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Story-Battle 18:
Graf *Hebel *Hesse *Keller *Klopstock*Lenz *Mann *Mühsam *Stifter *Zweig *Joker: Morgenstern *
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©roxanneworks 2012/ 09
©picture by Fotolia
©cover by roxanneworks
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Die überdimensionierte Uhr im Ankunfts-terminal des Airports zeigte mit leuchtend roten Digitalziffern 7:37 Uhr mitteleuropäischer Zeit an. Ich war saumäßig müde, spürte den Jetlag in allen Hirnwindungen und wollte nur noch ins Bett. Mühsam schaffte ich es, meine Lider noch einen Spalt offen zu halten, um die Ankunft der Koffer nicht zu verpassen. Erfahrungsgemäß dauerte es ja nicht sehr lange - anders als in Rio, wo allein das Einchecken eine Geduldsprobe darstellte .
Ãœberhaupt hatte ich die Nase gestrichen voll,- von Rio und Reisen überhaupt - für die nächste Zeit jedenfalls,- nach dem ganzen Hickhack beim Rückflug. Man muss sich mal vorstellen, dass der Abflug wegen dieser militanten Polizeiaktion um mehr als drei Stunden verschoben wurde, nur weil angeblich ein Rauschgift-Kurier verhaftet wurde. Und dabei wirkte der smarte Typ eigentlich sehr sympathisch, denn ich hatteÂ
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mich noch locker mit ihm in der Warteschleife unterhalten, während wir uns zentimeterweise in Richtung Schalter schoben. Er fand es äußerst amüsant, dass unsere Koffer sich glichen, wie eineiige Zwillinge.
Netter Weise machte es ihm auch nichts aus, auf mein Reisegepäck zu achten, während ich kurz das überaus unappetitliche Damenklo aufsuchte.
Kurze Zeit darauf verabschiedete er sich unerwartet von mir und verließ die Menschen-schlange, um wenig später beim Verlassen eines Bücherstores mit viel Action und Tamtam von einer bewaffneten Truppe in Gewahrsam genommen zu werden....
***
Endlich kamen die ersten Koffer. Ich rappelte mich von meinem metallischen Kofferkuli-Warteposten hoch, auf dem ich fast einge-schlafen wäre und schlurfte in Richtung
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 Kofferband. Durch den Hartgummistrippen- vorhang wurde etwas Rotes in mein Sichtfeld befördert und ich machte mich bereit für den Zugriff, falls es sich um meinen Hartschalen-koffer handeln sollte. Aus einiger Entfernung, - quasi schon vor der letzten Schleife, erkannte ich den Adressenanhänger an dem Gepäck-stück und war heilfroh, gleich von hier verschwinden zu können.
Keine Zollkontrolle, keine Passkontrolle - keine Wartezeiten mehr; also im Laufschritt zum Bahnhof unter dem Airport und ab nach Hause. Der endlose, fast menschenleere Gang wirkte unheimlich. Meine Schritte hallten durch diese unwirkliche Neonwelt und gaben dem Ganzen einen Hauch von lebendiger Realität. In den kommenden Tagen würde ich mir einen richtigen Lenz machen, - versuchte ich mich abzulenken. Endlich einmal nur faul sein, - steif wie Brokkoli auf dem Sofa liegen und in die Glotze schauen.
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 Vegetarisches Fernsehen sagte mein Freund immer dazu, wenn er sich einfach nur berieseln ließ und dabei den Gedanken nach hing.
Auf dem Bahnsteig verteilten sich eine Handvoll Menschen, die ebenso bettreif aussahen, wie ich. Die künstliche Beleuchtung gab allen eine ziemlich ungesunde Gesichts-farbe und die Augen wirkten dadurch dunkler in tiefliegenden Höhlen. Alles übernächtigte, jetlagverseuchte Zombies, die nur vor sich hin starrten.Â
Als der Zug einlief, kam wieder Leben in die Gestalten. Sie drängten sich möglichst eng an die Bahnsteigkante. Ich stellte mich auch in Position und wartete. Als die Lok mich passierte, spürte ich einen Druck zwischen meinen Schulterblättern,- fast wie ein Stoß und ich kippte mit Schwung nach vorn- konnte mich aber noch abfangen und die Balance zurück gewinnen. Als ich mich verwirrt umschaute, war niemand in meiner Nähe zu sehen.
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 Was zum Teufel war das? Seltsam,- ich hatte die Berührung doch gespürt, oder? Ein Zweig meines Gehirns schien noch nicht außer Betrieb zu sein, dennoch traute ich mir selbst nicht mehr über den Weg....dieser Zeitzonen-kater hatte mich heftig erwischt.
Außen an dem Wagon, in den ich einstieg, stand in großen weißen Búchstaben "Graf Zeppelin". Ich suchte mir also einen Fenster-platz in dem Großraumabteil des "Grafen", platzierte meinen Koffer auf dem Sitz gegenüber und legte meine Beine darauf. Mit dem Hebel brachte ich meine Rückenlehne in eine Liegeposition und schloss die Augen. Noch gut vier Stunden bis Düsseldorf....
Als ich meine Wohnungstür öffnete und in meine Gemächer stolperte, konnte ich kaum noch auf meinen Beinen stehen. Meine Sachen warf ich einfach auf den Fußboden und hatte nur noch ein Ziel - mein Bett.
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 Christian Morgenstern sagte einmal: "Aber liegt nicht in jedem großen Augenblick, gleichviel ob er hell oder dunkel, richtig oder falsch, ein Glück?"
Dies war ein großer Augenblick für mich. Ich war absolut fertig von der Reise und doch irgendwie glücklich! Surreal, aber schön...
Nach mehr als siebzehn Stunden komatösen Schlafes wachte ich auf und verspürte einen enormen Hunger. Ich hätte Menschen anfallen können, so sehr verlangte es mich danach, meine Zähne in etwas Eßbares zu schlagen. In meinem Kühlschrank hätten sich Mäuse Blutblasen gelaufen und nichts gefunden, was auch nur im Ansatz genießbar gewesen wäre.
Also warf ich mir ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht, gurgelte kurz mit der Mundspülung, um den pelzigen Geschmack im Mund los zu werden und verließ die Wohnung. Meine Klamotten hatte ich vorausschauender Weise
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 gar nicht erst ausgezogen,- manchmal ist das schon komisch mit der Intuition, dachte ich mir, als ich zur Fußgängerampel schlenderte, die gerade auf grün umsprang. Noch in meine Gedanken versunken,- den heran rasenden LKW nicht wirklich realisierend,- wurde ich mir der Gefahr erst bewußt, als ein junger Mann mich an den Schultern zurückriß und wir zusammen unsanft auf der Straße landeten. Einige Passanten blieben stehen und starrten uns an. Der LKW raste mit quietschenden Reifen um die nächste Ecke davon.
Völlig irritiert schaute ich zuerst den bärtigen jungen Mann an, der sich neben mir auf rappelte,- dann die Passanten. Mir tat die ganze rechte Seite weh,- mein Arm fühlte sich an, als wenn er sich gerade verdoppeln würde. Nach einigen Sätzen über diese merkwürdige Situation, die ich letztendlich meiner noch immer desolaten Verfassung zu
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 schrieb, bedankte ich mich herzlich bei mei- nem Retter und humpelte bis zu Klopstock's Supermarket, um mir ein paar Lebensmittel zu besorgen. Aber das Geschehen ließ mich nicht los. Wieso hatte der LKW nicht gehalten? Nach Angaben der Passanten hatte er sogar noch beschleunigt, nachdem ich die Fahrbahn betreten hatte. Das ergab doch alles keinen Sinn! Warum sollte ....Blödsinn - ich wollte nicht weiter darüber nachdenken.
Nachdem ich ausgiebig gefrühstückt hatte, wollte ich meinen Koffer auspacken, die Klamotten waschen und dann faulen-zen...genau in dieser Reihenfolge. Also nahm ich das rote Ding und stieg die Treppe zum Keller hinunter. Im Waschraum angekommen, versuchte ich das Zahlenschloss zu öffnen, doch es funktionierte nicht. Seltsam! Ich probierte es mehrfach, doch ohne Erfolg.
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Langsam zweifelte ich an meinem Verstand. Es kam schon vor, dass ich keine Zahlenkom-binationen behalten konnte, aber hier handelte ers sich um mein Geburtsdatum. Ich verstand die Welt nicht mehr. An dem Gepäckstück waren keine Beschädigungen zu erkennen,- also konnte sich das Schloss auch nicht verhakt haben. Unverrichteter Dinge ging ich zurück in meine Wohnung und rief meinen Freund an. Nachdem er sich meine Story angehört hatte und ihm die Einzelheiten gar nicht gefielen, bat er mich, sofort zu ihm ins Studio zu kommen. Wir werden schon eine Lösung finden, meinte er,- notfalls brechen wir das Ding eben auf.
Da ging er dahin, mein vegetarischer Tag. Auf dem Weg zur Straßenbahn passierte ich gerade eine Unterführung, als ein dunkler Van mit geöffneter Seitentür langsam neben mir herfuhr. Noch ehe ich richtig begriff, was geschah, wurde ich unsanft gepackt und ins
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 Wageninnere gezogen,- dann tauchte ich nebulös in eine schwarze Stille ein.
***
Mein Schädel brummte wie verrückt, als ich versuchte, meine Augen zu öffnen. Ich lag in einem halbdunklen Raum,- keine Fenster, nur eine Tür und das Bett, auf dem ich lag. Eine nackte Glühbirne baumelte an Drähten, die aus der Wand ragten und spendete diffuses Licht.
Nachdem ich mich aufgerappelt hatte und auf der Bettkante saß, wurde mir speiübel. Der Raum drehte sich, was die Übelkeit noch verstärkte. Ein Schlüsselgeräusch,- die Tür öffnete sich und vor mir stand der Typ vom Airport in Rio.
" Olá senhorita ...Ich freue mich zu sehen, dass es dir schon besser geht," begrüßte er mich.
" Was soll das alles? Warum bin ich hier? Und wie kommst du....ich dachte..." stotterte ich.Â
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 " Oh, du meinst, ich bin ..." lachte er, " não senhorita, ich bin sein irmão gémeo, ...der Zwillingsbruder."
" Oh...na und weiter! Was mach ich hier? Ich habe keinen blassen Schimmer, warum ich..."
"Hab Geduld, meu pequeno! Also, du besitzt etwas, das uns gehört und das habe ich mir nun geholt."
" Ich habe etwas, dass....Oh, ich verstehe. Der Koffer! Deshalb konnte ich ihn nicht öffnen."
" Exatamente, mein Bruder hat ihn gegen deinen Koffer ausgetauscht...er hatte das Gefühl, dass er bei dir besser aufgehoben war." Er lachte wieder.
" Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet, musst du wissen - und auf dich aufgepasst,- auf den Koffer natürlich auch. Der Empfänger der Ware ist sehr ungeduldig geworden, als er hörte, dass mein Bruder verhaftet wurde.
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 Er hielt dich anscheinend für jemand von der Konkurrenz. Du warst eine Gefahr, você compreende que..." erklärte er mir und ich begriff langsam...
" Der Mann auf der Strasse warst du, richtig?" fragte ich.
" Ja,- ein falscher Bart, eine Perücke...Aber inzwischen habe ich die Sache aufgeklärt und mitgeteilt, dass du für uns arbeitest."
" Waaaas? Und....wie soll das jetzt weiter gehen? Was hast du jetzt mit mir vor?" ich schluckte den Rest der Fragen herunter. Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker.
" Ich habe, was ich will. Der Empfänger bekommt seine Ware und alle sind zufrieden. Ich musste ihm sagen, dass du zu uns gehörst, sonst hätte er weiter versucht....na, du weißt schon."
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 " Warum erzählst du mir das alles? Ich verstehe nicht....?"
" Mein Bruder wollte es so. Er hat dich unfreiwillig benutzt und mit hineingezogen, damit man ihm nichts anhaben kann....Es ist sein Dank an dich, meu pequeno!"
"Despedida Senhorita.....!" sagte er freundlich, drehte sich um und war verschwunden....
Ich saß wie angewurzelt auf dem Bett,- heftiges Rauschen in meinem Kopf und in diesem Trance ähnlichen Zustand waberte mir ein Zitat von Hesse durch den Sinn:
Wie von einem Stück Spiegelglas ein Lichtstrahl reflektiert und in einen dunkeln Raum geworfen wird, so blitzt oft mitten im Gegenwärtigen, durch eine Nichtigkeit entzündet, ein vergessenes, längst gewesenes Stückchen Leben auf, erschreckend und unheimlich....
Ja, genau so wird es sein.....
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