Kurzgeschichte
Der Racheengel - Damals - in der DDR ...

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"Der Racheengel - Damals - in der DDR ..."
Veröffentlicht am 06. Oktober 2012, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

"Der Lyriker bringt seine Gefühle zum Markt wie der Bauer seine Ferkeln." Wilhelm Busch Habe hier 2010 mit Gedichten begonnen, aber das meiste davon ist für mich inzwischen passé. Man lernt auch als Großmutter nicht aus ;-) Bin in der DDR aufgewachsen, immer berufstätig gewesen, links orientiert. In zweiter Ehe verheiratet, gehören zu meiner Familie drei Enkelinnen. Den Nick "Fleur de la coeur" hat seinerzeit meine Freundin Seelenblume ...
Der Racheengel - Damals - in der DDR ...

Der Racheengel - Damals - in der DDR ...

Beschreibung

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig Sollte eigentlich zum Einheitstag erscheinen ...

 

     „Also, der Thiel hat seine Strafe weg, der ist mausetot“, sagte Schwester Gudrun und biss genüsslich in ihr Frühstücksbrot. Erstaunt sah ich sie an, die Märzsonne fing sich in ihrem blonden Haar und brachte es zum Leuchten.
     „Wer, bitte, ist Thiel? Der Name sagt mir gar nichts“, entgegnete ich ihr.
     „Na, das war doch Ihr bösartiger Polizist bei der Passbehörde. Der kann Sie nun nicht mehr ärgern!“
     „Wieso ist der plötzlich tot, der war doch höchstens Anfang vierzig, und woher wissen Sie seinen Namen?“ wunderte ich mich.
     „Meine Oma ist seine Nachbarin“, erzählte sie mir und legte ihr Brot aus der Hand. „Am letzten Donnerstag kam er abends vom Dienst nach Hause, setzte sich hin und stöhnte, ihm sei schlecht. Dann fiel er auch schon tot vom Stuhl.“

     „Aber am letzten Donnerstag war ich ja noch bei ihm, vielleicht hat ihn sein Gewissen

 

 

geschlagen?“, murmelte ich nachdenklich.
     „Gewissen?“, entrüstete sich Gudrun, „Das hat so einer doch gar nicht! Das war seine verdiente Strafe, ein deutliches Zeichen, nun steht Ihrer Westreise nichts mehr im Wege!“ Wie zur Bekräftigung biss sie wieder in ihr Brot. Ich musste lachen.
     „Strafe und Zeichen – an so was glaube ich nicht, aber vielleicht versuche ich es nun doch noch mal mit dem Reisepass. Meine Tante wird Ende April siebzig, ich habe sie ewig nicht mehr gesehen….Allerdings stelle ich es mir auch ziemlich entwürdigend vor, mir im Westen das Begrüßungsgeld abzuholen.“
     „Entwürdigend?“, Schwester Gudrun schüttelte den Kopf und winkte ab. „Entwürdigend ist es viel eher, wenn Sie in der Staatsbank ganze fünfzehn DDR-Mark in Westgeld tauschen dürfen, das können Sie mir glauben!“
Damit erhoben wir uns, die Pause war beendet.

 

 

Den ganzen Tag ging mir der tote Polizist nicht mehr aus dem Kopf und rief mir den bewussten Donnerstagnachmittag wieder lebhaft in Erinnerung.

Vorsorglich hatten wir die Patienten umbestellt, und ich war mit Tante Roses Einladung und ihrer Meldebescheinigung zur Pass- und Meldestelle der Volkspolizei gegangen, um einen Reisepass zu beantragen.
Im stickigen Warteraum, von dessen Wänden die riesigen Konterfeis des jugendlichen Honecker und des mürrischen Stoph herab blickten, war nach eineinhalb Stunden außer mir niemand mehr. Ich hatte die Worte der alten Dame vor mir „Ich möchte nach Basel reisen!“, noch im Ohr, bevor sie die gepolsterte Doppeltür hinter sich geschlossen hatte.

Danach war ich dran. Ein großer rundgesichtiger Polizist mit Sommersprossen und schütterem Haar blieb vor dem leeren

 

 

Schreibtisch stehen und fragte nach meinem Anliegen.
     „Ich möchte nach Hamburg reisen!“, antwortete ich mechanisch.
Verdutzt starrte er mich an und schnappte hörbar nach Luft, während sich sein Gesicht mit tiefer Röte bedeckte.
     „Was für ein Einfall! Sind Sie krank?“, blaffte er schließlich. Während ich regelrecht erstarrt nach einer treffenden Antwort auf diese Unverschämtheit suchte, versuchte er durch weitere Fragen die Ungeheuerlichkeit etwas abzumildern.
     „Sind Sie vielleicht Rentnerin oder invalide?“
     „Nein, aber ich habe eine Einladung von meiner Tante zu ihrem Geburtstag“, konnte ich endlich meiner Sprachlosigkeit Herr werden und übergab ihm mit zittrigen Händen die Papiere.

 

 

 

Nachdem er schnaufend hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, reichte er mir die Einladung nach einem kurzen Blick zurück, studierte aber gründlich die Meldebescheinigung, wobei er zwischendurch die Augen schloss und sich - tief ein- und ausatmend - zu beruhigen versuchte.
     „In welchem verwandtschaftlichen Verhältnis stehen Sie zu Ihrer Tante?“ Wie dämlich fragte der denn, wollte er mich auf den Arm nehmen?
     „Ich bin ihre Nichte“, gab ich ihm Bescheid, bemüht, jegliche Ironie in meiner Stimme zu unterdrücken und präzisierte nach seinem unwirschen Blick, „die Tochter ihres Bruders.“
Er zog die Stirn in Falten und überlegte.
     „Wie lange wollen sie bleiben?“
     „Sieben Tage.“
Fast freundlich, bot er mir Platz an.
     „Es ist noch zu früh für den Antrag, kommen Sie in drei Wochen wieder!“

 

 

 

Als ich einfach sitzen blieb und sagte:
     „Dann habe ich meine Patienten heute umsonst abbestellt“, griff er schließlich in die Schublade und händigte mir das Antragsformular aus.
     „Danke. Ich fülle es draußen aus und gebe es Ihnen nachher zurück.“
Es war noch genügend Zeit, doch er verfärbte sich schon wieder und wetterte los:
     „Das geht nun aber wirklich nicht, die Ausfüllung hat in sauberer Druckschrift zu erfolgen! Außerdem brauchen Sie Passfotos.“
     „Ich kann hier auf dem Tisch im Warteraum genauso sauber schreiben wie zu Hause“, entgegnete ich hartnäckig und schob ihm meine Passfotos über den Tisch.
     „Die sind nicht aktuell!“, bekam ich nach einem flüchtigen Blick zur Antwort.
     „Doch, die sind vom Februar!“, sagte ich.
     „Was heißt hier Februar, von welchem Februar?!“, rief er unbeherrscht. Nun regte

 

 

auch ich mich auf.
     „Von diesem Februar, 1989, das Datum weiß ich nicht mehr. Ich schreibe mir nicht auf, wann ich zum Fotografen gehe oder zum Friseur.“
Wütend sprang er auf, das Gesicht dunkelrot.
     „Ich habe Sie nicht nach Ihrem Friseur gefragt, sondern nach diesem Foto. Da haben sie nicht eine einzige Falte, und nun gucken Sie sich mal jetzt an!“
Frechheit! Das war ja das Letzte! Wortlos nahm ich meine Fotos vom Tisch und ging zur Tür. Als ich zur Klinke griff, rief er mich zurück, ganz ruhig. Ich zögerte. Sollte ich diesem Flegel aus der Hand fressen? Wenn ich in den Westen fahren wollte, blieb mir nichts anderes übrig ….Mit zusammengebissenen Zähnen wandte ich mich um. Er gab mir die Meldebescheinigung und einen Zettel.
     „Termin in drei Wochen, mit neuen Fotos!“

 

 

Und nun ist er tot. Ist da vielleicht doch ein Racheengel am Werk gewesen?


Epilog:

Drei Wochen später saß eine freundliche, junge Polizistin am Schreibtisch, nahm mein Antragsformular und die Fotos vom Februar ohne Beanstandung entgegen, und pünktlich bekam ich meinen Reisepass.

     „Du kannst aber nicht hier bleiben“, sagte meine Tante statt einer Begrüßung, als ich in Hamburg ankam.
Als ob ich das jemals wollte!


© fleur 1992/2012

 

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Hörbuch

Über den Autor

FLEURdelaCOEUR
"Der Lyriker bringt seine Gefühle zum Markt wie der Bauer seine Ferkeln."
Wilhelm Busch

Habe hier 2010 mit Gedichten begonnen, aber das meiste davon ist für mich inzwischen passé. Man lernt auch als Großmutter nicht aus ;-)
Bin in der DDR aufgewachsen, immer berufstätig gewesen, links orientiert. In zweiter Ehe verheiratet, gehören zu meiner Familie drei Enkelinnen.

Den Nick "Fleur de la coeur" hat seinerzeit meine Freundin Seelenblume für mich ausgesucht. Er hat nichts mit der Gestalt aus den Harry-Potter-Büchern Fleur Delacour zu tun.

Inzwischen bin ich im letzten Lebensquartal angelangt, da küsst mich die Muse nur noch selten. ;-(

mariewolf43@gmail.com

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FLEURdelaCOEUR Re: -
Zitat: (Original von schnief am 06.10.2013 - 20:43 Uhr) Liebe Fleur,
irgendwie habe ich mir diese Szene genau so vorgestellt, aber auch hier gibt es auch solchen Vollwaisen, als ich den Ausweis meiner Tochter abholte, wollte die doch glatt meinen sehen und der war abgelaufen, ob ich den schon beantragt hätte? Natürlich nicht. Meine lakonische Antwort war, muss erst noch zum Friseur und dann laß ich welche machen. Iche Antwart war darauf, Ich müsste Ihnen ne ordnungswirdigkeit zukommen lassen. Bin dann einfach aufgestanden und bin gegangen, Kam aber Nichts nach.

Deine Tante ist aber auch nett!! So eine Begrüßung, echt nett.
Liebe Grüße
Schnief


Liebe Schnief,
meine Tante war ein Kapitel für sich ..... sie lebt nicht mehr.
Aber ich hatte in der Nähe von HH noch eine Cousine, die ich gar nicht persönlich kannte. Sie und ihr Mann holten mich dann von der Tante ab, und sie waren so lieb und herzlich zu mir, dass ich richtig auflebte ...

Und dem Polizisten ging es sicher an diesem Nachmittag schon sehr schlecht, dass er so aus der Rolle fiel ....
Aber ich sehe das alles noch vor mir, als ob es gestern war ....

Danke dir, dass du meine ollen Kamellen tatsächlich gelesen hast,
liebe Grüße

fleur
Vor langer Zeit - Antworten
schnief Liebe Fleur,
irgendwie habe ich mir diese Szene genau so vorgestellt, aber auch hier gibt es auch solchen Vollwaisen, als ich den Ausweis meiner Tochter abholte, wollte die doch glatt meinen sehen und der war abgelaufen, ob ich den schon beantragt hätte? Natürlich nicht. Meine lakonische Antwort war, muss erst noch zum Friseur und dann laß ich welche machen. Iche Antwart war darauf, Ich müsste Ihnen ne ordnungswirdigkeit zukommen lassen. Bin dann einfach aufgestanden und bin gegangen, Kam aber Nichts nach.

Deine Tante ist aber auch nett!! So eine Begrüßung, echt nett.
Liebe Grüße
Schnief
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Re: Sehr persönlich, sehr anrührend -
Zitat: (Original von Cupator am 29.10.2012 - 22:15 Uhr) Das ist, glaube ich, das erste Mal, dass ich Prosa von Dir lese - mein Kompliment. Die schlichte Sprache ist anrührend, weil Du in ihr eine persönliche Geschichte mit kristallener Klarheit und ergreifender Knappheit erzählst. Karg wie eine Amtsstube, sozusagen, diese Sprache, sehr gekonnt auf den Punkt formuliert. Und natürlich ein ganz großes Thema.

Herzliche Grüße,
Cupator


Ja, ich habe wenig Prosa hier eingestellt, meine Strecke ist die Lyrik. Dieser alte Text, den ich bis auf den hinzugefügten Epilog nur leicht überarbeitet habe, war mal eine Aufgabe bei einer "Schule des Schreibens", wo ich ein wenig Handwerkliches gelernt habe. Die Vorgabe war eine Story mit Dialog und begrenzter Zeilenzahl.
Sie ist tatsächlich autobiografisch.
Ich freue mich sehr über dein Lob, du verstehst es, tief einzutauchen.

Ganz herzlichen Dank und Gruß
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Cupator Sehr persönlich, sehr anrührend - Das ist, glaube ich, das erste Mal, dass ich Prosa von Dir lese - mein Kompliment. Die schlichte Sprache ist anrührend, weil Du in ihr eine persönliche Geschichte mit kristallener Klarheit und ergreifender Knappheit erzählst. Karg wie eine Amtsstube, sozusagen, diese Sprache, sehr gekonnt auf den Punkt formuliert. Und natürlich ein ganz großes Thema.

Herzliche Grüße,
Cupator
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Re: Oktober -
Zitat: (Original von Rajymbek am 10.10.2012 - 12:27 Uhr) Ich war im Oktober in Bremen beim Geburtstag meiner Oma. Es verlief alles reibungslos bei der Antragstellung.

VLG Roland


Nachdem "er" tot war, ging es hier auch reibungslos .... ;-)))

VlG fleur
Vor langer Zeit - Antworten
Rajymbek Oktober - Ich war im Oktober in Bremen beim Geburtstag meiner Oma. Es verlief alles reibungslos bei der Antragstellung.

VLG Roland
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Re: Racheengel -
Zitat: (Original von rarietaet am 07.10.2012 - 17:01 Uhr) toll geschrieben, da sieht man mal wieder, mitunter mahlen Gottes Mühlen doch nicht so langsam.
GlG Rarietaet


Ja, wenn du dran glaubst? ;-)))
Vielen Dank für deinen Kommentar.

GlG fleur
Vor langer Zeit - Antworten
rarietaet Racheengel - toll geschrieben, da sieht man mal wieder, mitunter mahlen Gottes Mühlen doch nicht so langsam.
GlG Rarietaet
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Re: Ja, solche gibt es überall! -
Zitat: (Original von pekaberlin am 07.10.2012 - 14:28 Uhr) Doch in all diesen Apparaten gibt es auch immer diese "jungen Polizistinnen".
Mir half ein Stasimann entscheidend dabei, dass ich die vietnamesische Mutter meines Sohnes heiraten durfte.
Diese Geschichte wäre nur leider heute nicht opportun.
Genausowenig wie Geschichten über Angestellte in Jobcentern, oder "Abschieber" von Asylbewerbern, die es in ihrer Heimat wesentlich schwerer haben als jeder ehemalige DDR - Bürger.

Liebe Grüße Peter



Du hast recht, überall gibt es "so'ne und solche".
Von einem Polizisten "aus der Chefetage", der im gleichen Haus wie ich wohnte, erfuhr ich später, dass besagter Polizist aus der Meldestelle woanders hin versetzt werden sollte. Das muss ihn in seiner Grantigkeit noch angestachelt haben .... Na ja, trotzdem hätte ich ihm nicht gleich den Tod gewünscht ....
Und, ja über das Abschieben von Asylanten könnte man sicher eine Menge Elend aufschreiben.....

Danke und viele Grüße
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR Re: Wirklich aus dem Leben. -
Zitat: (Original von Brubeckfan am 07.10.2012 - 12:38 Uhr) Diese Uniformträger durften ja selbst nicht reisen und plusterten sich daher vor den Bürgern auf.
Am besten gefällt mir Dein Epilog-Ende. Nach Maueröffnung waren manche meiner Verwandten plötzlich verstummt, die bis dahin auf die bösen Verhältnisse geschimpft hatten. Andere dagegen fragten als erstes "Wann kommt Ihr mal?"

Sonnige Grüße am 7.10.,
Gerd


Das Ende gefällt mir auch am besten, das war Ehrensache ...
Mein Cousin lud uns im Dezember 89 zu sich nach Hamburg ein. Wir fuhren mit dem Auto (Wartburg) und wurden ständig mit Lichthupe begrüßt ....

Vielen Dank für deine Zeilen und einen schönen Gruß "aus dem Klinkerbau" soll ich dir auch bestellen.
Auch von mir sonnige 7.-Oktober-Grüße
fleur
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