Gerome musste in seinem Leben schon durch so manches Tal gehen. Seine Eltern waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, als dass sie auch nur eine Spur von Liebe oder Wärme hätten geben können. Immer wieder suchten sie einen Sündenbock für ihre eigenen verpassten Träume. Meist fanden sie ihn in dem Schwächsten, in Gerome.
Verrücktes erschien ihm als normal, fehlten doch die Vergleiche. Je älter er wurde, desto mehr wurde ihm klar, was ihm prägte. Er wollte anderes für sein Leben. Er wurde ein Getriebener der Hoffnung. Irgendwann, so sagte er sich immer wieder, würde es ihm besser gehen, würde er die Lasten seiner Kindheit ablegen und glücklich und zufrieden leben können. Er malte es sich aus, wie es sein könnte. Die Wirklichkeit konnte mit diesem Traumbild selten mithalten.
Da gab es plötzlich Leonie. Sie, mit ihren Augen, die mit Leben aufluden, erfüllte die Träume, verwandelte sie in Wirklichkeit, sprach die Worte, die er zu hören wünschte, gab die Wärme, nach der er dürstete. Liebe – es fühlte sich so an. Endlich.
Schöner konnte kein Traum sein, nichts war den Tagen, den Nächten mit ihr gleich, kein Wunsch wurde mehr ausgesprochen, denn das Leben war nun wesentlich schöner. Gerome war im Himmel angekommen, schwebte durch seinen Alltag, vernahm den Duft, der ihn umspielte. Leonie vermochte es, die Hoffnung mit Leben aufzuwiegen, sie unnötig zu machen. Jede Minute mit ihr wollte Gerome genießen.
Er kam nicht dazu, zu träumen, denn Leonie erfüllte jeden ungeträumten Moment, jeden Berührung, jeden Kuss, jedes gehauchte Wort, es war Wirklichkeit – vollkommen. Nicht der größte Maler dieser Welt wäre im Stande gewesen, ein schöneres Bild zu erschaffen.
Gerome glaubte, endlich angekommen zu sein, das Ziel seiner Reise erreicht zu haben, zu Hause zu sein, bei ihr. Heilung der tiefen Wunden, geschmolzenes Eis, Leichtigkeit, Liebe – das war nun Tatsache. Der Hungernde wurde genährt. Der Traurige getröstest. Der Frierende gewärmt. Der Ungeliebte geliebt. Sie war für ihn wie ein Engel, Gerome glaubte, zum ersten Mal nicht genug geben zu können, in der Disziplin zu versagen, in der er sich am stärksten wähnte: Im Lieben. Leonies Liebe, so glaubte er, könne er nie aufwiegen, niemals das geben, was er empfangen hatte.
Das Wesen eines Traumes, ist sein Ende, denn irgendwann erwacht man, auch aus Träumen, die in der Wirklichkeit geschehen. Das Ende kam nicht unerwartet, doch aber mit aller Härte und Radikalität. Der Engel wollte keine Flügel mehr tragen. Leonie suchte etwas anderes. Es ging ihr nicht nur um Glück. Für sie war die Begegnung mit Gerome nicht das, was sie finden wollte. Es war kein Traum für sie – so sagte sie jedenfalls.
Taumelt nahm Gerome sein Leben wahr. Es fühlte sich wie eine Strafe an, wie Häme des Lebens. Hoffnung. Es war die Blaupause von Geromes Leben, der Schlüssel. Auch jetzt hoffte er, ersehnte den einen Anruf, den einen Brief, die eine Begegnung, die alles wieder ins Lot bringen würde. Doch es blieb aus, die Erlösung kam nicht.
Wochen vergingen, Monate, Jahreszeiten wechselten, Bärte wuchsen, ungeschriebene Briefe wurden gelesen. Irgendwann wurde Gerome von Wut ergriffen, vom Hass auf seine unsterbliche Hoffnung. Sie ließ ihn aufblicken, auch in tiefster Dunkelheit sah er ein Licht, irgendwo. Doch nun ergriff ihn Leere, ermattete ihn die Hoffnung, die ihm sonst Kraft verlieh. Er ließ sie ziehen. Nahm Abschied, begrub die Bilder in seinem Kopf von einem Leben mit ihr.
Der Hoffende wurde zum Sehenden.