Das vermiedene Defizit in der Dose
Er betrat den Laden in gewohnter Weise, stellte sich wie immer hinten an und war nach ein paar Minuten an der Reihe.
“Sieben Brötchen.”
“1,68 bitte. Haben sie vielleicht 8 Cent klein?”
Er hatte immer 8 Cent klein.
Sie standen in kleinen Häufchen auf dem Sideboard in der Küche.
Vorbereitet für jeweils sieben Tage.
Daneben eine Blechdose mit weiterem Münzgeld.
Immer wenn er vier Häufchen aufgebraucht hatte, ergänzte er sie wieder auf sieben.
“Ja, habe ich, Moment.”
Er kramte in seiner Tasche, nahm die Münzen heraus und legte sie auf die Theke.
Die Verkäuferin nahm das Geld.
“Das sind nur sieben.”
Er fühlte in seiner rechten Hosentasche.
Nichts.
“Einen Moment bitte”, sagte er.
Ihm wurde warm.
Alles konnte sein, aber das war unmöglich.
“Ach lassen sie mal”, sagte die Frau hinter der Theke, “es geht auch so.”
“Nichts geht so.”
Er fuchtelte in seiner Jackentasche herum, durchsuchte die hintere Hosentasche und dann noch die Innentaschen seiner Jacke.
“Jemand hat mir einen Cent gestohlen.”
Die Verkäuferin lachte:
“Dann ist der sicher schon nach Brasilien und macht sich ein schönes Leben.”
Er sah sie an.
Sein Blick spiegelte Wut und tiefe Enttäuschung wieder.
“Nehmen sie die Brötchen noch mal. Ich gehe eben nach Hause und schaue nach.”
“Das ist nicht nötig, ich kann doch wechseln.”
“Nein danke. Das muss erst geklärt werden. Ich bin gleich zurück.”
Er ging mit großen schnellen Schritten nach Hause.
Direkt zum Sideboard.
Er zählte jedes Häufchen.
Alle bestanden aus drei 2-Cent Stücken und vier 1-Cent Stücken.
Er suchte den Boden ab.
Nichts.
Er ging den Weg bis zur Türe, sah auf den Wohnzimmertisch, auf den Teppich,
im Flur und auf den Stufen draußen.
Nichts.
Er rief seine Frau auf der Arbeit an.
“Elke, hast du mein Cent-Stück gesehen?”
“Welches Cent-Stück?”
“Für die Brötchen.”
“Nein, habe ich nicht. Nimm doch eines aus der Dose.”
Er legte auf.
Er konnte unmöglich einfach so einen Cent aus der Dosenehmen..
Alles, was ihm wichtig war, wäre mit einem einzigen Griff in Frage gestellt.
Aber er musste sich entscheiden.
Auf der einen Seite könnte er auf das Frühstück verzichten, auf der anderen Seite,
könnte er sich einen Cent nehmen und alles wäre gut.
Er ging den Weg zur Bäckerei langsam ab, den Blick immer auf den Boden gerichtet.
Vielleicht hatte er es unterwegs verloren.
Er dachte nach.
Wenn er sich nun verzählt hatte.
Wenn eines dieser Häufchen nur aus sieben Cent bestanden hatte.
Er wurde unruhig.
Er rannte nach Hause, zählte noch mal nach.
Alle waren gleich hoch, alle bestanden genau aus acht Cent.
Seine Tochter hatte heute morgen ihr Kakaogeld mitgenommen.
Vielleicht fehlte ihr ein Cent und sie hat sich einen vom Sideboard genommen.
Er rannte wieder raus, stieg ins Auto und fuhr zum Gymnasium.
Er ließ seine Tochter ins Sekretariat ausrufen.
“Hey Süße.”
“Hey Papa, was ist passiert?”
“Sag, hast du heute morgen einen Cent vom Sideboard genommen?”
“Nein. Aber sag doch mal warum du hier bist. Ist was passiert?”
“Ich suche einen Cent.”
Laura drückte ihn.
“Papa, ich muss wieder in den Unterricht. Nimm doch einen aus der Dose.”
Sie gab ihm einen Kuss und rannte wieder in ihre Klasse.
Er fuhr zur Bäckerei.
“Na, haben sie das Problem geklärt?”, fragte die Verkäuferin.
“Nein.”
“Konnten sie auch nicht. Schauen sie mal, was ich hier gefunden habe.”
Sie hielt einen Cent hoch. Er glänzte im Licht der Lampen.
“Der lag vor der Theke.”
Er merkte wie sich Tränen in seinen Augen sammelten.
“Danke”, sagte er.
“Nichts zu danken.”
Er nahm, die Brötchen, fuhr nach Hause und setze den Kaffee auf.
Drei Löffel und zwei Messerspitzen voll. Alles lag an seinem Platz.
Dann stellte er den Herd für das Wasser an.
Er wartete bis es kochte.
Er stellte die Uhr auf 4 Minuten und 27 Sekunden und legte
das Ei ins kochende Wasser.
Der Tag konnte beginnen.