der Thanatoiker wissen.
„Menschliches Ungeziefer! Zerquetscht es!“
Neluet hatte genug gehört. Diese Kämpfer würden Ferrens Zug überfallen und gnadenlos niedermetzeln, dessen war er sich sicher, und somit wurde es ihm zur Gewissheit, dass es keine Zeit zu verlieren gab.
„Ich werde wohl noch schneller sein als Thanatos‘ verdammte Speichellecker“, lachte er leise aber höhnisch, bevor er seinen Feinden einen letzten Blick zuwarf, aufsprang und losrannte. Seine Deckung spielte keine Rolle mehr, in dem Moment, als er sich aus dem Dickicht erhob, hatte Lund ihn entdeckt.
Schreie, das Klatschen schwerer Stiefel im Matsch, das verzerrte Grunzen der orkischen Entartungen, all das hallte ihm hinterher, doch seine alten Füße trugen ihn zu schnell davon, als dass auch nur einer der Verfolger ihm hätte gefährlich werden können. Nur aus dem Augenwinkel sah er noch die Gestalt Kelrayass‘, die umhüllt von wabernden, schattenhaften Schleiern, magisch beschleunigt durch den Wald flog. Gegen diese unglaubliche Schnelligkeit musste selbst er kapitulieren. Ein einziger Blick hatte gereicht, um zu wissen, dass der Schwarzmagier in wenigen Sekunden auf derselben Höhe sein würde wie er.
„So endet es, also“, murrte er, wobei er sich bereits als ein verkohlter Aschehaufen am Boden dieses schlammigen Waldes sah, „Na ja, ich werde ihm einen guten Kampf bieten.“
Das dachte er noch, bevor die schattenhafte Gestalt einfach an ihm vorbei raste, zwischen ihnen nur wenige Bäume, und doch schien Kelrayass keinerlei Notiz von ihm zu nehmen. Für einen Moment hielt er ein, verblüfft, verwirrt, verstört, wie man es nur sein konnte, wenn man gerade dem Tod ins Auge geblickt, aber nicht seinen eisigen Griff gespürt hatte. Ein Moment der vollkommenen Starre, Schock, eine Realität, die der Logik widersprach, etwas, das nicht sein durfte.
Realität. Sie holte ihn ein wie eine Flutwelle, brach über ihn hinweg, die Orks, die Thanatoiker, Tymaleaux, die immer noch drohende Gefahr. Sein Leben war verschont worden, damit es fünf Minuten später enden konnte.
Er musste losrennen und so rannte er.
Die Bäume zogen an ihm vorbei, konturlose Silhouetten, das Gestrüpp rankte sich um seine Stiefel, er riss es mitsamt dem modrigen Boden heraus, trampelte alles nieder, was ihm im Weg stand, stolperte nie. Der eiserne Wolf stampfte durch eine Schneise der Verwüstung, bis sich vor ihm Zweige und Nadeln auftaten, sodass sich seine Sicht über den gerodeten Hügel erstreckte, auf dessen Gipfel die Villa thronte, in der seine Verbündeten rasteten.
Während er über eine schlammige Wiese zu dem gepflasterten Weg eilte, der dort hinaufführte, brüllte er sich die Seele aus dem Leib in der Hoffnung, die Nachtwache würde ihn hören. Tatsächlich kam ihm auf halbem Wege Janus entgegen, der beim Laufen fast über seine Kutte stolperte.
Als er den Neuankömmling sah, griff er zunächst nach seinem Kampfstab, nur um im selben Moment das wölfische Gesicht zu erkennen.
„Neluet? Ihr seid das? Was macht Ihr denn hier?“, stammelte er.
„Keine Zeit für Fragen“, keuchte der Assassine, „Weckt die anderen! Wir werden angegriffen.“
„Angegriffen?“, ächzte der Mönch, der wie vom Donner gerührt war.
„Ja, verdammt! Nun macht schon!“, herrschte Neluet ihn an und zog auch schon an ihm vorbei, weiter zur Villa.
Wie ein Sturm hechtete er durch die Schlafräume, riss die Gefährten aus ihren Träumen und ließ sie wieder allein, während er selbst mit jedem Zimmer von größerem Unmut ergriffen wurde.
„Alle sind da“, stellte er fest, als er mit Baraj den letzten geweckt hatte, „Kelrayass, dieser Hund! Das war also sein Plan; hierher zurückzukehren, seine verfluchte Verkleidung wieder anzulegen und uns beim Angriff in den Rücken zu fallen. Als ob das nötig wäre! Was bei Iurions bluttriefender Klinge fürchtet er?“
„Ariona!“, hallte Truzos‘ Ruf durch die Hallen der Villa und riss den Assassinen wieder aus seinen Gedanken, „Ihr kommt zur Westseite, um mich zu unterstützen! Sucht Euch ein Fenster und verbrennt alles, was Ihr seht, zu Asche. Ilar! Ihr bleibt in der Haupthalle und helft den anderen, falls der Feind durchbricht.“
„Durchbricht?“, höhnte Ilar, „Die überrennen uns. Wir sind tot, verdammte Scheiße. Beschissene Mission. Ach, wär ich doch in Skatria geblieben, dann läge ich jetzt bei einer hübschen Hure und…“
„Ilar!“, blaffte Slemov, wobei er ihm die noch zu einem Viertel volle Flasche mit dem Brandwein aus Grunvart zuwarf, „Reiß dich zusammen!“
„Ja“, knurrte er, nachdem er sie in einem Zug geleert hatte, dass ihm die Reste noch von den Lippen tropften und übers Kinn rannen, „Treten wir ihnen in den Arsch!“
Somit stürmten sie die breite Treppe hinab in die große Eingangshalle, während Ariona alleine im ersten Stock blieb. Unten angekommen trennte sich auch Truzos von ihnen, um ihre Feinde von einem Fenster in einem angrenzenden Raum aus unter Beschuss zu nehmen.
Damit begann eine bange Zeit des Wartens.
So stand Ferren da, Seite an Seite mit Baraj, Slemov, Ilar, Neluet und Janus.
Der Nogroner, auf dessen Schultern eine leichte Lederrüstung lag, die er aus der Waffenkammer des Anwesens mitgenommen hatte, in dem sie vor zwei Tagen Rast gemacht hatten, hielt seinen Speer fest in den kräftigen Händen, Slemov in ebenfalls neuer Kettenrüstung führte Tymaleaux‘ Schwert, Janus machte mit seinem Kampfstab bewaffnet und unter trüber Miene ein paar letzte Dehnübungen, Neluet schleifte seine beiden glänzenden Dolche über einander, Ilar starrte grimmig auf die Planken der doppelseitigen Eingangstür, wohin der Blick des Leutnants ihm folgte. Schweres Holz mit Eisen beschlagen, wie lange würde es halten, bis der Tod daraus hervorbrach, fragte er sich.
„Der Tod“, ein jähes Schaudern überkam ihn, „Was erwartet mich?“
Für einen Moment sah er sich herausgesogen aus der Welt, aus der Wirklichkeit, formlos treibend in der unendlichen Schwärze des Alls zwischen all den Sternen und Planeten, in ewiger Freiheit und ewiger Einsamkeit, reisend durch das Unbekannte von Welt zu Welt, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Doch dann stieß er pfeilschnell in eine schwarze Wand und Finsternis waberte um ihn, die vollkommene Leere, die aus nicht existierenden Erinnerungen an die Zeit vor seiner Geburt echote. Chaos, Entropie, Irrealität, Unlogik.
Das Nichts, dieses unvorstellbare Wort, in dem es nicht einmal mehr Schwärze geben konnte.
„Ist es das, was uns erwartet? Und wenn ja, was zählt dann noch? Wofür sind wir hier? Ist das Leben in dieser Gewissheit nicht eine endlose Qual, Folter selbst? Eine überlange Haftstrafe vor der sicheren Hinrichtung. Was ändert es dann, wenn ich hier sterbe, oder als ein alter Kauz in einem gepolsterten Bett meinen letzten Atemzug aushauche? Was ändert es, wenn mich das Nichts erwartet?“, dachte er und mit diesen Gedanken umschlang ihn eine unbeschreibliche Angst, die ihm den Magen umdrehte und als der pure Ekel durch seine Eingeweide kroch, dass er einfach nur die Augen verdrehen und in Ohnmacht fallen wollte, nur um nicht mehr an das mahnende Nichts denken zu müssen, das so viel schrecklicher war als jede Folter, jeder Krieg, als all der Schmerz und alles Leid auf der Welt.
„Nein!“, herrschte er sich an, „Das Nichts kann es nicht geben. So kann es nicht sein! Was ist mit der Magie. Diese ganze Seelenhexerei, so schrecklich sie auch ist, sie ist der Beweis. Wir haben Seelen und die tragen uns in die Ewigkeit!“
„Ewigkeit“, echote das Wort aus de Nords Rede durch seinen Schädel, wobei es wie ein Schwert den Schleier zerriss, hinter dem Iurions heiliges Himmelreich heller als die Sonne selbst strahlte, wo an einer nie endenden, goldenen Tafel die Helden aller Zeitalter in ewiger Glückseligkeit saßen und ihren nie verwelkenden Ruhm feierten.
In diesem Moment verstand er, was der Marquis gemeint hatte, als jene Worte aus seinen Lippen gebrochen waren:
„Was rechtschaffen ist, wird niemals fallen.“
Der Spruch hallte mit solcher Eindringlichkeit durch seinen Kopf, dass er schließlich leise aus seinem Mund flüsterte.
Ferren hob sein Schwert.