Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze)
„Für die Gedanken von Leuten wie Truzos“, schallten Hohn und Enttäuschung in ihr, wobei sie sich in die weichen Kissen zurück sinken ließ. Umfangen von sanfter Seide überwältigte sie die Müdigkeit, die sich an den langen Märschen des vergangenen Tages genährt hatte. Kaum noch schaffte sie es, sich noch einmal aufzuraffen, um die letzten Tätigkeiten zu vollbringen, das Fenster zu öffnen, die Robe abzulegen, sich dann unter der Samtdecke zu verkriechen und den Schlaf zu empfangen.
Plötzlich fand sie sich in der prunkvollen Eingangshalle des Anwesens wieder, wo ihre Gefährten, auf zwei Reihen verteilt, jeweils vor den Wänden standen, kerzengerade, aufrecht und reglos wie steinerne Statuen. Der Regen klatschte gegen die kristallgläsernen Scheiben am Ende des langen, breiten Gangs, vor denen eine letzte Gestalt mit ausgebreiteten Armen stand.
Er war es, jener maskierte, finstere Mann, den sie bereits in ihrer ersten Vision gesehen hatte.
„Du!“, sprudelte es aus ihrem Mund, worauf sich das eisige, leise Lachen des Mannes in ihre Knochen fraß, „Kelrayass!“
„So, du glaubst also meinen Namen zu kennen…er ist nur eine Farce, ein hohles Wort, leer und bedeutungslos“, jede Silbe seiner kalten, unmenschlichen Stimme brannte wie ein Schnitt in ihrem Ohr, was sie jedoch nicht davon abhielt, unbeirrt auf ihn zuzugehen.
Sie sah ihn nun deutlich, eine hagere Gestalt, umhüllt von schwarzen, zerfetzten Lumpen, unter dessen Kapuze nur Schwärze lauerte.
„Das ist dein Ende! Du stehst mit dem Rücken zur Wand!“, höhnte sie.
„So naiv, so arrogant“, hauchte er ein leises Flüstern zurück, worauf sie sich mit aller Macht auf ihn stürzte.
Doch statt in Haut, Fleisch und Knochen griffen ihre Hände nur in eisige Schatten, die ihren Finger mühelos entglitten und an ihr vorbeiflogen. Sofort wirbelte sie herum, wobei sie eine jähe Angst beschlich, der Schwarzmagier könne nun genau hinter ihr stehen.
Die Halle jedoch lag mit ihren Gefährten, die mehr denn je wie Statuen wirkten, in gähnender Leere vor ihr. Blendend stach die schneidende Gewissheit in ihre Augen, dass Kelrayass einfach verschwunden war.
Hektisch flog ihr Blick an den Wänden entlang, sodass sie fast nicht bemerkte, wie sich Ilar aus den Reihen seiner Gefährten löste und mit mechanischen Bewegungen auf den purpurnen Teppich trat, der über die Mitte der Halle verlief.
„Das war echt eine verschissene Idee!“, tönte der Novize, nachdem er etwa einen Meter vor ihr eingehalten hatte.
„Was?“, zischte sie, während sie Ilar durchdringend ansah, der schwankte, als wäre er nur eine von Fäden gehaltene Marionette.
Sekunden später brach der schwarze Schatten aus dem Gesicht des Skatriers heraus, verschlang ihn gänzlich, bis nur noch die verhüllte Gestalt Kelrayass‘ vor ihr stand.
„Deinem Schicksal entrinnen zu können!“, antwortete der Schwarzmagier, worauf Ariona panisch die Faust in seine Brust schlug.
Ein lautes Scheppern ertönte, als die Gestalt in tausende Scherben schwarzen Glas‘ zersplitterte, welche klirrend zu Boden regneten. Erst nachdem auch die letzte still auf dem Boden lag, ertönte erneut Kelrayass‘ eisiges, leises Lachen.
Ariona sah sich hastig um, bis sie erkannte, dass es Truzos war, aus dessen Kehle das Gelächter schallte.
„Ich wusste es!“, schrie sie.
„Was wusstest du, Novizin? Dass du auch nicht besser bis als der Rest der Welt, dass dein Urteil nicht mehr zählt als das eines skatrischen Bauernmädchens, einer nogronischen Hure!“, spottete der Serpendrianer, bevor auch er die Gestalt Kelrayass‘ annahm, die von ihren zerfetzten, schwarzen Tüchern umweht wurde.
„Du bist nichts!“, höhnte das Gespenst, während ein unnatürlicher Drang der Novizin bemächtigte, sie zwang, zuzuschlagen. In jenem gesichtslosen Schrecken hatte sich alles Leid, das sie gesehen, aller Hass, den sie gespürt, und alles Unheil, das Fiondral, das der Welt widerfahren war, personifiziert. Für sie gab es nur einen Schluss, der wie ein Befehl gellend durch ihren Kopf hallte: „Du musst ihn töten!“
Mit diesem Gedanken schlug sie jäh zu, doch erneut umfasste nur Kälte ihre Faust, die Schatten zersplitterten und das schwarze Glas prasselte auf den Boden.
„Wie weit würdest du gehen? Was, wen würdest du dafür opfern?“, Kelrayass‘ Stimme klang aus etlichen Mündern, und als sie sich umsah, war jeder ihrer Gefährten zu seinem Ebenbild geworden. Langsam gruppierten sich seine Spiegelbilder um sie, ein Kreis, eine Schlinge, die zugezogen wurde. Plötzlich war der Schatten überall, wirbelte um sie herum, raubte ihr jede Sicht, betäubte mit seiner eisigen Kälte all ihre Sinne, dass das Blut ihr zum Hals pochte und die Panik an all ihren Muskeln zerrte.
Wild und blind schlug sie um sich, hörte das Glas rieseln, vertrieb die Kälte und die Schwärze, bis sie schließlich hastig nach Atmen ringend in Mitten eines Scherbenhaufens kniete.
Als sie die Augen wieder aufschlug, stand nur noch Ferren vor ihr, der sie mit fragendem, bitterem Blick ansah.
„Was hast du getan?“, drangen seine Worte wie durch einen Nebel zu ihr.
„Ich…“, begann sie, während plötzlich Bewegung in die Scherben kam, sodass diese sich wieder zusammensetzten und die toten Leiber ihrer Gefährten formten. Der tote Blick in ihren leeren Augen raubte ihr alle Worte, dass sie nur noch still und stumm ihren Blick heben konnte, wobei ihr das Schwert des Leutnants direkt entgegenragte.
„Du hast sie alle umgebracht“, sprach er, dem eine einzige Träne über die Wange rann, „Und ich habe dich unterstützt. Nein! Ich kann das nicht mehr tun, ich kann damit nicht weiter leben. Das ist das Ende!“
Während die Träne zu Boden fiel, drehte er das Schwert, sodass die Klinge nun auf seine eigene Brust gerichtet war.
„Nein!“, schrie Ariona, wobei sie aufspringen, ihm zur Hilfe eilen, ihn aufhalten wollte, doch eine jähe Machtlosigkeit hatte jeden ihrer Muskel gelähmt, sodass sie gezwungen war, mit anzusehen, wie der Leutnant das Schwert unter einem markerschütternden Schmerzensschrei in sein eigenes Fleisch rammte.
Kaum war die Klinge in ihn eigedrungen, zersplitterte auch sie, und der Leutnant wurde von Schatten umhüllt, denen eine wohlbekannte Ungestalt entwuchs.
Vom makabren Schauspiel gebannt, war Ariona entgangen, dass eine nachtschwarze, schattenhafte Masse durch die Tür der Eingangshalle gequollen war, Wände und Boden verschluckt und sie in einem See der Finsternis zurückgelassen hatte.
„Meine Schlinge zieht sich zu; Ich werde dich ergreifen und zerquetschen!“, peitschte Kelrayass Stimme, bevor die Schwärze sie gänzlich verschlang.
Tymaleaux Hand zerquetschte die Mücke an seinem Hals, womit sie mitsamt ihres nervtötenden Summens erstarb, sodass das stetige Plätschern des Regens wieder in seine Ohren flutete, durchzogen von seinem eigenen kalten, hohlen Lachen. Er war fahl, die Haut erblasst, ergraut, der silberne Brustpanzer zerkratzt, braun vom Schlamm, die Augäpfel schwarz, sodass man keine Iris, keine Pupille mehr ausmachen konnte, das Haar ohne jede Farbe, tonlose Fäden, die im gespenstischen Licht seines Schmuckstücks fahl grün leuchteten. Aus seinen entstellten Augen blickte er von der Böschung hinab, an der zwischen mächtigen Wurzeln und Stämmen sowie dem alles überwuchernden Efeu seine Untergebenen rasteten. Viel konnte er jedoch nicht erkennen, da Nacht und Regen das gesamte Gebiet zu einer Kluft schwärzlichen Glanzes gemacht hatten, aus der lediglich einige Schatten wie grotesk verzerrte Ungestalten emporragten. Die wenigen Orks suhlten sich im Schlamm, wohingegen die Menschen unter den schweren Ästen der majestätischen Bäume Schutz vor Nässe und Kälte suchten, den Major aber scherte beides nicht.
Die Macht des Schädels hatte jede schwächliche Menschlichkeit aus ihm herausgefegt, jede Emotion, jeden Schmerz, jeden Makel, sie hatte nur Macht zurückgelassen, Macht und ein Ziel, ein einziges, klares Ziel, befohlen von der leisen Stimme Aphaelons, die schwach wie ein fernes Echo in seinem Schädel klang, wobei sie doch eindringlicher war, als jede Weisung, die ihm je ein anderer Mensch erteilt hatte.
Umfangen vom Tropfen des Regens versuchte er, dieser harfengleichen Stimme zu lauschen, aber alles, was er vernahm, war ein leise röchelnder Atem.
„Lund“, zischte er gedämpft, wobei er einen Blick über die Schulter warf und eine finstere Gestalt erkannte, die durch den Efeu kroch, „Ihr stellt mir nach?“
„Das ist, was der Herr mir auftrug“, antwortete eine knirschende Stimme, während seine Augen in der Dunkelheit das pockennarbige, verdreckte Gesicht eines Mannes ausmachten, der sich ihm mit gebeugtem, geierartigem Gang näherte. Seine durchnässte Lederrüstung glänzte schwach im fahlen Licht der Runen, welche in das bösartig gezackte Langschwert geätzt waren, das er blank am Gürtel trug.
Kaum hörbar setzte er sich über die Ranken hinweg, dass er wenig später direkt vor Tymaleaux stand, dem sich sogleich das gesamte Ausmaß der Narben präsentierte, die Lunds kahl geschorenen, ohnehin schon hässlichen Schädel entstellten. Der Major wusste, dass der Mann einst unter Sandhaut gelitten hatte, einer ebenso grausamen wie tödlichen Krankheit, welche die Haut bröckeln ließ, als bestünde sie aus Sedimentgestein. Nur Kelrayass war es gelungen, ihn kurz vor dem Endstadium von dieser Plage zu heilen, was ihn zu einem treuergebenen Gefolgsmann des obersten Thanatoikers gemacht hatte.
„Ich brauche kein Kindermädchen“, höhnte der Schädelträger.
„Das glaubt Ihr“, widersprach Lund, wobei er mit seiner von dunkelgrauen Bandagen eingehüllten Rechten auf Tymaleaux deutete, „Mein Meister sieht das jedoch anders.“
„So“, grunzte der Major, obwohl er sehr wohl wusste, dass Kelrayass ihm seine Macht nicht ohne Beschränkungen auferlegt hatte. Denn für den Führer des Dunklen Kults war Aphaelon, die Quelle seiner neugewonnen Kraft, ein unnötiger Ballast geworden, ein Makel, jemand, der sich einen zu großen Fehler geleistet hatte, als dass man ohne Schande von ihm hätte sprechen können, und doch war er es gewesen, der Tymaleaux jene unbeschreibliche Macht verliehen hatte.
Eine Kraft, die selbst Kelrayass fürchtete, weshalb er Lund und die übrigen Thanatoiker nicht nur mit der Unterstützung des Majors, sondern auch mit seiner Überwachung betraut hatte.
Ein Hohn war es, dass Lund seine Klinge blank trug, eine der wenigen Waffen, die seiner Macht ein Ende bereiten konnten.
„Packt Euer Zeug zusammen!“, befahl der entstellte Thanatoiker.
„Zeug?“, murrte Tymaleaux, von dem jedes weltliche Bedürfnis abgefallen war.
„Ja, was auch immer ihr mit Euch führt. Wir ziehen in Kürze weiter. Der Ring um unsere Feinde schließt sich!“
In Mitten des von hölzernen Plankenwänden eingefassten Chaos‘, welches nur spärlich von einer einzelnen Öllampe beleuchtet wurde, saß eine junge Frau, die eine marineblaue Leinenrobe trug, an einem breiten Holztisch, der fast den gesamten Raum ausfüllte.
Während sie eines von etlichen, entropisch über die Kammer, welche sich tief im Bauch der Hydra befand, verteilten Pergamenten studierte, drehte sie spielerisch mit dem Zeigerfinger ihrer Linken eine Locke in ihr dunkelbraunes, gescheiteltes Haar, welches ihr bis auf die Schultern fiel und ihr hübsches Gesicht umrahmte, dessen einziger Makel die etwas zu breite Kieferpartie war. Ihre Augen fuhren über die Zeichen auf dem Papier, ohne dass ihr Geist sie wirklich wahrnahm, viel zu durchsetzt war er von all dem, was nach ihrer Abreise geschehen war.
Für einen Moment sah sie den Stolz in den stählernen Augen der Soldaten, als sie auf dem Deck der Hydra aufmarschiert waren, um General Toulessé die Treue zu schwören, dann blickte sie in die Tiefen der rauen See, wo sich noch die Reste jener gewaltigen Explosion spiegelten, die sowohl den Drachen als auch ihr drittes Schiff, die Victoria, verzehrt hatte. Mit dem Erscheinen des Drachen hatte Toulessés Vision den ersten Schritt aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit gemacht, dass es eben keine Naturgewalt gewesen war, die seit fast einem Jahr jegliche Kommunikation mit Fiondral verhinderte.
„Vom Meer verschluckt“, war tatsächlich die Antwort, die man von den meisten Menschen Kalatars bekam, wenn man nach Fiondral fragte, eine Antwort, die sie weder hatte glauben können, noch glauben wollen, und so war es für sie ein Segen gewesen, dass die einzigen, die sich jenem Geheimnis hatten annehmen wollen, den Iurionisten, allen voran Toulessé, sie mit auf diese Mission genommen hatten. Eine Mission, die sich schon im Vorfeld als weitaus schwieriger dargestellt hatte, als angenommen. Ein einzelner Mann verfügte weder über die Truppen noch über die Schiffe, die nötig waren, und so hatte sich Toulessé an seine größten Befürworter, den Iurionischen Orden sowie die Herrscher der Alten Königreiche gewandt. Diese waren seiner Aufforderung, ihn zu unterstützen, sogar äußert gerne nachgekommen, obwohl sich auf Kalatar ein Krieg anbahnte.
„Die Vereinigung ist ein Scherz“, ging es Taena durch den Kopf, als sie sich der ewigen Streitigkeiten zwischen den alten Königreichen und den Oppositionsstaaten entsann, die sich kurz vor ihrer Abreise zugespitzt hatten. Ausgangspunkt für diese Lage war der nogronische Bürgerkrieg gewesen, in dem seit der Zerschlagung des Dunklen Kults und der Vereinigung Nekromanten, demokratische Separatisten und die konservativen Monarchisten gegeneinander kämpften.
Unter der Hand hatten natürlich die Elipfer die Separatisten und die Serpendrianer die Monarchisten unterstützt, welche sich zuletzt den zivilisierten Westen Nogrons mitsamt der Hauptstadt hatten sichern können. Die Separatisten waren in den östlichen Dschungel zurückgedrängt worden, wo sie sich wohl oder übel mit den Nekromanten hatten verbünden müssen, worauf die Alten Königreiche die Elipfer der Unterstützung letzterer beschuldigt hatten, woraus die neusten Spannungen entwachsen waren.
„Die Vereinigung existiert nur noch auf dem Papier“, dachte Taena, wobei sie der festen Überzeugung war, dass auf Kalatar bereits wieder die Schmiedefeuer glühten, um Äxte, Schwerter, Kolben, Rüstungen für einen neuen Krieg zu fertigen, dass Konstrukteure mit ihren Holzhämmern bereits an Maschinen arbeiteten, die Städte zerstören sollten.
Was auch immer sie in Fiondral finden würden, fürchtete sie, würde nicht dazu beitragen, Frieden zu stiften. Allein der Angriff des Drachen sprach in ihren Augen vollkommen dagegen, war es doch allgemein bekannt, dass sich jene majestätischen Bestien vor den Menschen verbargen, seit diese sie fast ausgerottet hatten.
„Der Drache hat sicherlich nicht ohne guten Grund versucht, uns zu vernichten, und wir waren bestimmt nicht die einzigen, die er angegriffen hat, aber die einzigen, die sich wehren konnten“, erkannte sie, wobei sie all jener kühnen Abenteurer und unschuldigen Fischer gedachte, die sich entweder einfach nur zu weit von der Küste Kalatars entfernt hatten oder wahrlich nach Fiondral hatten segeln wollen, „Das ist ihnen also wiederfahren. Möge Iurion gnädig mit ihnen sein.“
Je länger sie darüber nachdachte, umso stärker drängte sich ihr aus all dem Leid, all den Kontroversen die Frage nach dem Warum auf, eine Frage, welche die gängigste Meinung auf so elegante Weise umging. Wer davon ausging, Fiondral sei vom Meer verschluckt worden, fragte nicht, ob es dafür auch einen Grund gab. Es war einfach so.
„Es gibt für alles einen Grund“, hatte für sie festgestanden, schon lange bevor sie sich den Iurionisten angeschlossen hatte.
Sie räkelte sich auf ihrem hölzernen Stuhl, streckte die Arme aus, welche die Müdigkeit beschwert hatte, gegen die sie bereits seit Stunden einen schier aussichtslosen Kampf focht, wie sie erkennen musste, als sie auf ihre eigenen Gedankengänge zurückblickte.
„Ich habe über die Vergangenheit nachgedacht, aber nicht über meine Aufgabe“, wurde ihr klar, wobei sie ihren müden Blick wieder auf die Schriftzeichen der Pergamentrolle senkte. In krakeliger Handschrift berichtete ein augenscheinlich wenig gebildeter Ritter aus Xendoras von der Erstürmung eines Thanatoikerverstecks, eine über 500 Jahre alte Erinnerung, konserviert in plumpen Worten auf rissigem Papier, alles andere als ein Relikt für die Ewigkeit.
Doch für sie war es nichts, das sie nicht schon wusste.
Nur ein Faden im Netz, welches die Geschichte eines einzelnen Mannes um Grausamkeit und Tod gesponnen hatte, Aphaelons Geschichte. Nach all den Seiten, die sie gelesen hatte, lag sie nun vor ihr, entfaltet wie die Flügel eines ruhenden Schmetterlings. All die Bücher, die in den Regalen an den Wänden schlummerten, die Schriftrollen, die sich über ihren Tisch verstreuten, erzählten von dem Werk des Mannes, der Kalatar beinahe zehn Dekaden lang in seinem eisernen Griff gehalten hatte, sie erzählten von seinem Aufstieg als glorreicher Zauberer, dem Fall in die Schwarzmagie, der Erschaffung des Dunklen Kluts durch seine Hand sowie der endlosen Gräueltaten, die noch Jahrhunderte später nicht vergessen werden sollten und vor denen jede andere Facette seines Andenkens zu einem stumpfen Schatten verblasste. Hunderte Bücher, Phrasen seiner Bewunderer, Anbetungen durch die Thanatoiker, Hasstiraden derer, die ihn gejagt hatten, kühle, iurionistische Urteile, sogar angstvolle Tagebücher schutzloser Bauern, sie alle stimmten in den gewaltigen Abgesang auf Aphaelons dunkle Taten ein, ohne jemals den Menschen hinter Prophezeiungen, Entführungen, Glauben, Fanatismus, Morden auch nur eines Wortes zu würdigen.
Am Ende aller Zeilen, Kapitel und Seiten musste Taena sich eingestehen, dass sie nichts über Aphaelon wusste und dass eben seine beiden größten Geheimnisse verschleiert blieben, sein Verschwinden wie jene letzte Prophezeiung, die er kurz davor gemacht hatte. Er war wie ein Baum, von dem man nicht wusste, wer ihn gepflanzt und wer ihn gefällt hatte, wie die Sterne, die geboren wurden und implodierten.
„Es gibt keinen Grund“, schlug es wie eine Ohrfeige in ihr Gesicht.
„Es muss einen Grund geben“, gestand sie sich ruhig, wobei sie die Pergamente beiseiteschob, „nur dass ich ihn nicht verstehe.“
Sie hatte auf ihrem Tisch ein dünnes Buch freigelegt, welches wenige, aber hohe Seiten besaß. Sein Einband aus rissigem, dünnen, schwarzen Leder machte einen durchaus unguten Eindruck, sodass Taena sich besonders im Hinblick auf die Herkunft dieses Werkes schon oft gefragt hatte, von welchem Wesen das Leder des Einbands wirklich stammte, und viel zu oft ertappte sie sich bei dem furchtsamen Gedanken, es könne sich um menschliche Haut handeln.
Langsam fuhr sie mit den Kuppen ihrer Finger über den merkwürdigen Stoff, bevor sie den Einband aufschlug und den spärlichen Inhalt offenbarte. In pechschwarzer Kohle zierte eine feinsäuberliche Handschrift mit wenigen Worten die erste Seite:
"Um zu erklären, was nicht zu erklären ist - 1. Eisweihe. 253tes Jahr der Dynastie Serpentis.“
Danach folgte nichts, außer 20 leeren Seiten.
„Wie lange habe ich diesen Satz nun schon angestarrt?“, fragte sie sich, wobei sie auf die etlichen Stunden zurückblickte, die sie seit ihrer Abreise bereits in dieser Kammer verbracht hatte. Von einem jähen Einfall ergriffen, wühlte sie erneut in den Pergamentstapeln, ohne dabei fündig zu werden, da sie leise Worte, die durch die schwere, hölzerne Tür ihres Refugiums flüsterten, allzu früh aus ihrer Suche rissen. Jemand unterhielt sich mit den Soldaten, die den Raum Tag und Nacht bewachten, nicht weil sie darin eingeschlossen war, sondern weil sie zu jenen beiden Personen gehörte, die einzig befugt waren, ihn zu betreten.
„Ist es schon wieder Zeit für den Wachwechsel? Ich meine, ich…habe keine Ahnung, wie spät es ist“, gestand sie sich selbst ein, worauf sie ein einzelner Satz, der zu ihr schallte, mit Gewissheit erfüllte:
„Zu Befehl, Herr General“, sprach einer der Soldaten, welcher nur einen Augenblick später die Tür öffnete. Aus der Dunkelheit des dahinterliegenden Ganges betrat Toulessé, immer noch Kettenrüstung und Waffenrock tragend, die Kammer, wobei er seinen Blick sogleich über die Pergamentstapel ihres Tisches fliegen ließ.
„Herr General“, grüßte sie mit sanfter Stimme, deren unbewusste Angewohnheit es war, jeden Vokal ein wenig in die Länge zu ziehen.
„Es war mir beinahe schon Gewissheit, dass ich Euch hier finden würde“, lachte er, wobei er sich ihr gegenüber auf einem Stuhl am Tisch niederließ, „Ich irre mich doch nicht, wenn ich annehme, dass Ihr die ganze Nacht hier verbracht habt?“
„Die ganze Nacht?“, fragte sie, wobei sie einige Strähnen ihres dunkelbraunen Haares hinter ihr linkes Ohr kämmte, „Ich meine…wie spät ist es denn?“
„Die Sonne sollte gerade aufgehen.“
„Das…oh“, sie machte eine überraschte Pause.
„Herr General“, fuhr sie schließlich fort, „Es tut mir leid, aber ich habe noch nicht mehr herausgefunden, ich meine, es ist wirklich…es ist schwierig.“
„Taena“, sprach Toulessé langsam, „Ihr sitzt hier vor dem Werk Aphaelons, dem größten Schwarzmagier aller Zeiten. Er mag ein grausames Stück Dreck von einem Menschen gewesen sein, wenn man ihn überhaupt noch einen solchen nennen kann, aber darüber hinaus sollte man nie vergessen, dass er ein brillanter Zauberer war. Zu glauben, seine Hexereien, seien derart einfach zu durchschauen, wäre vermessen.“
„Aber ich meine, ich kann es schaffen“, versicherte sie eindringlich.
„Daran zweifelte ich niemals“, gestand der General, „Dennoch bitte ich Euch, Taena, sollte diese Aufgabe jemals den Gebrauch von Schwarzmagie von Euch verlangen, diese nicht zu benutzen.“
„Sir, ich glaube an Iurion, ebenso wie Ihr es tut. Ich würde doch niemals…“
„Ich weiß, und doch kann der Drang nach Wissen stark sein. Am schwierigsten ist die Kapitulation gegenüber einem Gegner, mit dem man schon lange focht. Aber es gibt Pfade, auf die man besser niemals einen Schritt setzt.“
„Natürlich, Sir.“
„Und nun solltet Ihr in Eure Kajüte zurückkehren und schlafen.“
„Muss ich? Ich meine, ist das ein Befehl, Herr General?“
„Wenn es Euch davon abhält, hier bis in den Tod zu arbeiten, dann ist es allerdings ein Befehl“, sagte Toulessé ernst, bevor er in eine freundschaftlichere Tonlage zurückfiel, „Ihr könnt kaum noch die Augen offenhalten.“
„Ja, ich…ich werde hier nur noch etwas aufräumen“, murmelte sie.
„Tut das“, entgegnete Toulessé, wobei er aufstand und sich zur Tür begab, „Wünsche sodann eine angenehme…Nachtruhe.“
Mit diesen Worten schloss er leise die Tür hinter sich.