Fantasy & Horror
Die Gebrochene Welt I (Kapitel 9; Teil 3/4) - Der Fall Fiondrals

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"Die Gebrochene Welt I (Kapitel 9; Teil 3/4) - Der Fall Fiondrals"
Veröffentlicht am 30. September 2012, 34 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
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Über den Autor:

Wer wäre ich hier, wenn nicht jemand, der seinen Visionen ein Zuhause geben will? Tue ich das gerade nicht, studiere ich Rechtswissenschaften und bemühe mich, nicht gleich jedes damit verbundene Klischee zu erfüllen (letzteres womöglich nur mit mittelmäßigem Erfolg), oder fröne in irgendeinem Pub meinen Lastern.
Die Gebrochene Welt I (Kapitel 9; Teil 3/4) - Der Fall Fiondrals

Die Gebrochene Welt I (Kapitel 9; Teil 3/4) - Der Fall Fiondrals

Beschreibung

Die Stadt Galor ragt als letzte Festung aus dem Trümmerfeld auf, in das die Invasion der Orks den Kontinent Fiondral verwandelt hat. Flüchtlinge aus allen Ecken und Enden des Landes suchen Zuflucht hinter den dicken Mauern. Doch während sich die feindlichen Heerscharen unter den hohen Zinnen sammeln, zerfressen Zwietracht und Hass die Reihen der Verteidiger, bis es schließlich an wenigen wackeren Streitern liegt, das Schicksal aller zu bestimmen. (Weitere Kapitel folgen in Kürze) Titelbild: "Einsturzgefahr" by "Paulo Claro" Some rights reserved. Quelle: www.piqs.de

Kapitel 9: Assassinen (Teil III)

Herzog Jean Montierre war im sonst menschenleeren Beratungssaal der ledrianischen Botschaft tief in seinen Sessel gesunken, so geschwächt von der Müdigkeit, dass er sich in die Lehne krallen musste, um überhaupt noch auf den Tisch und die Pläne blickten konnte, die sich darauf stapelten.
Eine weitere Nacht war einfach so dahingezogen, war verklungen zwischen Truppenzahlen, den Zeilen toter Chronisten, den Worten von Kriegsberichten. Einzig die Narbe der Müdigkeit, die sie in Montierres Körper geschlagen hatte, kündete davon, dass es diese Nacht wirklich gegeben hatte.
Eine jähe Übelkeit kroch seine Kehle herauf, worauf er hastig nach der dunkeln Weinflasche tastete, die ein kleines Stück von ihm entfernt auf dem Tisch ruhte. Durch den Schleier der Müdigkeit stießen seine Finger gegen etwas filigranes, gläsernes, das ihnen sogleich entglitt und mit einem lauten Scheppern zu Boden fiel. Als sich Scherben über seine schweren Stiefel ergossen und ein paar letzte Weintropfen in das vergilbte Pergament eines Schlachtberichts flossen, realisierte er, dass er sein Glas vom Tisch gestoßen hatte. Unbeirrt langte er nach der Flasche und goss den kümmerlichen, dunklen Restinhalt in seinen Hals, wo der liebliche Geschmack die Übelkeit davonflutete. Schwer atmend rieb er sich die Augen, ohne dass seine Sicht dadurch klarer wurde, während seine Gedanken einen wirren Tanz in seinem Kopf vollführten. Aus Zahlen und Namen entstiegen Orks und Menschen, die sich gegenseitig die Köpfe einschlugen, Nekromanten, umschlungen von ihrer sinisteren Magie, unsterbliche Krieger…
„Unsterbliche Krieger“, hallte es aus seinem Mund, wobei ihm wieder klar wurde, was ihn die ganze Nacht über wach gehalten hatte. Ein Chronist hatte von der Schlacht bei Valgors Grad, hoch im nördlichen Gebirge berichtet, bei der ein Kämpfer gesichtet worden war, dem Klingen und Pfeile nichts anhaben konnten. Ein leuchtender Kristallschädel habe um seinen Hals gehangen, hieß es in dem Bericht.
Montierre musste sich jedoch eingestehen, dass er trotz seiner nächtlichen Recherche kaum etwas über diesen unheimlichen Kämpfer wusste, zumal es kaum Berichte aus dem Norden gab, da die Orks bei ihrer Invasion einen Keil zwischen die nördlichen und die südlichen Provinzen getrieben hatten.
Er wusste nicht einmal, ob die Feste Winterbruch, der man die Uneinnehmbarkeit nachsagte, gefallen war oder noch standhielt. 
„Außerhalb der Stadt“, stellte er fest, „endet der gesamte Kosmos…“
In einem erneuten Anfall von Müdigkeit sank er rücklings in den Sessel und er wäre sicherlich sofort eingeschlafen, hätte nicht in ebenjenem Moment ein lautes Klopfen an der schweren Doppeltür die Stille im Saal zerrissen.
„Herzog Montierre…seid Ihr dort drin?“, die Stimme Amelies, der hübschen Empfangsdame, hallte dumpf durch das dicke Holz.
„Ja…“, Jean unterdrückte ein Gähnen, „ich bin hier. Kommt ruhig rein.“
Langsam schoben sich die schweren Flügel der Tür auseinander, wobei es der zierlichen Frau sichtlich schwer fiel, sich gegen das massive Holz zu stemmen. Letztlich gelang es ihr jedoch, sich in ihrem schlichten, aber hübschen, lachsfarbenen Kleid durch den Spalt in den Beratungsraum zu zwängen. Als sie den Herzog sah, weitete sich ihr Gesicht vor Entsetzten, welches sich in Betretenheit wandelte, nachdem sie feststellte, dass ihm dies durchaus nicht entgangen war.
„Verzeiht, Herzog, aber Ihr seht…“, begann sie.
„Furchtbar aus…ich weiß“, unterbrach er, wobei er gerade noch ein Lächeln auf seinen blassen Lippen zustande brachte.
„Habt Ihr…schon wieder die ganze Nacht?“, fragte sie leise.
„Ja“, entgegnete er knapp, „Was gibt es denn?“
„Die xendorische Prinzessin, sie hat sich für zehn Uhr angemeldet“, erklärte Amelie, „Deshalb suchten wir auch nach…“
„Filiana!“, kreischte Montierre, der plötzlich wie vom Donner gerührt, kerzengerade in seinem Sessel saß, „Ich…sie…nicht jetzt!“, er verharrte plötzlich in seinem Stammeln, atmete einmal tief durch und fuhr etwas ruhiger fort, „Wie lange noch, bis sie hier ist?“
„Eine Viertelstunde, Herr. Ich wollte es Euch früher sagen, aber ich habe Euch nicht…“
„Nicht gefunden, verstehen“, murmelte er, den es vom Stuhl gehoben und zum Umherwandern getrieben hatte, „Bei Iurion, ich sehe grässlich aus. Ich kann doch so nicht die Prinzessin empfangen, das...ist unmöglich.“
„Das ist leider nicht alles. Vigard und Hauptmann Raham bitten ebenfalls um eine Audienz“, berichtete Amelie fast verlegen.
„Vigard…Raham, ich…wie soll ich das nur alles schaffen? Verdammt, wo ist nur die Nacht geblieben?“, stammelte der Herzog.
„Soll ich Azurgeist bringen lassen?“
„Azurgeist…“, murmelte Montierre, „Ja, ja! Bringt Azurgeist und eine Schale, eine Schale mit Wasser und, und Lavendel, ach nein, nein…Jasminöl, ja genau das.“
„Azurgeist, Wasser und Jasminöl, Sir?“, erkundigte sich die Empfangsdame noch einmal.
„Richtig, und schnell, bitte.“
„Natürlich, edler Herr“, gab sie zurück, worauf sie sich sofort verbeugte, umdrehte und zur Tür hinausstürmte. Gedämpft hallte ihre Stimme zu Jean, als sie draußen Dienern Anweisungen erteilte, während er darum kämpfte, in ihrer Abwesenheit nicht einzuschlafen. Verbissen krallte er sich in die Sessellehne und starrte verklärt in das dunkelgrüne Glas der leeren Weinflasche, die sein verzerrtes Spiegelbild zeigte. Eine blasse Fratze, der die dünnen Haare in der Stirn klebten und aus der ermattete Augen starrten. Langsam versank er in den grotesken Schattierungen, die Dunkelheit umfing ihn, er sank in die einladend weichen Polster seines Sessels, seine Augenlider klappten nach unten, das Spiegelbild wurde von der Schwärze verschluckt.
„Herzog!“, wie ein Donner schallte Amelies Stimme heran und ließ seine Lider augenblicklich zurückschlagen. Das Spiegelbild starrte aus dem Flaschenglas zurück, band seinen Blick für eine Sekunde an sich, bevor er sich mühsam zur Tür wandte, von der ihm die Empfangsdame bereits entgegen kam, gefolgt von zwei Dienern, die eine silberne Schale mit Wasser und ein Flakon mit Jasminöl trugen. Sie selbst jedoch hielt vorsichtig und um den Wert ihres Inhalts wissend eine kleine, halbvolle Phiole in der Hand, aus der das azurblaue Leuchten hell strahlte, dass sich seine Augen weiteten.
Die drei Ankömmlinge stellten ihre Gaben auf dem Tisch vor ihm ab, verbeugten sich und entfernten sich wieder, während er bereits nach der Phiole langte, sie mit zittrigen Händen entkorkte und den Inhalt in seinen Rachen goss.
Wie eine Sturmflut brach eine Welle der Macht über Körper und Geist hinweg, fegte jede Müdigkeit, jede Schwäche davon, raste durch seine Venen, spannte seine Muskeln, zerriss den Schleier der Verschwommenheit.
Klar sah er vor sich das Wasser, in das er sein Gesicht tauchte, um die letzten Hinterlassenschaften der schlaflosen Nacht davon zu spülen. Das Jasminöl übertönte derweil mühelos die Gerüche seines ungewaschenen Körpers.
„Noch ein wenig Zeit, zu warten“, sagte er sich, streckte sich und lehnte sich anschließend zurück an das weiche Polster des Sessels.

„Wir kehren nie zurück. Nie, nie, verdammte Scheiße“, fluchte Ilar, wobei er wutentbrannt den Saum seiner Robe aus einem Dornengestrüpp zerrte, „Wenn uns die Schwarzmagier nicht erledigen, dann dieses verschissene Mistzeug hier.“
„Ruhe!“, harschte Ferren ihn beiläufig an, während er weiter in den Wald starrte, der wesentlich dichter war, als es von außen den Anschein gemacht hatte. Überall rankten sich Dornenbüsche, wucherte hohes Gras, schlängelten sich Äste und alles lag unter einem blutrot, braunen Schleier des Herbstlaubs. Dennoch hatte der Leutnant das Gefühl, als würden zwischen all den Blättern, Ästen, Stämmen und Büschen etliche finstere Augenpaare starren.
„Ich will ja nichts sagen“, murmelte Slemov, „Aber zu glauben, dass wir hier in einen Hinterhalt tappen würden, wäre ziemlich dämlich. Wir wären doch niemals so tief in diesen unwegsamen Wald eingedrungen.“
„Scheißwald“, zischte Ilar, der sich erneut verfangen hatte, „Ich könnte kotzen, das…“, er stockte, „Verdammte Scheiße!“
„Was denn?“, Ferren hatte sich sofort dem Novizen zugewandt, der immer noch durch das Gestrüpp taumelte, seinen Blick jedoch von seiner dornendurchdrungenen Robe abgewandt hatte und stattdessen einige Bäume anglotzte, die sich etwa fünfzig Meter zu seiner Rechten aus dem Waldboden erhoben.
Er schob sich an einer Buche vorbei, um besser sehen zu können, und sein Blick fiel sofort auf das, was bereits Ilar gebannt hatte. Die linke der drei stolzen Eichen, die dort über dem Gebüsch thronten, war zu einem pechschwarzen Schlot aus Asche verkohlt worden, dass sie wie ein Mahnmal des Todes aus all dem Leben ragte, das sie umgab. Direkt unter ihr hatte etwas das gesamte Gestrüpp in einem perfekten, rußschwarzen Kreis versengt, weshalb sich dort nur noch verbrannte Erde befand, in deren Mitte ein grauenhaftes Objekt umringt von toter Natur lauerte. Aus einer schimmernden, dunklen Masse reckten sich versengte Knochen triefend von eingeschmolzenem, nachtschwarzem Fleisch zum milchigen Himmel. Über dem unerkenntlichen Torso thronte eine vollkommen entstellte Fratze, aus deren verkohlter Haut ein letzter Ausdruck tiefsten Grauens sprach.
„Das ist heftig“, murmelte Slemov betreten.
„Scheiße!“, fluchte Ilar, der sich endlich von allen Dornenpflanzen befreit hatte, sodass er nun im Rußkreis direkt neben der Feuerleiche stand, „Das soll mal ein Mensch gewesen sein?“
„Das“, begann Ferren unheilvoll, bevor er sich hinunterbeugte und einen kohleüberzogenen Gegenstand aus dem toten Fleisch zog, „war einer von uns.“
„Von uns?“, Slemov trat neben ihn, um das Objekt besser sehen zu können. Es schien eine flache, handtellergroße Metallscheibe zu sein, deren Kanten das Feuer eingefressen hatte, womit es seine einstige Form zu einem entropisch anmutenden Klumpen verzerrt hatte. Unter der pechschwarzen Asche, die es wie ein Mantel überzog, waren schemenhaft zwei Buchstaben zu erkennen. Ein versengtes G verschlungen mit einem nicht weniger deformierten A.
Trotz der Veränderung, die das Objekt erfahren hatte, wussten die drei Kundschafter genau, worum es sich handelte.
„Ein Abzeichen Galors“, echote es aus dem Mund des Skatriers.
„Einer unserer Assassinen“, stimmte der Leutnant zu.
„Was beim stinkenden Erlöser hatte der hier zu suchen?“, blaffte Ilar.
„Keine Ahnung“, flüsterte Ferren, „Ich mache mir eher Sorgen darum, wie er so enden konnte.“
„Das stinkt nach schwarzer Magie“, zischte der Novize.
„Ihr riecht das?“, erkundigte der Offizier sich.
„Natürlich nicht!“, schallte es zurück, „Aber ganz ehrlich, diesen kranken Mist bringt nicht irgendein normaler Magier zustande.“
„Seid Ihr sicher?“
„Natürlich, bin ich sicher, verdammt!“
„Mit Verlaub gesagt, Sir“, wandte Slemov ein, „Wenn dieser Kerl hier noch rumlungert, sollten wir besser verschwinden.“
„Schon klar“, erwiderte Ferren, wobei er das versengte Insignie in seine Tasche gleiten ließ, „Gehen wir!“
Somit wandten sie sich von der finsteren Szenerie ab, die das Feuer sowohl in die Natur als auch in ihre Seelen fressen hatte, und kehrten zurück in das dornendurchwachsene Dickicht des dichten Waldes.

Als seine Gäste eintrafen, war Herzog Jean Montierre nicht mehr mit jener halbtoten Figurine vergleichbar, die sich vor kaum einer Viertelstunde von der Müdigkeit ummantelt in ihrem Sessel wiedergefunden hatten. Er saß kerzengerade in seinem Lehnsessel, von wo aus er erwartungsvoll auf die mächtige Flügeltür starrte, die im leichten Windzug, der durch die Halle zischte, leise knarrte.        
Dann erschallten gedämpft durch das dicke Holz der Tür die Schritte mehrerer Personen auf dem marmornen Boden der Eingangshalle, welche alsbald von leisen Stimmen begleitet wurden. Doch nur eine drängte sich aus dem unterschwelligen Gemurmel klar, gutmütig, sanft, wie sie war, in die Ohren des Herzogs und kündete von der Ankunft Filianas. Verträumt schloss er die Augen, um ihr einen Moment lang angestrengt zu lauschen, bevor die Tür mit lautem Knarren geöffnet wurde und grelles Licht in den Saal flutete.
Als er die Augen wieder öffnete, glitt die Prinzessin bereits in den Raum, wohingegen ihr Gefolge auf der Schwelle zurückblieb.
Lediglich Amelie trat ebenfalls darüber, verbeugte sich vor dem Herzog, um ihm anschließend kurz zu berichten, dass Vigard und Raham zwar bereits eingetroffen seien, sich aber gerne dazu bereit erklärt hätten, das Gespräch des Herzogs mit der Prinzessin abzuwarten.
„Ich hoffe, sie nicht allzu lange warten lassen zu müssen“, versicherte der Herzog sofort, worauf sich Amelie erneut verbeugte, bevor sie den Raum ebenfalls verließ und die Tür hinter sich schloss.
Augenblicklich wandte Montierre seinen Blick vom starken Holz der Tür zu der wundervollen, filigranen Gestalt der Prinzessin, was ihm ein jähes Lächeln entlockte.
„Guten Morgen, Filiana“, grüßte er freundlich.
„Jean…“, sagte sie gedehnt, „schön dich zu sehen.“
„Die Ehre ist ganz auf meiner Seite“, versicherte der Herzog, bevor er auf den Sessel auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches deutete, „Bitte, setz dich doch.“
„Oh, natürlich“, gab Filiana zurück, worauf sie sich, umschlungen von ihrem blassgrünen Seidenkleid in Bewegung setzte. Doch schon beim ersten Schritt wusste Montierre, dass sie sich nicht auf dem Platz niederlassen würde, zu dem er gewiesen hatte, sondern auf den Stuhl direkt neben ihm. Eine Welle der Wärme hüllte ihn ein wie der sengende Wüstenwind, als sie sich setzte, und brandete auf seiner blassen Haut. Für einen Moment ertappte er sich dabei, seinen Kopf zu einem Schulterblick zu drehen, um nachzusehen, ob dort nicht de Nord hinter ihm stand und mit spöttischer Miene auf ihn herabblickte.
„Dort ist nichts…und nichts ist verwerflich. De Nord ist da, wo er sein wollte, eben wie du nun dort bist, wo du sein willst“, sagte er sich, während seine Lippen sich zu einem weiteren Lächeln formte.
„Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?“, erkundigte er sich.
„Ach, ich…“, sie senkte den Kopf, sodass sie auf die Schlachtpläne starrte, „ich wollte dich einfach mal wieder sehen. Du hast in den letzten Tagen kaum einen Schritt aus diesem Gebäude gesetzt. Immer wenn sich ein Ledrianer zur Audienz anmeldete, habe ich gehofft, du seist es, aber stets sah ich nur Gesandte und Laufburschen.“
„Ja, ich…verzeih“, seufzte er tief,  „ich hätte dich gerne gesehen, aber es ist…“, er deutete mit seiner bleichen Hand, unter deren Haut fahlblaue Adern pochten auf die Dokumente, die sich auf dem Tisch stapelten, „ich habe einfach keine Zeit mehr. Seit de Nord weg ist und ich zum Hochgeneral Galors ernannt wurde, werde ich überall gebraucht, muss mich um tausend Sachen kümmern. Ich zermartere mir den Kopf über Dinge, die der Marquis mit einem Handwink entschieden hätte…ich hadere mit mir selbst…ich“, er stockte, „ich kann das alles nicht alleine tun.“
„Aber das musst du doch nicht“, raunte die Prinzessin, „Wer würde das verlangen? Es gibt doch sicher etliche Leute, die dir assistieren können, dir assistieren wollen.“
„Oh ja“, lachte Montierre bitter, „davon gibt es reichlich. Sie drängen sich mir geradezu auf, aber…aber woher soll ich wissen, dass hinter ihrem netten Lächeln, ihren guten Ratschlägen nicht schon die Triebe das Verrats wuchern? Ich…ich brauche Hilfe, ja. Aber wem soll ich vertrauen?“, eine einzelne Träne rann aus seinem Auge, als er Filiana fragend anblickte. Der Wind strich leise durch ihr kupferrotes Haar, das sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte, das Licht fiel durch die schmalen, kristallgläsernen Fenster und funkelte in ihren smaragdgrünen Mandelaugen. Langsam glitt ihre Hand über das edle Holz der Tischplatte auf seine zu, während er sie wie versteinert ansah und das Brennen auf seiner Haut unerträglich wurde. Achtsam umschlangen sich ihre Hände und während er wie eine kalte, steinerne Statue auf seinem Stuhl verharrte, öffneten sich ihre Lippen, welche sanft wie das Rauschen des Windes jene Worte formten, die aus dem qualvollen Brennen eine verschlingende Flamme machten:
„Vertraust du mir?“
Montierre glaubte, einem fein ausgeklügelten Mechanismus bei der Arbeit zuzusehen, als sein Mund aufklappte und sein „Ja“ herausströmte, aufrichtig, rein, wie er es nie zuvor einen Menschen hatte sprechen hören.
„Dann“, flüstere sie, „kann ich dir doch helfen.“
„Aber, ich…das…kann nicht“, stammelte er, bevor er einmal kräftig schluckte, tief ausatmete und mit der kalten Luft des Saales die Flammen erstickte, die in seiner Seele brannten, „Glaube mir, das würde ich liebend gerne, aber wir sind beide Ratsmitglieder…was würde man sagen, wenn wir uns zusammentäten? Farruk würde gegen uns wettern und uns jeden stickenden Zweifler auf den Hals hetzen, den er gerade herbeiziehen kann.“
„Ach, Farruk“, lächelte Filiana unter einer abschätzigen Handbewegung, „Der hat sich in seinem Anwesen hinter Wachen und Barrikaden verkrochen, setzt keinen Schritt mehr ohne Schwert und Rüstung zu tragen. Galor braucht keinen Rat, keine langwierigen Beschlüsse, keine geteilte Gewalt. Galor braucht Einheit und schnelle Entscheidungen.“
„Ja…“, sprach Montierre gedehnt, „Du hast Recht. Farruk wird uns schon nicht in die Quere kommen.“
„Nein, das wird er nie“, lachte sie, „Jean…zusammen werden wir diese Festung halten, nicht wahr?“
Er starrte in ihre wundervollen Augen, doch diesmal war es nicht ihr Anblick gewesen, der ihm den Atem geraubt hatte, sondern ihre Worte, jene tollkühne Fantasie des Sieges, die zuvor nur de Nord an den Tag gelegt hatte. Obwohl seine Vorstellung des Sieges, und das wusste Montierre genau, ganz und gar nicht der Filianas entsprach.
Denn wenn der Marquis von Sieg sprach, so meinte er den ehrenvollen Tod, den nie verwelkenden Ruhm in Iurions heiligem Reich, an den der Herzog nie hatte glauben können. Er hatte sich stets gefragt, wie Lucian, wie der gesamte Iurionismus, die Menschen für ihre Schwäche verdammen konnte. Wo er, Jean, doch wusste, dass sie nur die Furcht vor dem Tod in den Glauben getrieben hatte, dass es erst die Schwäche ihrer Furcht gewesen war.
„So sind sie doch selbst nur schwach“, dachte er, dem der blanke Realismus mit eisiger Kälte ins Gesicht brüllte:
„Der Tod ist das Ende! Es gibt dieses Leben; mehr hast du nicht!“
„Wenn ich leben will, muss ich siegen“, wurde ihm klar, „Und das kann ich nur mit ihr an meiner Seite, und sollte ich fallen, so wäre wenigstens die letzten Monate eine Freude gewesen…“
„Ja“, sprach er, wobei er seine Hand langsam zurückzog „wir beide führen Galor in den Sieg.“
„Das ist…“, Filiana machte eine bedeutungsschwere Pause, „großartig. Ich kann sofort in die xendorische Botschaft zurückkehren, Berichte durchsehen, die Nahrungsmittelrationierung überarbeiten. Was du auch immer willst.“
„Ich“, begann der Herzog langsam, „Nein, bleib hier. Hauptmann Raham und Leutnant Vigard haben sich angekündigt. Sie untersuchen den Thanatoikerring und die Hintermänner der Verräter. Ich denke, wir sollten die Audienz gemeinsam führen.“
„Thanatoiker und Verräter“, raunte Filiana schwärmerisch, „Klingt vielversprechend.“
„Allerdings“, versicherte Jean.

Raham saß unterdessen gemeinsam mit Vigard in der Eingangshalle an einem Tisch aus Korbgeflecht,  der sich hinter den marmornen, von Weinranken überwucherten Säulen befand, die den Balkongang über ihnen trugen.
„Für einen Delioner behandeln Eure Landsleute mich ziemlich gut“, gestand er, wobei er einen weiteren Schluck des Weines nahm, den man ihm ungefragt serviert hatte.
Während dieser lieblich seinen Gaumen umspülte, fragte er sich, woher die Empfangsdame gewusst hatte, dass er keinen trockenen bevorzugte.
„Ach kommt schon, Raham“, seufzte Vigard, aus dessen Miene ein leichter Ausdruck von Angegriffenheit sprach, „Ihr seid ein guter Kerl und solche werden gut behandelt, egal wo sie hinkommen. Außerdem sind wir in Galor und nicht in Ledria. Hier kümmert es selbst uns nicht…nicht mehr, woher unsere Verbündeten stammen.“
„Oh, ein guter Kerl…tja…danke“, stammelte Raham und betrachtete den stämmigen Hünen, der in seiner silberneren Rüstung das perfekte Bild eines Kriegshelden  abgab, bevor er einen weiteren, tiefen Schluck Wein nahm, „Glaubt Ihr, der Herzog wird tun,  worum wir ihn bitten werden?“
„Möglicherweise…ich weiß es nicht“, gestand der Ledrianer, „Beim Marquis wäre ich mir sicher gewesen, aber der Herzog…also, darüber sollten wir uns besser ein anderes Mal unterhalten. Sehen wir einfach, was es uns bringt.“
„Ihr scheint ja nicht die beste Meinung vom Herzog zu…“, begann Raham, bevor Vigard ihm mit einer heftigen Handbewegung gebot, zu schweigen. Augenblicklich schloss er den Mund, worauf seine Worte verhallten, übertönt vom lauten Klacken der hohen, filigranen Schuhe Amelies, die sich ihrem Tisch näherte.
„Geehrte Offiziere“, grüßte sie, „entschuldigt die lange Wartezeit, doch der Herzog ist nun bereit, euch zu empfangen.“
„Es ist uns eine Ehre, empfangen zu werden“, erklärte Vigard, „Wir haben gerne gewartet.“
„Ähm ja, haben wir“, fügte Raham rasch an.
„Wenn die Herren mir bitte folgen würden“, bat die Empfangsdame, worauf die beiden Offiziere sofort Folge leisteten und sich mit ihr zu der schweren Tür des Beratungssaals begaben.
„Dort hindurch“, lotste sie, während Vigard bereits die hölzernen Flügel aufstemmte.
Der Hauptmann betrat hinter ihm den Saal, bevor die Tür mit einem lauten Knarren verlauten ließ, dass sie wieder geschlossen wurde. Im dämmrigen Licht entdeckte er zunächst den Herzog, bevor er von Filianas Schönheit geradezu geblendet wurde, weshalb er froh war, dass Vigard sie vorstellte und mit ihrem Anliegen begann.
Seit der Abreise der Truppen de Nords hatten sie sich mit aller Kraft weiter durch die Riegen der Verschwörung innerhalb ihrer Mauern gegraben, waren durch Sümpfe aus Lügen und Feigheit gewatet, hatten etliche Fragen gestellt, wenige Antworten bekommen, doch die Macht im Hintergrund war schattenhaft geblieben. Ein Puppenspieler mit seinen Marionetten, Kelrayass, ein leerer Name, der ihnen mit jeder Lüge, die ihnen aufgetischt worden war, ein stärkeres Frösteln durch die Adern hatte laufen lassen.
Alle Fährten waren in der Leere versunken, in einem dichten Nebel von Unwissenheit und Zwietracht. Da gab es jenen immens mächtigen Schwarzmagier, den jeder zu kennen schien, ohne zu wissen, wer er eigentlich war, einen Haufen Leichen, um die niemand zu trauern wagte, einen abtrünnigen, ledrianischen Major, den man auf seinen Posten zurückbeordert hatte. Oft hatte Raham Vigard nach de Nords Gründen gefragt, doch dieser hatte ihm stets versichert, den Grund nicht zu kennen, jedoch zu vermuten, dass es nicht viele Ledrianer gegeben hatte, die bereit gewesen waren, nach Fiondral überzusiedeln, weshalb man auf Tymaleaux hatte zurückgreifen müssen.
Fast eine Woche waren sie schließlich hoffnungslos im Dunkeln getappt, bis sich einen ein letzter Hoffnungsschimmer aufgetan hatte. Ein einfacher, logischer Gedankengang hatte sie ins Rennen zurück gebracht.
„Wir haben“, erklärte Vigard den beiden Ratsmitgliedern, „unter den Toten keinen Alchemisten gefunden. Aber man braucht jemanden mit enormen Kenntnissen auf diesem Gebiet, um Schwarzsaft herzustellen. Außerdem habe ich mir von einigen Absolventen der Königlich-Serpendrianischen Magierakademie sagen lassen, dass man für die Herstellung notwendigerweise auf Schwarzmagie zurückgreifen muss und diese hinterlässt nun mal Spuren. Was wir also suchen, ist ein Schwarzmagier mit alchemistischen Kenntnissen.“
„Nun, das klingt nach einem kühnen Plan, Leutnant“, lobte Filiana, bevor ihre Stimmlage plötzlich ins missbilligende driftete, „Aber Galor ist eine große und vollkommen überfüllte Stadt. Verzeiht, ich halte es kaum für möglich, dass ihr dort einen einzelnen Mann finden könnt, über den ihr nur zwei Dinge wisst und der sich sicherlich versteckt.“
„Die Prinzessin liegt richtig, Vigard“, fügte Montierre hinzu, „Dieser Alchemist will sicherlich nicht gefunden werden…und noch dazu in dieser Stadt.“
„Geehrte Ratsmitglieder“, entgegnete Vigard, „ein Schwarzmagier wird von der Verderbnis gezeichnet, selbst wenn die Anzeichen sehr gering sein können, so wird es dennoch immer welche geben. Und ja, diese Stadt mag überfüllt sein, aber das heißt auch, dass es kaum einen unbeobachteten Fleck gibt. Irgendwem wird etwas aufgefallen sein. Aber selbst wenn nicht: Was sollte uns davon abhalten jeden verdammten Raum in Galor zu durchsuchen? Wir müssen diese Verräter finden, bevor die Orks angreifen!“
„Ganz Galor durchsuchen?“, murmelte der Herzog, „Mit Verlaub gesagt, Leutnant, welche Kräfte wollt Ihr darauf verwenden?“
„Wir“, mischte sich Raham ein, „haben bereits einen genauen Plan zur Durchsuchung der Stadt erarbeitet. Alles, was uns fehlt, ist die Zustimmung des Rats.“
„Schön Ihr habt meinen Segen“, erklärte Filiana, „Ich kann gerne einige meiner Truppen abstellen, um Euch zu helfen, das…“
„Das könnt ihr natürlich gerne, Eure Hoheit“, unterbrach Vigard, „Aber die Sicherheit verlangt, dass Raham und ich jede Durchsuchung persönlich beaufsichtigen.“
„Wieso das?“, keuchte die Prinzessin, „Ihr seid nur zu zweit. Es würde die ganze Aktion ewig verzögern!“
„Das ist wahr“, gab der Leutnant zu, „Aber nur so hat sie überhaupt eine Chance auf Erfolg.“
„So?“, staunte Montierre, dessen Stirn sich jäh in Falten gelegt hatte, während Vigards Miene sich verfinstere, bevor er zögerlich weiter sprach:
„Ja. Es geht um Vertrauen, und in dieser Sache vertraue ich nur Raham.“
„Das ist albern!“, protestierte die Prinzessin, „Haltet Ihr mich etwa für eine Verräterin, oder den Herzog? Oder glaubt Ihr gar, wir seien Thanatoiker?“
„Wir wollten niemanden beleidigen“, wandte Raham ein, „Aber wir gehen mittlerweile davon aus, dass selbst Tymaleaux ein Verräter war, ein Vertrauter de Nords…“
Seine Stimme verklang, worauf der Leutnant sein Wort weiterführte:
„Und wenn schon de Nord die Verräter nicht erkennen konnte, dann können wir es sicher auch nicht.“
„Das grenzt an Paranoia, Vigard“, murmelte Montierre.
„Das ist Paranoia!“, fauchte Filiana, „Ihr müsst uns doch vertrauen, wie könnten wir…“
„Vigard“, herrschte der Herzog ihn an, „wollt Ihr etwa sagen, Ihr würdet auch mir nicht vertrauen?“
„Es tut mir leid, Herr“, sprach der Soldat mit wankender Stimme, „aber meine Entscheidung diesbezüglich ist gefallen.“
„De Nord sagte, Zweifel sei Gift“, erinnerte Jean.
„Und Inkonsequenz sei Schwäche“, entgegnete Vigard.
Während die Stille seine Worte verschluckte und sich wie schwere Ketten auf ihre Gemüter legte, starrten sie sich allesamt an, verwirrt, verächtlich, verlogen. Aus der Ferne drang das Hämmern eines Schmiedes in den Ratssaal. Tauben schrien, der Herbstwind fegte durch die Straßen und der fünfundsiebzig Jahre alte Herzog Jean Montierre erinnerte sich an Tage, als Worte noch Wahrheit getragen hatten. Kindertage, wie es ihm schien, wie es ihn nun als eine bittere Welle überwältigte, dass aus jedem Auge Zweifel blickte und jede Zunge Lügen sprach.
Dann jedoch sah er in Filianas smaragdgrüne Mandelaugen und versank darin, versank in dieser wundervollen Ästhetik, die in ihm jene Reinheit echoen ließ, welche er in der Bejahung seines Vertrauens zu der Prinzessin geklungen hatte.
„Meine Herren…“, murmelte er, „ich fürchte…Euer Plan ist nicht die Lösung…nach der wir, nach der wir suchen.“
„Sir?“, seufzte Vigard fragend, wobei sein Gesicht von bitterer Überraschung verzerrt wurde, „Wie könnt Ihr dem nicht zustimmen?“
„Ich habe meine Gründe, Vigard, aber meine Entscheidung diesbezüglich…ist gefallen“, entgegnete er.
„Ich nehme an, Ihr seht das nicht anders, Eure Hoheit?“, wandte sich Raham an Filiana.
„Keinesfalls“, dementierte sie, „Eure Pläne sind Irrsinn!“
„Nun denn“, fügte Montierre rasch an, „über Euren Vorschlag wurde geurteilt. Habt Ihr sonst noch etwas zu sagen?“
„Nichts!“, zischte Vigard,  „Außer dass Marquis Lucian de Nord sich anders entschieden hätte.“
„Vigard, der Marquis…“, begann der Herzog, doch der Leutnant hatte sich bereits auf der Stelle umgedreht und war ohne einen weiteren Blick, ein weiteres Wort oder die angebrachte Verbeugung aus dem Saal gestürmt.
„Nun ja, verzeiht, Eure Hoheit…Herzog“, Raham verbeugte sich gleich zwei Mal, „Wir werden dann gehen…wenn ihr es erlaubt.“
Und mit diesen Worten folgte auch er seinem Kameraden, ohne die schwere Tür hinter sich zu schließen.

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Hörbuch

Über den Autor

Crawley
Wer wäre ich hier, wenn nicht jemand, der seinen Visionen ein Zuhause geben will?
Tue ich das gerade nicht, studiere ich Rechtswissenschaften und bemühe mich, nicht gleich jedes damit verbundene Klischee zu erfüllen (letzteres womöglich nur mit mittelmäßigem Erfolg), oder fröne in irgendeinem Pub meinen Lastern.

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