Carlos ging am Strand entlang, so, wie er es jeden Abend tat. Er liebte es, den Sonnenuntergang zu sehen, wie die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand, ganz so, als wolle sie ins Meer tauchen. Wenn der Himmel sich orange färbte und sich die Nacht ankündigte, in den Häusern die Lichter angingen, dann fühlte sich Carlos selbst in der Fremde heimisch.
Das Meer wurde immer stiller, der Himmel nahm mehr und mehr eine rotliche Färbung ein und Carlos warf verschiedene Steine ins Wasser. Einer nach dem anderen flog im hohen Bogen ins Meer. Einer fühlte sich anders an, als alle Steine zuvor. Er war weicher, zarter, irgendwie auch leichter - eigentlich gar kein Stein. Carlos wollte ihn schon ins Meer werfen, wie all die anderen zuvor.
Er wäre ins Meer geflogen, hätte sich mit einem "Platsch" von der Welt oberhalb der Wasseroberfläche veranschiedet und wäre auf den Meeresboden gesunken.
Vielleicht wäre er irgendwann einmal durch die Kraft des Meeres, der Gezeiten, zurück an den Strand gelangt, aber Carlos hätte ihn sicher nie wieder gefunden. Hier am Strand lagen schließlich Millionen von ihnen. Jeder anders, jeder besonders, aber alles nur Steine. Austauschbar. Dieser hier war wohl mehr Schatz als Stein.
Er füllte die Hand von Carlos perfekt aus, glänzte leicht, mehr ein Schimmer, in seiner Form grazil, anmutig. Der Stein hatte auf Carlos eine Wirkung, die er kaum beschreiben konnte. Er entschloss sich, seinen neuen Schatz mitzunehmen.
An diesem Abend warf er keine weiteren Steine mehr ins Wasser, er sah sich auch nicht mehr den Sonnenuntergang an, er genoss auch nicht die einkehrende Stille, die Leichtigkeit, er ging so schnell wie möglich nach Haus, ganz so, als wolle er seinen Schatz schnellstmöglich in Sicherheit bringen.
Im Licht betrachtet, sah der Stein noch schöner aus, als vorhin in der Dämmerung. Steine sind eigentlich kalt, ohne Leben, geformt durch Kräfte, die Millionen von Jahren an ihnen arbeiten. Dieser eine hier, strahlte aber Wärme aus, machte glücklich, schien auf Carlos eine Wirkung zu haben, wie nichts anderes, schon gar nicht irgendein anderer Stein.
Er suchte für seinen Schatz einen ganz besonderen Platz, aber keiner schien angemessen genug zu sein. Eigentlich wollte er ihn auch lieber in der Hand halten. Wann immer er nach hause kam, nahm er seinen Stein in die Hand, freute sich und war einfach glücklich damit. Manchmal nahm er ihn auch mit an den Strand, wenn er abends spazieren ging und den Sonnenuntergang genoss.
Irgendwann war sein bester Freund bei ihm zu Besuch. Sie gingen zusammen an den Strand. Plötzlich flog ein Stein ins Wasser, aber Carlos hatte seinen Freund gar keinen Stein aufheben sehen.
"Was war das für ein Stein eben?" fragte er ihn. "Ach, den hatte ich vorhin bei dir rumliegen sehen", antwortete sein Freund.
Carlos fühlte Trauer in sich aufsteigen. Sein Stein, sein Schatz, wurde ins wasser geworfen, wie ein gewöhnlicher Stein, wie millionen andere Steine.
"Was ist denn mit dir los?", fragte sein Freund. "Es war doch nur ein Stein, ein ganz gewöhnlicher Stein. Davon liegen hier doch unzählige rum." Für Carlos war es aber nicht nur ein Stein. Er bedeutete die Welt für ihn.