Kurzgeschichte
Herbsthimmel

Einleitung

Musik: Wolfgang Amadeus Mozart Sonate F Dur KV 332 Adagio http://www.youtube.com/watch?v=bIdLKwsPleM Bild: http://ludenhausen.de/images/himmel-pesssenhausen.jpg

Nur noch ein paar Schritte … und schon stehe ich direkt neben der alten Buche. Liebevoll lege ich meine Hände auf den Stamm, hebe bedächtig meinen Kopf und blicke hinauf in die kahle Baumkrone. Trauer und Sehnsucht durchdringen mein Herz. In der Höhe kann ich zwei gelbbraune Blätter erkennen, die sich farblich vom stahlblauen Herbsthimmel abheben. Gedankenversunken bin ich da, es ist wie Abschied nehmen. Wie schnell war doch der Glanz des Frühlings verflogen, der Sommer im Eilzugstempo vorübergerauscht und der Herbst kennt offensichtlich keine Gnade.
„Sei nicht traurig“, sagt mir meine innere Stimme. „Du hast deinen Frühling gelebt

und auch den Sommer. Das kann dir niemand mehr wegnehmen.“

Ich schliesse meine Augen und atme die moosig-erdig riechende Waldluft ein. In meinen Fingerspitzen fühle ich ein Kribbeln und spüre die Energie des Baumes durch meinen Körper fliessen. Sie schaltet mich auf Empfang. Langsam atme ich wieder aus und halte einen Moment inne. Ruhe umhüllt mich. Ein wohliger Windhauch streicht mir über die Wangen. Mit einem Lächeln auf den Lippen öffne ich blinzelnd meine Lider und sehe, wie derselbe Windhauch hoch oben die letzten beiden Blätter vom Ast löst. Es ist, als würden sie miteinander

tanzen. Sie bekommen Aufwind und schaukeln scheinbar schwerelos höher und höher hinauf.
„Oh nehmt mich mit!“ rufe ich ihnen hinterher.

Obwohl mein Körper hierbleibt, gelingt es dem Herbstwind meine Gedanken auf eine lange Reise mitzunehmen. Es ist eine Reise zwischen hier und dort, in Dimensionen, wie ich sie noch nie erlebet habe. Losgelöst, von innerer Zufriedenheit begleitet, küssen mich die bunten Farben, nehmen mich auf und lassen mich an ihrem Leuchten teilhaben. Ich darf in Traubenbeeren schlüpfen und süsser Saft der Äpfel sein;

Sonnenstrahlen tanken, wahre Reife spüren – inniglich mit dem Herbst verschmelzen.
Und plötzlich sitze ich auf einem der Blätter, die vom Wind nach oben getragen werden. Du  lächelst mir vom andern entgegen, öffnest deine Hand und hauchst mir ein Küsschen zu. Wir schaukeln umeinander, in Achterbahnen, Kreisen, Ellipsen, mal bist du ob- und dann wieder unter mir. Ich reiche dir die Hand. Du stehst auf den Zehenspitzen und streckst deinen Arm aus. Unsere Finger berühren sich. Stückchen für Stückchen gleiten sie zärtlich immer weiter übereinander, bis unsere Hände ineinander liegen. Beglückt ziehe ich dich

zu mir und umarme dich. Sanft streichen unsere Lippen übereinander und wieder spüre ich Reife –  die Reife der wahren Liebe. Ob uns öffnet sich der Himmel und gewährt einen kurzen Einblick in überwältigende Vollkommenheit…

Ein warmer Windstoss bringt die Gedanken wieder zurück. Meine Hand liegt immer noch auf dem Stamm der alten Buche.
Wieder meldet sich meine innere Stimme: „Bald wird es Winter werden.“
Ich schaue noch einmal durch die Baumkrone in den tiefblauen Himmel hinauf. Ein Schmunzeln steht mir ins Gesicht

geschrieben.
Kaum hörbar flüstere ich: „Das macht nichts, ich habe den Frühling erlebt, den Sommer genossen und weiss nun, wie sich die Reife des Herbsts anfühlt. Niemand kann mir das wegnehmen. Mit Zuversicht schaue ich nach vorne…“